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Wahrheit und Rechtfertigung

Jürgen Habermas vollzieht keine Kehre seines Denkens. Aber er kehrt zurück zu Fragestellungen, von denen er sich vor ca. 30 Jahren abwandte. Die beiden zentralen philosophischen Bereiche, die theoretische Philosophie, die sich mit Fragen der Erkenntnis beschäftigt, und die praktische Philosophie, die nach den Möglichkeiten des Handelns fragt, werden von Aristoteles bis zur analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts traditionell zumeist hierarchisch einander zugeordnet: Die Frage der Erkenntnis geht der Frage des Handelns voraus. Man muß eben erst wissen, wie die Welt beschaffen ist und kann dann daraus ableiten, was man tun soll. 1968, als sein Buch Erkenntnis und Interesse erschien, ging auch Habermas noch von einer solchen Konzeption aus. Seit anfang der siebziger Jahre entwickelt Habermas jedoch seine Theorie des kommunikativen Handelns und beschäftigt sich hauptsächlich mit einem ethisch orientierten Konzept von Verständigung, das eine kritische Gesellschaftstheorie auf Moral, Recht und Demokratie stützt. Zwar spielen bei Habermas' diskurstheoretischer und sprachpragmatischer Auffassung einer handlungs- und verständigungsorientierten Vernunft Fragen der Wahrheit und Objektivität, also erkenntnistheoretische Fragen, durchaus eine Rolle. Doch die Perspektive hat sich seit den siebzieger Jahren gewandelt. Theoretische Fragen betrachtet Habermas jetzt aus praktischer, eben verständigungsorientierter Perspektive und folgt damit imgrunde der postmodernen Konzeption eines Primats der Ethik gegenüber der Erkenntnis, die vor allem Emmanuel Lévinas, der vielleicht bedeutendste Ethiker des 20. Jahrhunderts, auf den Weg brachte.

Hans-Martin Schönherr-Mann |
    Mit dem vorliegenden Aufsatzband Wahrheit und Rechtfertigung kehrt Habermas heute zu theoretischen Fragestellungen zurück, allerdings nicht im Sinne einer Abkehr von den primär praktisch orientierten Konzeptionen der letzten dreißig Jahre, sondern gerade unter Berücksichtigung derselben - eine Perspektive, die auch im postmodernen Sinne interessant ist, weil sie eine bisher eher weniger beachtete Lücke schließt.

    Einleitend zeichnet Habermas den Weg von der Hermeneutik zur kommunikativen Rationalität nach. Im Zentrum stehen Auseinandersetzungen mit den beiden US-Philosophen Robert Brandom und Richard Rorty. Brandom möchte die intersubjektive Verständigung über gemeinsame Handlungsnormen in den objektiven bzw. erkennbaren Zusammenhang der Welt wieder einbinden, indem er der Sprache die Fähigkeit zu einer objektiven Beschreibung der Welt zubilligt. Mit einem solchen Sprachverständnis kann man, so Brandom, auch die ethischen Gehalte objektiv erfassen. Dadurch erhält zwischenmenschliche Verständigung über Handlungsnormen ein sachliches Fundament. Für Habermas wird damit allerdings der Unterschied zwischen Normen und Tatsachen eingeebnet und das Primat eines verständigungsorientierten, ethischen Handelns gegenüber Tatsachenbehauptungen aufgehoben.

    Richard Rorty dementiert beinahe postmodern die Objektivität von Tatsachenaussagen und bezweifelt auch die rationale Verständigung über ethische Normen. Dagegen wendet Habermas ein, daß Rorty den Unterschied zwischen einer Perspektive des Beobachters und einer des Beteiligten verwische. Dadurch könnte man beispielsweise nicht mehr zwischen einem rationalen Überzeugen und einem indoktrierenden Überreden trennen, ein für die politische Praxis wesentlicher Unterschied.

    Habermas hat nun selbst auch keine konkrete Antwort, wie denn das Verhältnis von Normen und objektiver Erkenntnis aus ethischer Perspektive schlüssig gelöst werden könnte. Er versucht eine Annäherung, die darauf hinausläuft, daß sich beispielsweise die Legitimität von Regimen am Verwirklichungsstand der Menschenrechte messen lassen soll. Regime können nur dann von ihren Bürgern Loyalität verlangen, bzw. normative Ansprüche gegenüber dem einzelnen erheben, wenn das universelle Projekt der Menschenrechte wirklich in die Tat umgesetzt wird: Wenn Normen eben verwirklicht werden und somit in ihrer Geltung erkannt werden.

    Um die Erkenntnis von Welt der ethischen Perspektive anzunähern, entkoppelt Habermas die traditionelle Korrespondenz zwischen Aussage und Sachverhalt. Auch beschreibende Aussagen über die Welt unterliegen einem diskursiven Lernprozeß, der rationale Einwände und dadurch Verbesserungen zuläßt. Umgekehrt sind moralische Zusammenhänge nicht wie konkrete Gegenstände beschreibbar. Jedenfalls will Habermas dadurch der Ethik eine andere Türe des Zugangs zur Welt öffnen.