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Walter Hinck wird 90

Walter Hincks wissenschaftliche Werke sind herausragende Reflexionen zur deutschen Literatur. Dass man auch im achten Lebensjahrzehnt noch Neues beginnen kann, hat er außerdem kürzlich bewiesen: Er erstaunte seine Leser in Wissenschaft und Kritik mit einem Erzählband.

Von Paul Michael Lützeler | 08.03.2012
    In Amerika gibt es seit Langem die Vorstellung vom "lifelong learning": An irgendeinen "Abschluss" im Studium ist eigentlich nicht zu denken, auch wenn man mit einem akademischen Grad formal das Ende einer Hochschulausbildung bescheinigt bekommt. Walter Hinck – einer der prominentesten Germanisten weltweit - hat wie wenige seiner akademisch tätigen Zeitgenossen die ständigen Weiterungen seiner Tätigkeit, d.h. des Lehrens, Forschens und Publizierens, vorgelebt. In dem Vierteljahrhundert seiner Zeit als Emeritus hat er mehr und Aufregenderes veröffentlicht als viele seiner Kollegen während ihrer Anstellung als Lehrstuhlinhaber. Da sind literaturhistorische Studien zu nennen wie der Heine-Band "Die Wunde Deutschland", die "Roman-Chronik des 20. Jahrhunderts", seine gesammelten "Essays zur deutschen Literatur von Luther bis Böll", seine Studie zum "Selbstbildnis des Dichters in der deutschen Lyrik" und das Werk "Selbstannäherungen".

    "Selbstannährungen" enthält Analysen zu zeitgenössischen Autobiografien von Elias Canetti bis Marcel Reich-Ranicki. Das Buch ist wohl auch deswegen so gut gelungen, weil Walter Hinck wenige Jahre zuvor – aber bereits ein Jahrzehnt nach der Emeritierung – seine eigene Autobiografie veröffentlicht hatte. Sie erschien unter dem Titel "Im Wechsel der Zeiten" und gehört zu den lesenswertesten Memoiren von Germanisten seiner Generation, zu denen auch die Erinnerungen von Egon Schwarz und Peter Wapnewski zu zählen sind. Bei ihnen gehören Weltwirtschaftskrise, Krieg, Vertreibung oder Gefangenschaft, aber auch Neuanfang und Erfolg zu den prägenden Erfahrungen. Das Kapitel über die Kriegsgefangenschaft in Jugoslawien und über die schließliche Befreiung im Oktober 1950 gehört zum Bewegendsten, das ich aus Selbstbiografien kenne. Eine Fortsetzung dieser Autobiografie legte Walter Hinck im vorigen Jahr unter dem Titel "Jahrgang 1922" vor. Das Erlebnis fundamentaler geschichtlicher Umbrüche hat seinen Blick als Wissenschaftler geprägt, und es ist kein Zufall, dass viele seiner Bücher und Editionen das Thema "Dichtung und Geschichte" im Titel oder Untertitel aufweisen.
    Das Thema der Zeitgenossenschaft spielt im wissenschaftlichen Werk von Walter Hinck eine entscheidende Rolle: Eines seiner frühesten Bücher behandelt die "Dramaturgie des späten Brecht", und bis heute hat er – bei all seinen fundierten Arbeiten von Goethe bis Heine – immer auch die Gegenwartsliteratur zum Objekt seiner germanistischen Untersuchungen gemacht. Die Faszination des Gelehrten mit der Literatur seiner Zeit, ob von Canetti oder Schädlich, Böll oder Wellershoff, Christine Brückner oder Ulla Hahn: Dieses Interesse an der Gegenwart hat ihn wohl zum Kritiker gemacht. Anders als Germanisten, die vor allem Literarhistoriker – mit Betonung auf "Historiker" – sind, können und müssen Kritiker gleichsam aus dem Stand auf Neuerscheinungen reagieren, wollen Urteile abgeben, die frei sein können von Vorstellungen und Vorurteilen, die durch Kanon und Konvention geprägt sind. Zudem ist die Sprache des Kritikers eine andere als die des Wissenschaftlers. Sein Publikum sind durchweg die Liebhaber, nicht die gelehrten Kenner der Literatur. Auch darin also ist Walter Hinck eine Ausnahme von der Regel: Er gehört zu den wenigen Germanisten, die gleichzeitig das Handwerk des Literaturkritikers beherrschen. Mit seinen vielen Rezensionen, Essays und Stellungnahmen zur zeitgenössischen Dichtung - vor allem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – hat er über Jahrzehnte hin bis heute die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf wichtige aktuelle Erscheinungen gelenkt.

    Dass man auch im achten Lebensjahrzehnt noch Neues beginnen kann, hat Walter Hinck kürzlich bewiesen: Er erstaunte seine Leser in Wissenschaft und Kritik mit einem Band von Erzählungen. War da nicht Skepsis angesagt? Literatur fängt man normalerweise mit zwanzig, aber nicht mit achtzig Jahren zu schreiben an. Seinem Band "Die letzten Tage in Berlin" sind viele Leser zu wünschen. Jene Novelle, die dem Buch den Titel gab, handelt von einer Liebesgeschichte, die im sogenannten "Großdeutschen Reich" beginnt, aber erst viele Jahre nach Kriegsende ihre überraschende Fortsetzung findet. Sie ist von einer Spannung und erzählerischen Kraft, dass sie das Zeug dazu hat, einmal in eine Sammlung von "Meisternovellen" der deutschen Literatur einzugehen. Walter Hinck wird sein Schreiben von wissenschaftlicher, kritischer und nunmehr auch erzählerischer Prosa auch nach dem 90. Geburtstag nicht aufgeben: "many happy returns", wie man es im Englischen wünscht. Das sage ich sicher auch im Namen der vielen Freunde, die der Jubilar weltweit hat.

    Buchinfos:
    Walter Hinck: "Die letzten Tage in Berlin"; Walter Hinck: "Jahrgang 1922. Autobiografische Skizzen",(Bouvier)