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Wanderer zwischen den Welten

Eine politische Autobiografie, die sich wie ein Bildungsroman liest. André Schiffrin erzählt aus seinem Leben über die erzwungener Flucht in der Kindheit nach Amerika bis hin zu seinem erfolgreichen Verlegerdasein.

Von Nils Kahlefendt | 15.10.2010

    Zehn Jahre nach "Verlage ohne Verleger", der in eine berufliche Autobiografie gepackten harschen Polemik gegen den Rendite-Wahn in der US-Buchbranche, hat André Schiffrin nun eine politische Autobiografie vorgelegt, die sich - vor dem Hintergrund der politischen und intellektuellen Turbulenzen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - eher wie ein autobiografischer Bildungsroman liest. "Lebenserinnerungen", schrieb Schiffrin vor 10 Jahren, "müssen allemal verdächtig bleiben". Gilt solche Skepsis auch für den Versuch, das eigene Leben auf den Prüfstand zu stellen?

    "Als Herausgeber und Verleger bin ich mit Autobiografien immer sehr heikel umgegangen - und so habe ich mich auch selbst ziemlich streng lektoriert. Ich habe versucht, so aufrichtig wie möglich zu sein. Auch die Dinge aufzuzeigen, die ich damals nicht wissen konnte. In gewisser Weise ist es ein Buch über verlorene Unschuld. Während ich mein Leben rekapitulierte, stieß ich auf all die Dinge, an die ich gewohnt war zu glauben. Um dann zu entdecken, dass sie nicht mehr da waren. Ich denke, es ist es ein aufrichtiger Blick in die Vergangenheit geworden."

    André Schiffrin, 1935 in Paris als Sohn eines jüdisch-russischen Verlegers geboren, ist ein Wanderer zwischen den Welten. Das hat in der Familie Tradition: Vater Jacques, in Baku geboren, in St. Petersburg aufgewachsen, begabter Cellist, Russischlehrer von Peggy Guggenheim und lebenslanger Freund Andre Gides, begründete in Paris den legendären Verlag Edition de la Pléiade. Schon diese wenigen Namen deuten den Kosmos an, in dem André aufwuchs. Die behütete Kindheit endet indes abrupt mit seinem fünften Geburtstag, dem Tag des Einmarschs der Wehrmacht in Paris. Als sein Vater bei Gallimard - dem Verlag, in dem er seine Pléiade mit Gides Hilfe untergebracht hatte - gefeuert wird, entschließt sich die Familie zur abenteuerlichen, filmreifen Flucht über Marseille und Casablanca; am 20. August 1941 trifft ihr Schiff in New York ein. Das erste Fahrrad, das sich der kleine André wünscht, soll ein Klapp-Rad sein - irgendwie scheint dem Siebenjährigen schon klar zu sein, dass das Leben abwechselnd aus Kämpfen und Verduften besteht.

    "Ich denke, ich war zu jung, um in solchen Kategorien zu denken - ich war Sieben! Ich hatte das Gefühl, dass die Dinge flüchtig, nicht dauerhaft sind. Als uns Freunde ein Fahrrad anboten, sagte ich, es solle ein Klapprad sein. Ich glaube, ich war zu jung, um mehr als nur instinktiv mitzubekommen, was das bedeutete: Abgeschnitten von den Freunden, in Amerika ankommen. Wir lebten in schwierigen Umständen. Für eine Weile fühlte ich mich ziemlich französisch - und dann begann ich mich ziemlich schnell auf Amerika einzustellen. Wie es Emigranten in Amerika halt tun, auch heute."

    Die Schiffrins blieben, wie viele ihrer prominenten Freunde, zu denen auch Hannah Arendt gehörte, der europäischen Kultur verhaftet; dass André zu Hause mit seinen Eltern französisch spricht, scheint ihm normal, mit den Comic-Beilagen der New Yorker Sonntagszeitungen wächst er zum überzeugten Amerikaner heran. Ein bequem-schizophrenes Leben, eigentlich, in dessen Zentrum, neben dem Sammeln von Briefmarken, immer stärker die Politik rückt: ein seltsamer 13-Jähriger, der da im US-Präsidentschaftswahlkampf von 1948 Unmengen an Zeitungen, Zeitschriften und politischen Büchern verschlingt, am Radio klebt und über die aktuelle Lage besser informiert ist als ein durchschnittlicher Kongress-Abgeordneter.

    "Als Kind dachte ich, ich sei ein typisches Kind. Ich dachte, ich sei ein typischer Amerikaner. Was natürlich ein Teil des Problems war: Allmählich merkte ich, dass 'mein' Amerika nicht das Land war, das mir versprochen wurde. Und so begann ich mich für Politik, für die Veränderung des Landes zu interessieren, an das ich nach wie vor glaube. Natürlich versuchte ich als Kind mitzukriegen, was mein Vater und seine Freunde erzählten, ich wollte an den Diskussionen mit Hannah Ahrend und den anderen teilhaben - das klappte natürlich nur teilweise. Aber ich war Teil dieser Runden; es gehörte zu meinem Erwachsenwerden, so weit ich zurückdenken kann."

    Schiffrins College-Zeit und sein Geschichts-Studium in Yale fällt ins aggressiv-konformistischen Klima der McCarthy-Jahre.

    "Zu dieser Zeit gab es ein ziemlich ausgeprägtes Klima der Angst. Wenn ich in einen dieser New Yorker Buchläden ging, der noch den Kommunisten gehörte, gaben mir die Verkäufer freundlicherweise durch ein warnendes Nicken zur Überwachungskamera zu verstehen, dass der Laden beobachtet wurde. Die Leute waren beunruhigt - ich war ein Junge, der nur lesen wollte, was Mao Tse Tung gerade gesagt hatte."

    Wenn der in der Wolle gefärbte junge Sozialdemokrat jede der im Jefferson School Bookshop gekauften Broschüren zu Hause fein säuberlich mit dem Etikett "Kommunistische Propaganda" versieht, gleichsam im Vorgriff einer Inspektion seiner Bibliothek durch das FBI, mag uns das heute als Teenager-Paranoia erscheinen. Und doch machen gerade solche atmosphärischen Alltagsbeobachtungen aus einem hierzulande recht unbekannten Amerika zwischen Nachkrieg und 68er-Aufbruch den Reiz des Buchs aus. Als Schiffrin, Jahrzehnte später, seine FBI-Akte einsieht, enthält sie, zu seiner Enttäuschung, nur ein paar dürftige Zeitungsausschnitte - nicht einmal seine schwer subversive Kuba-Reise von 1968 ist dokumentiert. Obwohl Schiffrins Leben stark von Politik und Ideen bestimmt ist, hält er sich von der Realpolitik, dem, wie es in der Bundesrepublik hieß, Marsch durch die Institutionen, konsequent fern:

    "Ich wusste, dass der amerikanische Politikbetrieb für mich ein Ding der Unmöglichkeit war. Ich habe nie mit dem Gedanken gespielt. Ich habe immer gedacht, dass wir außerhalb dieser Strukturen arbeiten sollten - für Veränderungen in den Köpfen. Als ich begann, als Verleger zu arbeiten, wurde es mir möglich, genau das zu tun. Wir brachten eine Menge Autoren aus dem USA und Europa heraus, die halfen, das intellektuelle Klima zu verändern. Und ich bin immer noch der Meinung, dass das effektiver ist, als irgendeine Kandidatur anzustreben."

    1962, kurz nach der Übernahme durch Random House, steigt Schiffrin als Programmdirektor beim einst von Kurt Wolff und seinem Vater begründeten New Yorker Verlag Pantheon Books ein. Ein überraschender Schritt, denn nach dem viel zu frühen Tod des vergötterten Vaters - André war 15, als er starb - hatte er nicht daran zu denken gewagt, selbst in der Buchbranche zu arbeiten.

    "Wie wohl jedes Kind empfand ich großen Respekt für das, was mein Vater getan hatte. Ich hatte niemals das Gefühl, ich könnte mit ihm auf einer Stufe stehen. Und in vielerlei Hinsicht hab ich das ja auch nie getan: Er war ein Sprachgenie, verstand sich sehr gut auf Buchgestaltung, arbeitete mit den bekanntesten europäischen Autoren zusammen. Es wäre verrückt gewesen, in diese Fußstapfen treten zu wollen!"

    Bei Pantheon sorgt Schiffrin in den kommenden gut 30 Jahren für die Veröffentlichung gesellschaftskritischer amerikanischer Literatur und großer europäischer Namen. Zu seinen Autoren zählten Noam Chomsky und Studs Terkel, Simone de Bouvoir und Günter Grass, der Historiker Eric Hobsbawm, der Soziologe Pierre Bourdieu und der Philosoph Michel Foucault - aber auch populäre Zeichner wie Matt Groening, der Schöpfer der "Simpsons", oder Art Spiegelman. Zunächst sind seine Chefs bei Random House schon zufrieden, wenn sie kein Geld verlieren; im besten Fall erwarten sie einen bescheidenen Gewinn.

    "Wenn Sie so wollen, war das ein weiteres dieser 'Verlorenen Paradiese', über die ich in meinem Buch schreibe. Als ich bei Pantheon einstieg, waren die Random-House-Bosse noch Verleger alter Schule - nicht nur am schnellen Geldverdienen interessiert, sondern daran, die besten Bücher zu machen. Sie wussten, dass Alfred Knopf, der für deutsche und europäische Literatur in den USA stand, ein alter Mann war. Ihnen war klar, dass sie junge, frische Köpfe brauchten, deren Denken ähnlich europäisch geprägt sein sollte. Und so ließen sie uns machen, was wir wollten! Und wie glücklich waren wir, als wir anfingen! Wir brachten die Bücher, die Kurt Wolff zum Ende hin noch unter Vertrag genommen hatte, die 'Blechtrommel', die Memoiren von Jung, und so weiter, da gab es einige Bestseller. Danach hatten wir bei der Auswahl alle Freiheiten - und ich denke, aufs Ganze gesehen haben wir gut ausgewählt. Allerdings pickten wir nicht die Bücher heraus, die das meiste Geld bringen würden! Am Ende waren es, ironischer Weise, die aus Europa gekommenen Bertelsmann-Leute, die sagten: keine Übersetzungen mehr! Es liegt eine Menge Ironie in dieser Geschichte."

    Deren letzten Akt hat Schiffrin bereits ausführlich in "Verlage ohne Verleger" ausgebreitet. Aus Protest gegen die neuen Rentabilitäts-Vorschriften des Mutterkonzerns Random House wirft er 1991 mit einigen Autoren und Mitarbeitern den Bettel hin und gründet mit The New Press einen eigenen Verlag, der, auf einem Stiftungs-Modell basierend, nicht profitorientiert arbeiten muss und trotzdem rentabel bleibt. Schiffrins Erinnerungen wirken zuweilen wie die Flaschenpost aus einer Zeit, da Gut und Böse noch fein säuberlich voneinander geschieden waren und die Welt rettbar schien, ausreichend sozialdemokratischen Reformgeist und gute Literatur vorausgesetzt. "Entschuldigung, wir haben uns geirrt" pinselte die Ost-Berliner Spaß-Guerilla im Herbst 89 aufs protzige Marx-Engels-Denkmal. Solche Art (Selbst-)Ironie ist Schiffrins Sache nicht. Er bleibt, mit französischen und US-amerikanischen Pass zwischen Paris und New York pendelnd, keineswegs aber über allen Dingen schwebend, sich und seinen intellektuellen Prägungen treu. Nicht allzu häufig in Zeiten, da Überzeugungen wie Oberhemden gewechselt werden.

    "Erinnerungen sind eine Folge von Irrtümern. Mal ist man zu optimistisch, mal unterschätzt man, wie Dinge sich wenden können. Auf dem Cover meines Buchs ist ein Kinderfoto von mir, das mich salutierend zeigt. Heute kann ich sagen, dass ich wohl zu lange die falschen Flaggen gegrüßt habe. Andererseits: Letztes Jahr war ich, das erste Mal seit mehr als 20 Jahren, wieder in China. Ich sah ein Land, das gespalten war zwischen Hyper-Multimillionären und Millionen von Menschen, die in extremster Weise ausgebeutet werden. Und ich glaube nicht, dass die Chinesen sagen würden "Marx und Engels haben sich geirrt" - auch, wenn sie inzwischen die besseren Kapitalisten geworden sind."

    André Schiffrin: "Paris, New York und zurück. Politische Lehrjahre eines Verlegers", Matthes & Seitz Berlin, 256 Seiten, 22.90 Euro