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Wanderung mit bäriger Überraschung

Bevor die ersten europäischen Siedler Ende des 18. Jahrhunderts die Smoky Mountains erreichten, waren diese Berge das Land der Cherokee. Sie nannten die Smoky Mountains "Ort des blauen Nebels".

Rudi Schneider | 04.07.2010
    Besonders morgens steigen die Nebelschwaden wegen der hohen Luftfeuchtigkeit aus den wallenden Hügeln und Bergen, und es sieht aus, als rauchten die Berge. Durch die europäischen Siedler gab es allerdings auch noch eine andere Art von Rauch in den Smoky Mountains - eine Eisenbahnlinie.

    Diese gehörte der Little River Railroad and Lumber Company in Townsend, am Fuß der Smoky Mountains. Die scheinbar unermesslichen Wälder waren die Grundlage für eine blühende Holzindustrie, die dem kleinen Ort Townsend am Fuß der Smokys das Leben einhauchte, aber nach fast 40-jähriger Blütezeit 1939 ihren Betrieb einstellte. Heute steht nur noch das letzte Dampfross in Townsend im alten Depot am Little River, und Rick Turner hütet sie wie ein Kleinod:

    "Wir haben eine Shay-Lokomotive, die der 'Little River Lumber Company' gehörte. 1931 hatten sie zwei von diesen Lokomotiven, die allerdings beide gleichzeitig in einem Unfall, der oben in Tremont passierte, zerstört wurden. Ohne Lokomotiven ging gar nichts mehr. Die Eisenbahnlinie war für den Holztransport überlebenswichtig. Deshalb wurden neue Loks zunächst geleast, dann gekauft. Eine der Loks war diese 'Einundzwanzig Siebenundvierzig', die hier im früheren Depot der 'Little River Lumber Company' steht."

    Die Little River Railroad hatte seinerzeit ein Streckennetz von 150 Meilen hoch in die Smoky Mountains. Die höchstgelegene Station oben in den Bergen war Tremont. Roy Oliver - fast könnte man sagen: "ein Mann wie ein Baumstamm" - hat sich zu uns gesellt. Er hat das Ganze noch als Kind miterlebt:

    "Heute ist es wieder eine Wildnis dort oben. Früher war das eine prosperierende Holzindustrie. Die Holzstämme wurden mit der eigens zu diesem Zweck gebauten Eisenbahn aus den Bergen ins Tal befördert. Ich habe dort oben in Tremont gewohnt. Um 1940 wurde die Holzverarbeitung beendet und alle Geräte und Maschinen abgebaut."

    70 Jahre nach dem Ende der Holzindustrie hat die Natur ihr Reich, auch mithilfe des Menschen durch Aufforstmaßnahmen, wieder zurückgewonnen. Die Wildnis, die Roy Oliver beschrieben hat, lädt heute zu ausgedehnten Wanderungen ein. Die Berge am Fuß der Smokys sind häufig aus Kalkstein und Erosion hat über Jahrtausende nicht nur malerische Felsformationen, sondern auch unterirdische Höhlen geschaffen. Die Tuckaleechee Cavern ist eine weitläufige Tropfsteinhöhle, die in der Nähe von Townsend früher den Cherokees als Versteck diente. Philip Vananda erwartet uns in einem riesigen unterirdischen Raum mit meterhohen Stalagmiten und einem rauschenden Wasserfall:

    "Wir stehen an der Basis des Wasserfalls. Er fällt über den Felsvorsprung ganz oben zunächst fast 30 Meter tief in einen Pool, aus dessen Überlauf das Wasser noch mal sieben Meter in den Bodenpool runterrauscht und dann in den Bachlauf mündet."

    Wir folgen dem Bachlauf und bewundern die Gestaltungskräfte der Natur, die in dieser Tropfsteinhöhle über Jahrhunderte Formen hervorgebracht hat, die scheinbar die Gesetze der Gravitation aufheben und mit ihrer unglaublichen Formenvielfalt die Fantasie der Besucher beflügelt. Eine Wanderung in diesem ausgedehnten Höhlensystem hat ganz nebenbei noch einen angenehmen Effekt. Während draußen durchaus 30 Grad und mehr im Sommer herrschen, bewegen wir uns in angenehm kühler und reiner Luft. Aber nicht nur unter der Erde bietet Townsend wunderbare Ziele für Wanderer sondern auch oberhalb, erzählt uns Herb Handly:

    "Viele der Leute, die heute in Townsend und Umgebung leben, stammen aus verschiedenen Gebieten des Great Smoky Mountains National Parks, speziell aus Cades Cove."

    Cades Cove würden wir in Deutschland eine "Hochalm" nennen. Cades Cove hat eine ganz besondere Geschichte zu erzählen und ist für Naturliebhaber ein Kleinod in den Bergen oberhalb von Townsend. Der Weg führt uns entlang dem Laurel Creek. Der Bach windet sich wildromantisch mal links, mal rechts vom Weg, und lädt an malerischen Wasserfällen zum Verweilen ein.

    Riesige Schmetterlinge in schillernden Farben taumeln durch die Luft und spielen scheinbar am Wasser. Wir wandern weiter bergan und folgen dem Bach mit seinen unzähligen Gurgeltöpfen bis sich das enge Tal weitet und einen grandiosen Blick freigibt. Dwight McCarter hat auf uns gewartet, um uns Cades Cove zu zeigen:

    "Du siehst ein großes weites Tal, das rundherum von Bergzügen eingeschlossen ist und wie eine riesige Schüssel wirkt. Dieses Tal hat 20 Quadratkilometer grüne Wiesen auf kalkhaltigem Boden und wurde damals von 200 Familien bewohnt."

    Dwight ist nicht nur hier aufgewachsen, er ist ein legendärer Parkranger des Smoky Moutains National Park und hat mehrere bemerkenswerte Bücher geschrieben. Etliche der Häuser, die Dwights Vorfahren hier oben bewohnten, sind heute noch erhalten und zeugen von der Zeit der ersten Siedler. Oben in Cades Cove verlaufen die Wanderwege relativ eben und sind bestens ausgeschildert. Aus einer saftig grünen Lichtung leuchtet geradezu schneeweiß eine hölzerne Kirche der Siedler, die komplett auf einer Reihe dicker Steine, etwa einen halben Meter hoch über dem Boden steht. Die offene Tür lädt zu einem Besuch ein.

    Holzbankreihen sind auf den Altarraum ausgerichtet, und man glaubt es kaum, neben dem Altar steht noch ein Klavier, dessen Staubschicht erzählt, wie lange schon niemand mehr die Tasten angeschlagen hat ... ob sie noch klingen?

    Unglaublich, manchmal wünscht man sich in solchen Situationen, man könne für einige Augenblicke eine Zeitreise machen, mal schnell 150 Jahre zurückblenden, um zu sehen, wie die frühen Siedler hier lebten. Ich scheine nicht der Einzige zu sein, den solche Gedanken hier bewegen. Draußen, auf dem Friedhof vor der Kirche, treffe ich Stan Shiner, der auch auf Spurensuche ist:

    "Das hier ist Geschichte. Man kann sehr leicht nachvollziehen, unter welch schwierigen Bedingungen die Menschen hier oben lebten. Auf dem Friedhof, auf dem wir gerade stehen, habe ich Grabsteine meiner eigenen Vorfahren, der Whitehead-Linie gefunden. Bei etlichen Grabsteinen ist mir aufgefallen, wie jung diese Menschen gestorben sind. Das belegt, mit welchen Herausforderungen sie hier oben kämpfen mussten. Einige waren zum Zeitpunkt ihres Todes mal gerade zehn oder 20 Jahre alt."

    Herb Handly nickt und kann sich die Gründe der damaligen Lebensumstände gut erklären:

    ""Cades Cove war wirklich eine sehr isolierte Gemeinde, weil das Tal von sehr hohen Bergzügen eingeschlossen ist, und weil man nur über eine einzige, sehr schwierige Passstraße, rein und raus kam.""

    Dem Wanderer in Cades Cove zeigt sich nicht nur eine üppige Vegetation. Man kann auch mit Geduld und Vorsicht, ungewohnt nahe interessanten Tieren begegnen. Ob das wilde Truthähne, Biber oder seltene Vögel sind, um die nächste Wegbiegung geschieht dann möglicherweise das völlig Unerwartete. In unserem Fall war es eine Gruppe von Schwarzbären. Eine Bärenmutter trabte gemächlich mit ihren beiden Jungen am Waldrand und futterte Kräuter, und das gerade mal 50 Meter entfernt. Dwight sagte, an dieser Stelle haben wir sie noch nie gesehen, was für eine unglaubliche Überraschung:
    "Die Bären in den Great Smoky Mountains leben zu 80 Prozent in den Kronen von Tulpen-Bäumen, wo sie auch zur Welt kommen. Wind und Wetter bilden oft Hohlräume in den 300 bis 600 Jahre alten Baumkronen, die die Schwarzbären in Tennessee bevorzugt bewohnen. In anderen Regionen, bauen sie sich ihre Höhlen immer im Wurzelwerk der Bäume im Gegensatz zu den Smokys."

    Kaum hatte Dwight ausgesprochen, legte ich das Mikrofon in die Wiese und habe die Digitalkamera eingeschaltet. Eine solch außergewöhnliche Begegnung will unbedingt ins Fotoalbum. Den Auslöser habe ich fast auf Dauerfeuer gestellt, da klopft mir Caren Harlin, die offensichtlich mit ihren Kindern auch hier wandert, auf die Schultern und fragt, ob sie ein Foto haben dürfte. Ich hole das Mikrofon aus der Wiese und bitte quasi als Gegenleistung um Ihren Eindruck von der unglaublichen Bären-Szene vor uns.

    "Wir haben es sehr genossen, herzukommen und die Bären zu sehen. So ein Glück, angeblich wurden sie hier noch nie gesehen. Ist das nicht einzigartig, diese Tiere in freier Wildbahn zu erleben. Da vorne frisst eine Bärenmutter mit ihren beiden Jungen Gras und Kräuter. Man muss ganz ruhig sein, es ist sicher unproblematisch, solange man sie nicht stört."

    Es fällt allen sichtlich schwer, sich vom Schwarzbären-Idyll zu lösen und die Wanderung fortzusetzen. Unser nächster Halt ist eine weitere Gebäudegruppe der ehemaligen Siedler. Zu einem der Häuser führt ein künstlicher Bachzulauf, dessen Wasser sich auf ein großes Mühlrad ergießt.
    Dwight McCarter:
    "Das ist die 'Becky Cable' Mühle. Becky Cable war die Großtante meiner Mutter. Der Familienname wurde amerikanisiert und hieß ursprünglich Göbel. Hans Göbel kam aus Hessen und weil man den deutschen Namen nicht richtig aussprechen konnte, machte man einfach 'Cable' daraus. Becky war eine der vielen Nachkommen von Hans Göbel und betrieb hier im Tal eine Getreide-Mühle. Meine Mutter sammelte Walnüsse und tauschte sie bei Becky gegen Mehl. Beckys Grab befindet sich hier vorne auf dem Friedhof der Cable-Familie, der übrigens nach Osten ausgerichtet ist."

    Bei solchen Wanderungen ist immer wieder interessant, welche Mitwanderer man trifft und welche Geschichten sie erzählen. Da wäre beispielsweise Winfred Ramsey, der mit seiner Frau einfach still in das weite Hochtal von Cades Cove blickt:

    "Ich wuchs 50 Meilen von hier auf einer Milchfarm auf und Cades Cove ist ein Teil meiner Kindheitserlebnisse. Wir sind hier schon oft gewandert. Der hohe Berg im Hintergrund ist der Thunder-Head. Der Appalachian Trail, der von Georgia bis nach Maine führt, läuft genau über den Gipfel. Wir sitzen jetzt schon eine halbe Stunde hier, genießen die unglaubliche Stille und schauen den Schatten zu, die die Wolken über die Berge laufen lassen."

    Ein wunderbarer Eindruck, der am Ende einer unvergesslichen Wanderung in Cades Cove stehen könnte, aber wie kamen die damaligen Bewohner dieser Hochebene runter ins Tal nach Townsend. Den Weg zeigt uns Dwight, er ist auch heute noch unbefestigt:

    "Das war der originale Weg für Pferde-Fuhrwerke, den sie 'Buffalo-Trail' oder 'Indian-Trail' nannten. Es war früher der einzige Weg, der von Townsend nach Cades Cove führte. Heute kann man ihn nur talauswärts fahren. 1797, als die ersten Siedler kamen, konnte man den Buffalo-Trail in beide Richtungen benutzen. Die Wagen konnten rein und auf diesem Weg wieder raus fahren."

    Alleine der Erfahrung wegen nehmen wir diesen Weg, der auf unzähligen steilen Serpentinen zunächst bergauf aus dem Tal heraus und auf der anderen Seite steil bergab nach Townsend führt. Man habe früher Baumstämme zum Bremsen hinter die Fuhrwerke gehängt, sagt Dwight. Zum Ausklang unserer Entdeckungsreise hat uns Matt Alexander in seine "Dancing Bear Lodge" zur Übernachtung eingeladen:

    "Die Lodge wurde aus Engelmann-Fichten gebaut, die aus dem amerikanischen Westen und British-Columbia in Canada kommen."

    In der "Dancing Bear Lodge" ist nahezu alles aus rustikalen Baumstämmen gebaut, sogar die Betten, und die Möbel im Zimmer. Wanderer wie wir bringen am Abend durchaus auch etwas zum Abendessen mit, was sie möglicherweise gerade im Bach gefangen haben. Und darum kümmert sich dann Chefkoch Jeff Carter:

    "Du kannst durch unser Eingangsportal rausgehen und Regenbogenforellen fangen. Der Fluss ist direkt um die Ecke. Unsere Gäste bringen sie dann mit. Wir bereiten sie mit einer Mehl- und Buttermilch-Panade zu und servieren sie auf gebutterten Bohnen, frittierten Pilzen und etwas Limonensaft."

    Matt Alexander hat im großen Kamin, der in der Lobby bis zum Dachfirst reicht, ein paar Holzscheite angezündet, und nach dem Essen treffen sich die müden Wanderer bei einem Glas Rotwein und reflektieren den Tag und all seine auch unerwarteten Erlebnisse.
    Karen Ramsey:
    "Das ist unser Lieblingsort in den Smoky Mountains. Wir kommen schon zehn Jahre hier her und genießen immer wieder die unglaubliche Flora und Fauna und diese schon fast meditative Stille. Wir haben vorhin auch die Bärenmama mit ihren beiden Kindern gesehen. Was für ein einzigartiges Erlebnis in diesem weiten Tal in der Mitte der hohen Berge."

    Wir sitzen noch bis tief in die Nacht beim Feuer und lauschen den Geschichten von Dwight, die genau wie das Feuer im Kamin eine Glut in uns hinterlassen wiederzukommen und mit ihm auf die nächste Wanderung in den Smokys zu gehen.

    Weitere Informationen:
    Townsend Vacation Guide (englisch)
    National Park Service: Great Smoky Mountains (englisch)
    Appalachian Trail Conservancy (englisch)