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Warten auf Gerechtigkeit

Viele Intellektuelle in Sarajevo beobachten den Prozess gegen Radovan Karadzic genau. Zu viele der Mächtigen von einst können auch heute ihren politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss geltend machen. Um so mehr erwarten viele Gerechtigkeit von der Arbeit des Haager Tribunals.

Von Martin Sander |
    "Die ganze Politik, die Karadžić betrieben hat, zielte ganz darauf ab, ein Groß-Serbien zu verwirklichen, wo kein Platz für bosniakische Bevölkerung war. Und wie man mit den Bosniaken umgegangen ist, meiner Meinung nach war das Völkermord."

    Dennis Gratz aus Sarajevo ist Bosniake, also Bosnier mit muslimischen Wurzeln. Der Jurist Gratz betreibt wissenschaftliche Forschungen zu den Kriegsverbrechen in Bosnien-Herzegowina.

    "Der Karadžić-Prozess ist ganz entscheidend dafür, wie der Krieg in Bosnien-Herzegowina verstanden wird. Das Urteil, das am Ende steht, wird ganz wichtig für die Nachkriegszeit nicht nur Bosnien-Herzegowinas, sondern des ganzen Balkans. Deswegen versucht Karadžić mit allen Mitteln, das hinauszuzögern. Er ist solange Sieger, solange er nicht verurteilt ist."

    In Sarajevo, der Hauptstadt des mit Gewalt in ethnische Herrschaftszonen geteilten Landes, sind viele Kriegsspuren getilgt. Ruinen wurden abgetragen, neue Hochhäuser ragen in den Himmel. Touristen strömen durch das türkisch und habsburgisch geprägte Stadtzentrum. Doch das ist nur die Oberfläche. In Wahrheit sind die alten politischen Konflikte nicht gelöst, sie wurden allenfalls eingedämmt.

    Zu viele der Mächtigen von einst können auch heute ihren politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss geltend machen. Um so mehr erwarten viele Gerechtigkeit von der Arbeit des Haager Tribunals. Einer, der den Völkermord aus nächster Nähe erlebte, ist Emir Suljagić. Er lebte im belagerten Srebrenica und wurde 1995 Zeuge des Massakers an bis zu 8000 Muslimen. Wie kaum ein anderer beobachtet er die Arbeit des Tribunals. Zwei Jahre lang hat er für das bosnische Wochenmagazin "Dani" aus Den Haag berichtet. Suljagić, der heute als Schriftsteller und politischer Berater des sozialdemokratischen Bürgermeisters in Sarajevo lebt, hat ein zwiespältiges Verhältnis zum Tribunal.

    "Dieses Tribunal weist eine Menge von Schwachstellen auf. Die größte Schwachstelle besteht darin, dass es von einer Institution ins Leben gerufen wurde, die, während die Verbrechen in Bosnien verübt wurden, danebengestanden und nichts eingegriffen hat. Ich meine die Vereinten Nationen. Das Tribunal in Den Haag ist eine Ad-Hoc-Institution, die für sich steht, die keine militärische Gewalt im Hintergrund hat, wie das nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland der Fall war. Es hat kein politisches Programm, das es in Deutschland ebenfalls nach dem Krieg gab."

    Gleichwohl gibt es für Emir Suljagić – wie für viele (vor allem muslimische) Bosnier – keine Alternative zu Den Haag.

    "Bei allen seinen Schwächen ist das Tribunal der einzige Platz, bei dem ich mir sicher sein kann, dass Karadžić für die Untaten, die er ohne Zweifel begangen hat, auch gerecht bestraft werden wird. Lassen wir es auf uns zukommen."

    Suljagićs Sozialdemokraten bemühen sich intensiv um die Überwindung ethnischer Grenzen. Doch ihr Erfolg ist begrenzt. Die Teilung des Landes in zwei Entitäten und diverse ethnisch-nationale Herrschaftszonen wurde schließlich im Dayton-Friedensvertrag 1995 festgeschrieben.

    "Die internationale Gemeinschaft hat vom ersten bis zum letzten Tag auf die Karte der ethnischen Teilung gesetzt. Heute haben wir es in Bosnien-Herzegowina mit drei separaten ethnischen Gemeinschaften zu tun, die als Parallelgesellschaften nebeneinander bestehen."

    Dubravko Lovrenović, ein bosnischer Kroate, lehrt die Geschichte seines Landes an der Universität Sarajevo. Lovrenović ist ein leidenschaftlicher Verfechter des multiethnischen Zusammenlebens. Gerade deshalb sieht er die Zukunft düster.

    "Natürlich kommunizieren die Menschen aus diesen verschiedenen Gemeinschaften im Alltag miteinander. Der vorherrschende Trend aber, der von der Politik oktroyiert und alle vier Jahre durch die Wahlen zementiert wird, geht in Richtung Vertiefung der bestehenden Unterschiede. Ich sehe nichts Positives am Horizont, was diesen Trend stoppen oder einen Richtungswechsel auslösen könnte."