Wie begründet der Internationale Strafgerichtshof seine Entscheidung?
Das Gericht hat einem Antrag von Chefankläger Khan vom vergangenen Mai zugestimmt. Demnach werden sowohl Netanjahu als auch Gallant Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Gazastreifen vorgeworfen - und zwar wegen des israelischen Militäreinsatzes nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Als zivile Vorgesetzte sind sie demnach strafrechtlich verantwortlich zu machen.
Das Gericht sieht unter anderem ausreichende Gründe für die Annahme, dass Netanjahu und Gallant "absichtlich und wissentlich" der Zivilbevölkerung im Gazastreifen wesentliche Dinge für ihr Überleben vorenthalten - einschließlich Nahrung, Wasser, Medikamente, Brennstoff und Strom. Im Gazastreifen wurden seit dem 7.-Oktober-Überfall laut dem Hamas-kontrollierten Gesundheitsbehörden mindestens 44.000 Menschen getötet. Bei den Zahlen wird nicht zwischen Zivilisten und Hamas-Mitgliedern unterschieden.
Auch Hamas-Anführer Deif werden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Die Hamas und die ebenfalls militant-islamistische Organisation "Islamischer Dschihad" hatten bei ihrem Überfall auf Israel mehr als 1.100 Menschen ermordet und mehr als 250 Geiseln verschleppt. Deif soll allerdings inzwischen bei einem israelischen Angriff im Gazastreifen getötet worden sein. Eine offizielle Bestätigung dafür gab es nie.
Der Chefankläger hatte ursprünglich auch Haftbefehle für die beiden Hamas-Anführer Hanijeh und Sinwar erlassen. Nach der Bestätigung ihres Todes wurden sie zurückgenommen.
Welche Folgen haben die Haftbefehle?
Das Gericht in Den Haag hat selbst keine Möglichkeit, die Haftbefehle zu vollstrecken. Dafür sind 124 Mitgliedsstaaten - darunter auch Deutschland - dazu verpflichtet, die Gesuchten festzunehmen, sollten diese sich im jeweiligen Hoheitsgebiet der Staaten aufhalten. Das bedeutet: die Reisemöglichkeiten der Betroffenen werden vermutlich deutlich eingeschränkt.
Für viele Staaten bedeuten die Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant ein Dilemma. Der EU-Außenbeauftragte Borrell bezeichnete die Haftbefehle als bindend für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Die Niederlande kündigten bereits an, Netanjahu, Gallant oder Deif festzunehmen, sollten diese einreisen.
Deutschland ist ein Verbündeter Israels. Der Sprecher der Bundesregierung, Hebestreit, sagte aber schon nach dem Antrag des Haftbefehls im Mai, Deutschland sei grundsätzlich Unterstützer des Gerichtshofs - und dabei bleibe es auch. Auf die Nachfrage, ob dazu auch gehöre, sich an Entscheidungen des Gerichts zu halten, sagte Hebestreit: "Natürlich. Ja, wir halten uns an Recht und Gesetz."
Eine ganze Reihe von Staaten haben dagegen das Statut des Gerichtshofs nicht ratifiziert, darunter neben Israel auch die USA, China, Russland, Indien, der Iran, Saudi-Arabien und die Türkei. Das heißt: Dort besteht keine Verpflichtung, die Gesuchten festzunehmen.
Die israelische Regierung könnte nach Einschätzung der Nachrichtenagentur AP durch die Entscheidung des Gerichts international weiter isoliert werden. Auch die Bemühungen um einen Waffenstillstand zur Beendigung des Krieges könnten weiter erschwert werden.
Welche Reaktionen gibt es?
Das Büro von Netanjahu weist den Haftbefehl gegen den Regierungschef und Ex-Verteidigungsminister Gallant in scharfer Form zurück und nennt den Schritt antisemitisch. Israels Außenminister Saar betont, der Gerichtshofs habe jedwede Legitimität verloren. Staatspräsident Herzog spricht von einem dunklen Tag für die Menschheit. Auch der Zentralrat der Juden in Deutschland zeigt sich empört, Präsident Schuster nennt den Haftbefehl eine "Absurdität". Israel verteidige sich nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 gegen islamistischen Terror in Gaza und im Libanon.
Die Hamas wiederum begrüßt die Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant und spricht von einem "Schritt zu Gerechtigkeit". Auch Jordanien befürwortet die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs, die laut Außenminister Safadi respektiert und umgesetzt werden müsse.
Diese Nachricht wurde am 22.11.2024 im Programm Deutschlandfunk gesendet.