Internationaler Strafgerichtshof
Möglicher Haftbefehl gegen Netanjahu - und ein echtes Dilemma

Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag prüft, ob ein Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu erlassen werden soll. Wozu wäre Deutschland im Fall eines Staatsbesuchs des israelischen Ministerpräsidenten dann verpflichtet?

23.05.2024
    Benjamin Netanjahu, Ministerpäsident des Staates Israel, hinter ihm die Flaggen Israels und der Europäischen Union.
    Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, Karim Khan, wirft dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. (picture alliance / AA / photothek.de / Kira Hofmann)
    Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag, Karim Khan, hat Haftbefehle gegen drei führende Mitglieder der Terrororganisation Hamas beantragt. Hamas-Chef Ismail Haniyya, dem Chef der Hamas im Gazastreifen, Yahya Sinwar, und dem Oberbefehlshaber des militärischen Flügels der Hamas, Mohammed Deif, werden schwere Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Zusammenhang mit dem Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 vorgeworfen. Zeitgleich beantragte Khan allerdings auch Haftbefehle gegen Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und den israelischen Verteidigungsminister Joaw Gallant: Vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung im Gazastreifen und gezieltes Aushungern lauten zwei der Anschuldigungen. Hier ein Überblick zu den wichtigsten Fragen rund um die Anträge.

    Inhaltsverzeichnis

    Welche Reaktionen gibt es auf die Anträge?

    Kritik an den Anträgen auf Haftbefehl gegen Netanjahu und Gallant kommt unter anderem aus Deutschland und den USA. Durch die zeitgleiche Beantragung der Haftbefehle gegen die Hamas-Anführer entstehe der „unzutreffende Eindruck einer Gleichsetzung“, heißt es in einer Mitteilung des Auswärtigen Amts. Frankreich und Belgien unterstützen dagegen das Vorgehen des IStGH-Chefanklägers Karim Khan.

    Was ist der Internationale Strafgerichtshof?

    Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) ist ein unabhängiges, internationales Gericht. Es wurde 1998 mit der Unterzeichnung des Römischen Statuts gegründet und ist seit 2002 in der niederländischen Stadt Den Haag tätig. Insgesamt 124 Staaten haben das Statut unterzeichnet, dazu zählen unter anderem Deutschland und alle anderen EU-Länder, alles südamerikanischen Staaten, Kanada, aber auch die palästinensischen Autonomiegebiete. Die USA, Russland, China, Indien und Israel erkennen den IStGH dagegen nicht an.
    Die wichtigste Aufgabe des IStGH ist es, Verbrechen zu verfolgen, die im Auftrag von Staaten verübt wurden. Dazu gehören Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord. Der IStGH befasst sich mit den Personen, die solche Verbrechen zu verantworten haben. Darin liegt der Unterschied zum Internationalen Gerichtshof (IGH), der Konflikte zwischen Staaten verhandelt.

    Was bedeutet ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs?

    Der IStGH kann Haftbefehle gegen Personen erlassen, wenn aus Sicht der Richterinnen und Richter ausreichend Beweise für schwere Verbrechen vorliegen. Dann sind die 124 Mitgliedsstaaten verpflichtet, die gesuchten Personen festzunehmen und auszuliefern, wenn diese ihr Hoheitsgebiet betreten. Erzwingen kann der IStGH eine Festnahme durch die Mitgliedsstaaten aber nicht. So reiste etwa der frühere sudanesische Diktator Umar al-Baschir, gegen den seit 2009 ein Haftbefehl existiert, durch mehrere Mitgliedsländer, ohne festgenommen zu werden.

    Warum ist der Internationale Strafgerichtshof überhaupt gegen israelische Politiker aktiv geworden?

    Das Mandat des IStGH gilt nur dort, wo das Strafgericht auch anerkannt wird. Das heißt, der Gerichtshof kann nur dann tätig werden, wenn Verbrechen auf dem Territorium eines Mitgliedslandes stattfinden oder die angeklagten Personen Staatsbürger eines Mitgliedslandes sind. Israel erkennt den IStGH zwar nicht an, aber die palästinensischen Gebiete wurden 2015 als Mitglied aufgenommen. Die Vorverfahrenskammer entschied deshalb im Jahr 2021, dass auch der Gazastreifen und das Westjordanland in den Zuständigkeitsbereich des IStGH fallen.

    Wie lange dauert die Prüfung der Anträge auf Haftbefehl?

    Bisher sind die Haftbefehle gegen Netanjahu, Gallant und die Hamas-Führer nur beantragt worden. Die Vorverfahrenskammer I am IStGH mit drei Richterinnen unter der Leitung der Rumänin Iulia Motoc wird jetzt die Beweise prüfen. Eine Frist, bis wann eine Entscheidung über die beantragten Haftbefehle gefällt werden muss, gibt es nicht. Aus der Erfahrung in früheren Verfahren kann mit einer Dauer von einigen Wochen bis zu mehreren Monaten gerechnet werden.

    Was würde passieren, wenn Netanjahu nach Deutschland kommt?

    Wenn sich die Richterinnen am IStGH dem Antrag des Chefanklägers anschließen und einen Haftbefehl gegen den israelischen Ministerpräsidenten erlassen, wäre das für die Bundesregierung ein echtes Dilemma. Wenn Netanjahu nach Deutschland käme, müsste er hier verhaftet werden – ein schwerer Affront gegen Israel und kaum vorstellbar.
    Wenn Deutschland den Haftbefehl hingegen ignoriert, würde dies das Ansehen des Internationalen Strafgerichtshofs beschädigen. Daher ist es am wahrscheinlichsten, dass Netanjahu im Fall eines Haftbefehls erst einmal nicht mehr nach Deutschland kommt.

    Was kann Israel tun?

    Der IStGH arbeitet nach dem sogenannten Prinzip der Komplementarität – das bedeutet, er schreitet nur dann ein, wenn die betroffenen Staaten selbst nicht die Absicht oder die Möglichkeit haben, gerichtlich tätig zu werden.
    Als demokratischer Rechtsstaat könnte Israel selbst Ermittlungen gegen die Regierung wegen möglicher Kriegsverbrechen einleiten. Darauf weist auch Chefankläger Karim Khan in seiner Erklärung hin. Ein solcher Schritt würde das Verfahren am Internationalen Strafgerichtshof aufhalten oder sogar zu einer Einstellung führen.

    Gegen wen gibt es derzeit Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs?

    Im März 2023 hat der IStGH Haftbefehle gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und die russische Kinderrechtsbeauftragte Maria Lwowa-Belowa erlassen. Ihnen wird die Deportation von ukrainischen Kindern als Kriegsverbrechen vorgeworfen. Ein Jahr später folgten auch Haftbefehle gegen zwei Befehlshaber der russischen Armee. Ihnen legt der IStGH gezielte Angriffe auf die Zivilbevölkerung und weitere Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last.
    Weitere Haftbefehle bestehen unter anderem gegen den früheren sudanesischen Diktator Umar al-Baschir und einen Sohn des ehemaligen lybischen Machthabers Muammar al-Gaddafi  – al-Baschir soll in Khartum von der Polizei überwacht werden, Gaddafi ist auf freiem Fuß. In Gewahrsam des IStGH befinden sich derzeit unter anderem mehrere ehemalige Anführer von Milizen aus der Republik Zentralafrika, der Region Darfur und Mali.