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Was ist eine philologische Frage?

Gut 200 Jahre gibt es sie jetzt schon, die Philologie im modernen Sinn. 200 Jahre, da könnte man meinen, das Fach sei sich über sein Selbstverständnis und die Prinzipien seiner Arbeit hinlänglich im Klaren. So mag es erstaunen, dass in Heidelberg ein Symposium veranstaltet wurde, das einen Titel trug, der mit einem Fragezeichen endete: "Was ist eine philologische Frage?"

Von Kersten Knipp |
    Homer, Cicero et tutti quanti: Die Autoren der klassischen Antike sind philologisch längst erfasst - vielleicht zu sehr erfasst, um die Altphilologie noch so richtig am Leben zu erhalten. Und tatsächlich verströmt das Fach gelegentlich eine ganz besonders klassische Aura, will sagen, es nimmt sich etwas betulich aus, als Anstalt, in der das zeitlos Schöne gewissenhaft verwaltet wird. Das kann leicht langweilig werden. Zu langweilig, findet Jürgen Paul Schwindt, der junge Direktor des Klassischen Seminars der Universität Heidelberg.

    ""Das berufsmäßige Schwadronieren über Gehalte, sei es die Seelentiefe griechischer Kunstwerke sei es die Welthaltigkeit römischer Geschichtsexempel, versäumt leicht die genaue Beschreibung der Dinge", schrieb er zuletzt in der Zeitschrift "Merkur". "

    Über die getreuliche Verwaltung der Texte, sagte er in Heidelberg, hat nicht nur die klassische Philologie an Schwung verloren.

    "Die Philologie ist im 19. Jahrhundert ... Institution geworden. Und die Institutionalisierung der Philologie hat den nicht institutionell bedingten Impulsen und Affekten geschadet. Das heißt, es gilt ein vorinstitutionelles Potential an sinnlichen an reflexiven Kräften wieder freizusetzen, um die Philologie in die Konfrontationsstellung des Kantischen "per te sapere aude" oder des Bentley´schen "Setze auf deinen Verstand und schau nicht nach den Handschriften" wieder zurückzukommen. Es geht darum, die subversiven Potentiale der Philologie hinter der Archivierung des Wissensbestandes, der philologischen Arbeitstechniken hervorzurufen. "

    Subversive Potentiale, darauf kommt es an. Denn im Grunde ist der Buchstabe ja nur Mittel, Stütze, Richtungsweiser hin zum Geist, um den es ja eigentlich gehen sollte. Was wollen Texte sagen, oder besser: Was können Texte sagen? Wie lassen sie sich fassen, welchen Sinn, welche Deutung lassen sie zu? Schafft es die Philologie, Hilfsmittel an die Hand zu geben, um die Fülle eines Textes möglichst unmittelbar zu erfahren, sich von ihm gar packen und faszinieren zu lassen? Das zu leisten, so der Romanist und Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht, wäre eine Aufgabe, die der Philologie ihre alte Dynamik zurückgeben könnte.

    " Und da bedeutet Philologie glaube ich, ... dass das da sozusagen emotionale Kräfte, sensuelle Kräfte freigesetzt werden und zu einem Verhältnis zum Text führen, das ... heute sich artikuliert als eine neue Art von Existentialismus, eine neue Art von existentiellem Verhältnis zur Literatur, was dann auch die Distanz zwischen Literaturwissenschaft und Gegenstand, die man ja so gesetzt hat, in der Tradition der Literaturwissenschaft - und die heißt ja auch nur in Deutschland "Literaturwissenschaft" - was diese Distanz problematisiert und vielleicht in die Richtung geht, in der die Geisteswissenschaften im angloamerikanischen Bereich eben "humanities and arts" heißen. "

    "Humanities and arts" - von "Wissenschaft" ist im angloamerikanischen Sprachgebrauch keine Rede. Aus gutem Grund. Der Begriff "Wissenschaft" verweist auf etwas Exaktes, genau Messbares, eindeutig Beweisbares. Genau das können die Geisteswissenschaften aber nicht leisten. Sie mögen Methoden haben, aber keine genauen Messdaten. So kann die Philologie zwar exaktes sprachliches Wissen bereitstellen - das aber zu deuten, ist im Sinne naturwissenschaftlicher Exaktheit unmöglich. Aber das, so die Altphilologin Melanie Möller, sagt über die Philologie als Modell deutenden Denken noch nicht viel aus.

    " Na dieses Modell könnte vor allen Dingen dadurch funktionieren, dass man ... die Beziehung zur Hermeneutik ein bisschen zurückfährt, vielleicht auch die Bedeutung der Hermeneutik insofern man daran arbeitet, die Philologie sowohl als sinnkonstituierende Kraft und Möglichkeit als auch als Beschreibungskunst herauszustellen. Also ... vor allen Dingen natürlich das am Beispiel von Text, also einer Art close reading immer wieder in den Blick zu nehmen und das an theoretischen Eckdaten und Rahmendaten und ja Fragen, die in der Theorie verhandelt werden, am Beispiel dieser Texte zu zeigen. "

    Close reading, die Konzentration auf den Text. Allerdings: Nichts ist unsicherer als philologische Deutungsarbeit. Die Hermeneutik, die Wissenschaft vom Verstehen, hat gezeigt, in welchen Fallstricken man sich verfangen kann, wenn man sich vorschnell auf die Texte einlässt, ihnen zu unbesorgte die eine oder andere Bedeutung unterschiebt - oder gar meint, mit ihrer Hilfe direkt das Hert, das Seelenleben des Dichters erschließen zu können. Nicht wäre naiver als dies, meint der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer.

    "Ich meine, dass der Dichter, wie manche glauben, letztlich doch kein Bruder des Theoretikers oder des Auslegenden oder des Hermeneutikers ist, ... das sollte eigentlich auf der Hand liegen. Aber auch hier wieder neigt der theoretische Mensch ... sehr stark dazu, dass er mit dem Dichter etwas teilt, ein Geheimnis teilt... Also jedenfalls der sensible Hermeneutiker glaubt, mit dem Dichter ein Geheimnis zu teilen. Das ist ein bis heute nicht geklärtes Problem. ... Ich selbst glaube, dass man eine große Differenz, eine große Distanz zwischen beiden Positionen machen muss. "

    Distanz: ja, denn man kann in der fremden Dichterseele niemals zu Hause sein. Neue, erfrischende und vor allem zeitgemäße Deutungen eines Textes sind allerdings sehr wohl möglich, meint der Altphilologe Jürgen Paul Schwindt, Veranstalter des Symposiums. Die Philologie, schlägt er vor, sollte ganz neue Projektionen von sich selbst entwerfen - so dass die Texte neuen Anschluss an die Gegenwart finden.

    "Man könnte etwas maliziös sagen, dass diese Projektionen etwas sind wie Substitutionshandlungen, die die Notwendigkeit der Wissenschaft oder den Mut der Wissenschaft, auch einmal unwissenschaftlich sein zu können, kompensieren sollen. ... Projektionen der Philologie sind der Versuch, die notwendig entgehende Lebenswelt, wenn ich Philologe bin, wieder einzuholen in der Projektion von einer lebensnotwendigen Philologie. Deswegen diese Reformulierungen philologischer Essentialien in einer quasi-mythologischen Sprache. "

    Lebensnotwendige Philologie. Aber nur im Sinn einer immer neuen Arbeit an den Texten, dem Erschließen ihrer inneren Ordnung, dem Aufdecken ihres semantischen Potentials. Philologie kann zu ganz neuen Lesarten führen. So hat Schwindt selbst einen der meistverfemten Texte des Altertums, Caesars "Bellum Galicum" neu gelesen und Überraschendes nachgewiesen: Er eignet sich gerade nicht als Plädoyer für die Universalisierung der Humanitas-Idee. Wie und warum? Man kann es nachlesen. Fest steht, dass die Philologie auch nach zweihundert Jahren noch mit aufregenden Deutungen überraschen kann.