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Was vor den Geburtswehen lag

Das Buch "On The Road" von Jack Kerouac erschien 1957. Es wurde zum Erfolg und Meilenstein, ist aber kürzer als die Manuskriptfassung - bereinigt um skandalträchtige Szenen und mit erfundenen Namen für die realen Helden. Nun liegt die Urfassung des Werks vor.

Von Michael Schmitt | 14.11.2010
    Alles was ich wollte und was Neal wollte und was alle wollten, war, irgendwie ins Herz der Dinge vorzudringen, wo wir uns wie im Mutterschoß einkringeln und dem ekstatischen Schlaf hingeben konnten, den Burroughs mit einer schönen großen Spritze M. erlebte und die Werbemanager in New York mit zwölf Scotch & Sodas - nur ohne Kater. Ich hatte damals haufenweise romantische Phantasien und beseufzte mein Ungemach. In Wirklichkeit stirbt man einfach, man stirbt die ganze Zeit, und doch lebt man, man lebt weiter.

    Es ist dieser in Literatur umgesetzter Impuls, der Jack Kerouacs Roman "On the Road" nach seinem Erscheinen 1957 zum Erfolg und zum Meilenstein hat werden lassen. Und in den Jahren davor war das Kraftquelle, die den jungen Schriftsteller quer durchs Land getrieben hatte, ihn in immer neuen Anläufen zu diesem Buch hatte ansetzen lassen, um dann - oh schöne Legende - eine 40 Meter lange Fernschreiberpapierrolle in drei Wochen voll zu schreiben - ohne Absatz und mehr oder weniger auch ohne Punkt und Komma. Es solle in diesem Buch um zwei Männer auf dem Weg nach Kalifornien gehen, die etwas suchen, was sie nicht finden werden, hatte Kerouac schon 1948 dazu notiert, und die dann zurückfahren, in der Hoffnung, etwas anderes zu finden.

    Der Impuls war also von Beginn an zwiespältig; dem Pathos des Aufbruchs entsprach ein nicht weniger emphatischer Fatalismus, eine erwartbare Enttäuschung, die aus einer jubelnden Hymne auf die Suche nach den in sich etwas widersprüchlichen Zielen "Freiheit und Ruhe" schließlich eine Literatur werden ließ, die Jahrzehnte überdauern konnte, nachdem die Freundschaften, die von der Straße gelebt hatten, auseinander gegangen waren und die Wege sich getrennt hatten. Das weiß der Roman in der veröffentlichten Fassung von 1957; so steht es aber auch schon in der nun sogenannten "Urfassung", jener Manuskriptversion, die Jack Kerouac im April 1951 in einem Zug in die Schreibmaschine hämmerte. Das Scheitern gehört von Anfang als Thema zu diesem Projekt dazu, der Roman erzählt nicht nur vom Aufblühen und von den Höhepunkten einer eigenwilligen Freundschaft unter jungen Männern; er kennt auch deren Ende, als einer der beiden zum ernsthaft experimentierenden Schriftstellern geworden ist, während der andere nur mehr als stammelnder "heiliger Narr", als literarische Figur im Gedächtnis bleibt.

    Ein paar kleine Korrekturen haben dieser mythischen Erzählung nie geschadet – warum auch? Die Papierrolle, die Kerouac benutzte, war zusammengeklebt und kein Endlospapierstreifen für spontane, atemlose Dichtkunst, und auch die Zeichensetzung Jack Kerouacs war weitgehend konventionell. Aber der Ruhm des Romans beruht ja nicht auf solchen Petitessen, sondern auf der Wucht, mit der er das Prinzip "Bewegung" gegen die Ängstlichkeiten des amerikanischen Mittelklasse-Alltags kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ausspielt.

    Es nieselte, und unsere Reise begann geheimnisvoll. Ich sah, dass sie eine große Saga des Nebels werden würde. "Hui", jubelte Neal, "los geht’s!" Und er beugte sich über das Lenkrad und trat das Gaspedal durch; er war wieder in seinem Element, das war nicht übersehen. Wir alle waren begeistert, wir alle merkten, dass wir Verwirrung und Unsinn hinter uns ließen und unsere damals einzige und noble Funktion erfüllten: Bewegung. Und wie wir uns bewegten! Wir flogen an geheimnisvollen weißen Schildern irgendwo in der Nacht von New Jersey vorbei (...) Es loderte in unseren Köpfen (...) Die weiße Mittellinie des Highways zog unter uns hinweg und schmiegte sich an den linken Vorderreifen, als klebte sie an unserem Groove. Neal krümmte den muskulösen Hals, im T-Shirt in der Winternacht, und brauste dahin.

    Wer denkt da nicht an James Dean in der Mitte der Fünfziger Jahre, also an "Rebel without a cause" oder an Richard Dreyfuß in "American Graffiti", einer Geschichte, die allerdings erst Anfang der Sechziger spielt. Jack Kerouac, Neal Cassady und ihre Freunde, ihre Ehefrauen und Geliebten sind aber schon deutlich früher unterwegs – und zwar in einer Welt, die noch nicht einmal in Ansätzen so etwas wie Jugendkultur oder Gegenkultur formulieren kann. Es gibt zwar den Jazz von John Coltrane oder die Kunst von Jackson Pollock – aber das alles ist Pionierarbeit und keineswegs weitverbreitet oder gar als selbstverständlich akzeptiert.

    Die Reisen in Autobussen oder in eigenen, manchmal auch gestohlenen Autos fallen in die Jahre 1947 bis 1950. Sie führen von New York über Denver nach Kalifornien und wieder zurück; sie führen nach Texas und schließlich auch nach Mexiko. Jack Kerouac, 1923 geboren, ist Mitte, Ende Zwanzig, sein Freund Neal Cassady ist ein paar Jahre jünger. Kerouac, als Frankokanadier geboren und Halbwaise, hat 1942/43 versucht, bei der US-Kriegsmarine zu dienen, ist aber als schizoid abgelehnt worden; er hat ein abgebrochenes Studium hinter sich, er gehört mit Allen Ginsberg, Lucien Carr und William Burroughs zu einer aufmüpfigen, aber noch ganz und gar unbekannten Dichtergeneration.

    Er arbeitet Ende der Vierziger an einem Roman, "The Town and the City", der 1950 erscheinen wird, und schon ein paar Motive von "On the road" ausprobiert. Als Veteran bezieht er zudem wie viele junge Männer in diesen Jahren ein paar Dollar Rente und wird ansonsten von seiner Mutter finanziell unterstützt. Neal Cassady dagegen ist in Salt Lake City "auf der Straße" geboren worden, hat seine Jugendjahre in Erziehungsheimen verbracht und ist ein notorischer Autodieb und Autofan. Ein manischer Charakter, eloquent und zügellos, der Frauen genauso um den Finger wickeln wie junge Dichter beeindrucken kann. Neal Cassady, das ist ein Knacki, der gerne ein Intellektueller werden und alles über Nietzsche wissen möchte, heißt es; und man weiß, dass seine Briefe 1951 den Ton mitgeprägt haben, in dem Kerouac seinem geplanten Roman tatsächlich eine erste feste Gestalt geben kann.

    Diese Hintergründe und die Entstehungsgeschichte des Romans waren immer schon bekannt – bis vor drei Jahren aber mussten die Leser sich sowohl im amerikanischen wie auch im deutschen Sprachraum mit jener Fassung begnügen, die 1957 nach vielen Geburtswehen tatsächlich hatte erscheinen können: kürzer als die verschiedenen abgeschlossenen Manuskriptfassungen, bereinigt um skandalträchtige Szenen und mit erfundenen Namen für die realen Helden der realen Reisen: Neal Cassady hieß darin Dean Moriarty, und auch Allen Ginsberg oder William Burroughs mussten sozusagen unter Pseudonym auftreten.

    Die Fassung des Romans auf der berühmten Schriftrolle war also lange nur eine Reliquie, Teil des gewaltigen Kerouac-Kultes – und sie hat in dieser Form wohl auch nie ein Lektoratsbüro von innen gesehen. 2007 legte Howard Cunnell dann jedoch eine Edition dieser Fassung vor, die nun auch in einer süffigen deutschen Übersetzung von Ulrich Blumenbach erhältlich ist. Rekonstruiert auf der Basis der Papierrolle und jener Korrekturen, die Kerouac selbst darauf vorgenommen hat; abgesichert durch den Blick auf andere Manuskriptfassungen, die vor oder direkt im Anschluss entstanden sind. Vorangestellt ist dieser Urfassung ein Zitat von Walt Whitman, das in der Fassung von 1957 nicht mehr vorkommt:

    Camerado, ich reiche Dir meine Hand!
    Ich reiche die meine Liebe, kostbarer als Geld,
    Ich reiche dir mich selber, noch vor Predigt oder Gesetz;
    Willst du dich mir reichen? Willst Du mit mir wandern?
    Sollen wir zusammenbleiben, solange wir leben?


    Knapper kann man nicht fassen, was Kerouac und seine Freunde umtreibt, als sie sich auf den Weg machen, um Bewegung zu ihrer wesentlichen und vornehmsten Aufgabe zu wählen.

    Die Busfahrt von Denver nach Frisco verlief ereignislos, nur das mir das Herz zunehmend im Leibe sprang, je mehr wir uns Frisco näherten. Wieder Cheyenne ... diesmal am Nachmittag ... und dann nach Westen über das offene Weideland; um Mitternacht überquerten wir die Wasserscheide bei Creston, erreichten in der Morgendämmerung Salt Lake City, eine Stadt der Rasensprenger – kaum zu glauben, dass Neal dort zur Welt gekommen sein sollte; dann hinaus nach Nevada in die heiße Sonne, bei Einbruch der Nacht Reno mit seinen blinkenden Chinesenstrassen; dan in die Sierra Nevada hinauf, Kiefern, Sterne, Berghütten, die für Frisco-Romanzen standen (...) und dann den Hügel hinab in die Ebene von Sacramento. Plötzlich wurde mir klar, dass ich in Kalifornien war. Warme Palmenluft – eine Luft zum Küssen – und Palmen.

    Ein Logbuch der Hip-Generation hat Kerouac in frühen Entwürfen in seinem Roman sehen wollen. Erste Anläufe unternahm er schon im August 1948; kaum hatte er die nun vorliegende "Urfassung" abgeschlossen, schrieb er den Text um und produzierte zwei unterschiedlich lange neue Versionen, die er dann wohl tatsächlich bei Verlagen einreichte, bei Roger Giroux und bei Viking. Diese "Urfassung" ist also vermutlich nicht mehr als eine Durchgangsstation, ein viel wilderer Text als die später publizierte Version, mit mehr Sex, mit weniger Schliff – und geschrieben ohne Angst vor Verleumdungsklagen von namentlich genannten Protagonisten. Sie entwerte die bekannte Version von 1957 daher auch nicht, sondern trete mit ihr in einen Dialog, beteuert daher auch der Herausgeber. Ganz bestimmt ist sie näher dran an den Empfindungen jener sehr jungen Männer, die Ende der Vierziger zwar schon wissen, dass sie anders leben wollen, als man es ihnen beigebracht hat; die aber noch nicht wissen können, dass zumindest einige von ihnen ein Jahrzehnt später dadurch tatsächlich berühmt sein werden.

    Neal wickelte die Angelegenheiten mit seinen Mädchen ab, und fröhlich kichernd machten sich die beiden Jungs auf den weg nach Texas. In Denver sah jemand sie den South Broadway hinabgehen; Neal rannte und haschte nach hochhängenden Blättern, Allen, so der Gewährsmann, "machte sich dazu Notizen". (...) Sie reisten tage- und nächtelang nach Texas; in der ganzen Zeit schliefen sie nicht und redeten ununterbrochen. Nichts blieb unentschieden und undiskutiert. Auf dem Highway, zwischen den Felsen am Raton Pass, im windzerzausten Panhandle-Gras bei Amarillo, im buschigen Herzen von Texas redeten und redeten sie, und bei iherr Ankunft in Waverly, Texas, unten in der Nähe von Houston, wo Bill Burroughs lebte, war so viel entschieden worden, dass sie sich auf der dunklen Strasse hinknieten, einander ansahen und sich ewige Liebe & Freundschaft schworen. Allen segnete ihn; Neal ließ es zu. Sie knieten und psalmodierten, bis ihnen die Knie weh taten.

    Atemlosigkeit ist das eine, was den Leser aus solchen Passagen anspringt, eine Art von literarischer Wiedergeburt der Empfindsamkeit aus dem Geiste einer neuzeitlichen Unrast ist das andere. Er habe seine Sätze so eingeteilt, als würden die Gedanken nach Luft schnappen, hat Kerouac dazu erklärt, und das Ergebnis klingt über weite Passagen wie ein andauernder hymnischer Gesang von Lebensgier und ständiger Bewegung. In einem frühen Stadium der Konzeption hatte Kerouac noch beabsichtigt, eine Reihe von Romanen zu schreiben, in denen jene Amerikaner zu Wort kommen sollten, denen er und Neal auf der Straße begegnet waren, aber schon die Urfassung von "On the Road" kennt nur mehr die eine und einzige Stimme des dauer-euphorischen Erzählers.

    Was ihm auf seinem Weg begegnet, ist stets nur Anlass und Spiegel für seine höchsteigenen Empfindungen. Für spirituelle Erfahrungen, für religiöse Unter- und Obertöne, wenn die Sprache Kerouacs katholische Herkunft nicht verleugnet. Das kann beim Lesen durchaus enervieren, und schon der Kritiker und Lektor Malcolm Cowley, der Kerouac schließlich zu einem Verlag verhalf, attestierte dem überarbeiteten Manuskript etwas herablassend, dass es zwar ein aussagekräftiges Dokument, aber deshalb noch kein bedeutender Roman sei. Und Truman Capote hat "On the Road" seinerzeit sogar als Geschreibsel abgetan.

    Besser kann man den Traditionsbruch, den Kerouacs spontane Schreibweise darstellt, vielleicht gar nicht definieren. Es ging Kerouac nicht um Weltanschauung und um Stil im tradierten Sinne, es ging ihm um die Darstellung von Unmittelbarkeit. Und den Rhythmus dazu lieferte der zeitgenössische Jazz, nach dessen Takt man sich an düsteren Orten die Nächte um die Ohren schlug.

    Ein Aufruhr an Musik, und der Saxophonist hatte es, und alle wussten, dass er es hatte. Neal hielt sich in der Menge den Kopf, und es war wirklich eine ausgeflippte menge. Alle drängten den Saxophonisten schreiend und wildäugig weiterzumachen, und er kam aus der Hocke, ging hoch und wieder in die Knie, wand dann sein Saxophon mit einem klaren Ruf über das Getobe hinauf. Eine eins achtzig große, hagere Schwarze schüttelte ihre Knochen vor dem Trichter, und er stieß damit nach ihr, -"ii! ii! ii!" Er hatte einen Ton wie ein Nebelhorn; sein Saxophon war umklebt; er war Werftarbeiter, aber das war ihm egal. Alle wippten und brüllten mit. Helen und Julie hatten ihre Biere in den Händen, standen auf ihren Stühlen, schüttelten sich und hüpften. Von der Strasse stolperten und rempelten scharenweise Schwarze herein. "Weiter, mann!", röhrte ein Mann mit Nebelhornstimme und stöhnte so laut, dass es bis Sacramento zu hören gewesen sein muss, ah-haa! "Puh!", machte Neal, er rieb sich die Brust und den Bauch, und der Schweiß spritzte ihm vom Gesicht. Bumm, kick, der Drummer trat seine Drums in den Keller und rollte mit seinen mörderischen Sticks den Beat die Treppe hoch, klapperdibumm! Ein großer Dickwanst sprang auf der Bühne herum, die sich knarrend durchbog.

    Und so wie sie die Musik erleben, so hetzen diese jungen Männer auch mit dem Auto über Land, vor allem Neal Cassady reizt Geschwindigkeit und Thrill bis zum Letzten aus, fährt ein Auto nach dem anderen zu Schrott. Sie brausen – immer irgendwie mit 180 Sachen – durch ein Amerika, das vier, fünf Jahre nach dem Kriegsende erst vor kurzem jenen wirtschaftlichen Aufschwung genommen hat, den Roosevelt mit dem New Deal hatte erreichen wollen. Sie toben durch ein Kalifornien, wo ungefähr gleichzeitig die gerade mal 16-, 17-jährige Susan Sontag als Studentin angekommen ist und ihre ersten lesbischen Freundschaften leben kann. Aber auch durch ein Land, in dem viele Kriegsveteranen nicht mehr in das bürgerliche Leben zurück finden und auf alten Militär-Harleys die ersten Motorrad-Gangs gründen.

    Alle zusammen sind sie die andere Seite des Aufschwungs in den USA nach dem Ende der Kriegswirtschaft. Aber über solche Zusammenhänge erzählt Kerouac eigentlich gar nichts; kaum einmal weitet er den Blick über die Clubs, die Landstraßen und die schäbigen Wohnungen seiner Freunde und Bekannten hinaus. Eine der wenigen Ausnahmen, und das auch nur in wenigen Worten, ist ein Viertel in San Francisco, genannt Marin City:

    Marin City, San Fran
    Marin City (…) war ein Barackenviertel in einem Tal, eine im Krieg für Arbeiter einer Marinewerft erbaute Siedlung; eigentlich war das Ttal ein tiefer Canyon mit dichtbewaldeten Hängen. Für die Bewohner der Siedlung gab es eigene Geschäfte, Frisiersalons und Schneidereien. Es war angeblich die einzige Gemeinde in ganz Amerika, wo Weiße und Schwarze freiwillig zusammenlebten; das stimmte auch, und ein so quietschfideles Viertel habe ich nie wieder gesehen.


    Man kann also allerlei Vorwissen an solche Passagen aus "On the road" herantragen, und dann spürt man, wie eine überalterte Gesellschaftsordnung auseinander zu fallen beginnt, wie sie Risse bekommt und sich neue Möglichkeiten eröffnet. Aber dafür hat Kerouac keine Sprache. Er will nicht als Intellektueller auf die Dinge schauen, er versucht einfach durchzukommen, bemüht sich um Jobs als Drehbuchschreiber und verdingt sich sogar für kurze Zeit und genauso erfolglos um eine Stelle als Polizist. Er ist ein junger Wilder auf der Suche nach Freiräumen. Und lässt sich dabei von amerikanischen Traditionen leiten, die auch schon vorangegangenen Generationen als Leitbilder gedient haben, nicht zuletzt dem schon zitierten Walt Whitman: Vom einfachen Leben unter einfachen Leuten, von den Mythen des weiten Landes.

    Nur: Die einfachen Leute, denen er beispielsweise beim Baumwollpflücken auf den Feldern oder auf den Ladeflächen der LKWS beim Trampen begegnet, müssen dieses einfache Leben auf Dauer durchhalten. Und die amerikanische Literatur kennt ja auch zahllose Schilderungen ihrer Mühsal und ihrer Erniedrigungen. Für den reisenden Tramp und Dichter aber bleibt die Sache unverbindlich, man möchte fast sagen ein Spiel – man muss es dem Dichter nicht vorwerfen, aber es macht einen Unterschied. So momenthaft wie die Begeisterung, so zügig kommt nämlich auch die Ernüchterung. "Ich hatte mit der Arbeit auf dem Baumwollfeld abgeschlossen. Ich spürte, wie es mich in meine altes Leben zurückzog", heißt es dann, und als nächstes schreibt er eine Postkarte an seine Mutter, bittet sie um eine Überweisung von fünfzig Dollar und reist weiter.

    "On the road" ist in jeder Fassung, 1951 genauso wie 1957, vor allem eine Geschichte über die Suche nach Intensität -- doch wie lange lässt sich solche eine Suche aufrechterhalten, wenn sie sich selbst genug sein muss, wenn sie kein anderes Ziel hat, als sich auszuleben? 1951 schreibt Kerouac, Neal Cassady sei das "Fieber", das ihn und seine Freunde immer wieder erfasse, vielleicht ist er auch ein exotisches, homosexuelles Abenteuer, aber ganz gewiss ist er keiner, mit dem lange über den Sinn des Lebens oder den Sinn einer Reise diskutieren kann. Der Roman kennt ihn vor allem als Projektionsfläche für Ausbruchsphantasien, als maskulinen Sexprotz, der sich nimmt, was immer er kriegen kann, und gegen Ende mehr und mehr auch als stammelnden Narren, dessen Freunde von ihm immer weniger halten. Neal Cassady ist sozusagen der Mann für gewisse Eskapaden, aber der Kumpan für den ersehnten exstatischen und erlösenden Schlaf, für die Ruhe am Ende all dieser eiligen Exzesse – das ist er nicht. Das ahnt man schon früh, und jede Episode, die dann folgt, führt einen Schritt weiter weg von den romantischen Fantasien des Aufbruchs.

    Als Pauline mich mit Neal und Louanne sah, verdüsterte sich ihre Miene .. sie spürte den Wahnsinn, mit dem sie mich ansteckten. "Ich mag dich nicht, wenn du mit ihnen zusammen bist." -- "Ach, das ist schon okay, wir sind nur gut drauf. Wir leben nur einmal. Wir amüsieren uns." – "Nein, es ist traurig, und ich mag es nicht." Dann fing Louanne an, mit mir zu flirten; sie sagte, Neal würde sowieso bei Carolyn bleiben, und sie wollte, dass ich mit ihr ging. (...) Aber ich wusste, dass Neal Louanne liebte, und ich wusste auch, dass Louanne es nur darauf anlegte, Pauline eifersüchtig zu machen, und wollte nichts davon wissen. Trotzdem leckte ich mir die Lippen nach dem blonden Knackarsch. Louanne und Pauline waren zwei erstklassige Schönheiten. Als Pauline sah, wie Louanne mich in Ecken schob, mich anmachte und mir Küsse aufdrängte, ließ sie sich von Neal nach draußen in den Wagen locken; sie unterhielten sich aber bloß und tranken den Südstaatenfusel, den ich im Handschuhfach gelassen hatte. Alles geriet durcheinander und alles zerfiel.

    Zur Geschichte von "On the road" gehört, dass der Ruhm den Verfasser und das Buch eigentlich viel zu spät und letztlich wie ein Missverständnis erreicht hat. Denn die Jahre, die zwischen dem Manuskriptstadium und der Veröffentlichung liegen, bedeuteten einen ganz und gar veränderten Kontext für die Lektüre. Was als Roman über die Outcasts der Vierziger geschrieben worden war, wurde als Buch zur Jugendrebellion der Fünfziger gelesen. Ein bisschen ging es Jack Kerouac damit wohl so wie ein paar Jahre später Hermann Hesse mit seinem Roman "Steppenwolf", der auch nicht für jene Hippies geschrieben worden war, von denen er dann glorifiziert wurde.

    Zwar sorgte auch Allen Ginsberg erst 1956 mit seinem Gedicht "Howl" für wirkliches Aufsehen; und William Burroughs’ "Naked Lunch" erschien sogar erst 1959. Dennoch konnte und wollte Jack Kerouac mit seinem Ruhm nur wenig anfangen. Während der Vorbereitungen für die Veröffentlichung, also in der jahrelangen Phase der Verhandlungen mit Lektoren, während des Umschreibens und Einkürzens hatte die Zeitschrift "Paris Review" zwar ein Kapitel abgedruckt; und weitere Passagen waren in einer Anthologie der "Best American Short Stories 1956" erschienen, aber keines der Bücher, an denen er sonst noch in diesen Jahren schrieb, konnte vor der Veröffentlichung von "On the road" erscheinen. Aber als er dann berühmt geworden war, empfand er das Interesse an seinem Buch nur als formelhaft und wenig ernsthaft; also floh er vor seinem eigenen Erfolg.

    Er floh zum Alkohol und in unscheinbare Orte auf Long Island; er lebte mit seiner Mutter an wechselnden Wohnsitzen; er wurde zum Propheten der Gegenkultur erhoben und nicht nur von Bob Dylan als literarisches Vorbild erwählt – aber er füllte die Rolle nicht aus, und er erreichte auch mit keinem seiner weiteren Bücher jemals wieder eine vergleichbare Resonanz. Unter seinen Nachbarn wusste man wohl, dass er ein Schriftsteller war, aber er selbst sprach nicht darüber. Man sah ihn angeblich in schäbiger Kleidung und barfuss über die Straßen schlurfen, man sah ihn viel zu oft betrunken. Es scheint, dass er nur ein einfacher Mensch unter anderen einfachen Menschen sein wollte – aber wie sollte das gehen?

    In "On the road" hatte er die Antwort auf dieses Dilemma schon lange zuvor gegeben – in der jetzt erhältlichen "Urfassung" des Romans kann man sie ebenfalls nachlesen. Ein bisschen wüster, ein bisschen ungebärdiger, aber im Prinzip nicht viel anders. Diese "Urfassung" gibt also einer mythischen Geschichte ab sofort eine für jedermann greifbare und lesbare Gestalt, abgesichert und abgerundet durch eine Überfülle an Nachworten. Mehr nicht, aber auch nicht weniger.

    Jack Kerouac: On the road. Die Urfassung. Aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach, mit mehreren Nachworten, Rowohlt Verlag, Reinbek 2010, 576 Seiten, 24,95 Euro