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Was Zeitgenossen wissen müssen

Köhler: Was ist heute wissenswerter: die Mannschaftsaufstellung des AC Milan zu kennen oder doch Adorno?

Christian Seiler im Gespräch |
    Seiler: Nein, beide Einträge sind ja tatsächlich in diesem Heft, aber zum Beispiel über die Verflechtungen des AC Milan in die italienische Politik und über Fußball als Promotioninstrument des derzeitigen italienischen Ministerpräsidenten in ein paar Zeilen was zu erfahren, das erscheint mir tatsächlich wissenswert.

    Köhler: Man darf nicht den Fehler machen, das Eine gegen das Andere ausspielen zu wollen.

    Seiler: So ist es.

    Köhler: Sie haben wunderschöne Seiten teilweise drin, da gibt es mal eine ganze Seite über die Starmahlzeit, also was Prominente essen, dass, was weiß ich, Cindy Crawford irgendwie gebackenen Fisch mit Gemüse auf Reis und irgendwelche anderen nur lieber Sushi essen. Dann gibt es aber auch eine ganze Seite über Tiere des 20. Jahrhunderts, und da findet sich die Milkakuh, die den Mond anbellt, genauso wie Mecki von Steiff oder auch die Genmaus. Das ist ein recht intellektuell-spielerischer Umgang mit der Idee der Enzyklopädie, nicht wahr?

    Seiler: Ja. Es ist eine große Herausforderung für uns gewesen, diese Aufgabe tatsächlich zu realisieren. Ich erzähle Ihnen da vielleicht ein bisschen was über die Geschichte, weil sie auch ein bisschen ein Spiegelbild der derzeitigen Eigentümersituation von "du", also den Umständen, unter denen wir im Moment erscheinen, Auskunft gibt. Wir haben für diese Septembernummer einen Relaunch geplant. In die Vorbreitungen dieser Blattumgestaltung ist die Nachricht geplatzt, dass die Tamedia das Heft verkaufen wird. Das mag ich jetzt nur in Klammern dazu anmerken, nächste Woche wird klar sein, wohin. Ich kann auch andeuten, dass es für uns, für die Neukonzeption des Heftes und für diese Redaktion zu einem guten, möglicherweise sogar zu einem sehr guten Ende kommen wird. Mehr kann ich dazu im Moment noch nicht sagen. Aber da haben wir angefangen, Themen zu sammeln für ein Relaunchheft, und die Idee des Lexikons ist da schon rumgespukt. Dann ist diese Idee gewachsen. Sie können sich vorstellen, dass unglaublich viele Arbeitsstunden in diesem Heft drin stecken. Also die Redaktion hat in Vollbesetzung sicher 100 bis 150 Sitzungsstunden zurückgelegt, bis man mal einen Rohbau dieses Heftes hatte, also bis man wusste, welche Begriffe möchte man da drin haben, welche nicht, welche Autoren könnten zu welchen Begriffen etwas Verbindliches sagen. Und dann ging´s natürlich an die Finalisierungsarbeit und an die optische Umsetzung. Aber es ist ein Heft geworden, das sowieso alle bisherigen Grenzen von "du" gesprengt hat. Es ist ungefähr der vierfache Textumfang einer normalen Nummer.

    Köhler: Ist das denn auch das Prinzip für die kommenden, also weil Sie jetzt vom Unfang sprachen?

    Seiler: Dieser Aufwand wird sich natürlich nicht durchhalten lassen und auch die Fokussierung auf ein einziges Thema wird nicht in dieser Konsequenz als wünschenswert erachtet werden von uns, sondern wir werden eine Kulturzeitschrift machen, die diesen Namen "Zeitschrift" auch verdient. Diese Sonderausgabe ist ja jetzt wirklich etwas vom Buchnächsten, was wir überhaupt je gemacht haben in der "du"-Geschichte. Also, das ist sicher eine Aufgabe, die man abgekoppelt vom Monat des Erscheinens sich lang aufheben kann und lang benützen kann, die wird so ein bisschen ein Zeitzeugnis werden über das Jahr 2003.

    Köhler: Herr Seiler, Enzyklopädien, die entstanden im 18. Jahrhundert als Aufklärungsprojekt, als Bücher der Weltweisheit und der Handwerke. Es ging damals noch bei den Enzyklopädien um Bildungsgleichheit, Bildungschancen, Zugang zu Bildung und das Ideal der Konversationsgesellschaft, dass Menschen miteinander ins Gespräch kamen. Heute haben wir das Ideal einer informierten Gesellschaft. Da ist es wichtiger zu wissen, wir sprachen schon drüber, wer der AC Milan ist oder wie hoch die Ablösesumme für Giovane Elber von Bayern München war. Sie reflektieren das, indem Sie zum Beispiel Begriffe aufnehmen nicht nur wie "Hegemonialmacht" oder "Herrensandale", sondern auch "Halbbildung". Meine Frage: Verschärfen Sie aber nicht das Problem der Halbbildung dadurch?

    Seiler: Wenn Sie den Artikel über Halbbildung gelesen haben, sehen Sie, dass dieser Begriff einfach vor all dem Wissenswerten, was es momentan auf der Welt gibt, kapituliert. Es gibt keine Universalbildung mehr, und eine gehobene Form der Halbbildung ist sowieso das Ideal, das wir anstreben müssen. Universell gebildete Menschen sind heute nicht mehr möglich, das wissen Sie so gut wie ich. Dieses Heft geht natürlich mit dem Anspruch, alles Wissenswerte zwischen zwei Deckeln zu versammeln, spielerisch um. Ich habe das auch in meinem Editorial gleich am Anfang geschrieben. Es ist eine riesige Anmaßung, dass wir da drauf schreiben, was Zeitgenossen wissen müssen von A bis Z, weil es natürlich bis zu einem gewissen Grad Vollständigkeit suggeriert, aber es ist natürlich alles andere als vollständig. Aber es ist ein spielerischer Umgang mit dem Thema, das die Enzyklopädie im 18. Jahrhundert vorgegeben hat. Sie werden sehr, sehr viele Beiträge in diesem Heft finden, die es ernst meinen mit dem Leser. Also, Sie werden aus der Naturwissenschaft, aus Wissenschaft und Technik einige Dinge erfahren, die Sie bis jetzt möglicherweise nicht gewusst haben, genauso aus Philosophie und aus Geschichte, aber eben auch aus dem Alltag und aus der Gegenwartskultur. Ich würde sagen, dass dieses Heft gar nicht so auf die Oberflächlichkeiten des täglichen Lebens fokussiert ist, wie es der Titel vielleicht verspricht, aber es ist ein durch und durch lesenswerte Heft und ich sage allen Menschen, die mich drauf ansprechen, dass der Effekt dieses Heftes sicher der ist, dass man ein bisschen schärfer sieht, wenn man die 302 Einträge von vorn nach hinten gelesen hat, weil man sehr, sehr viel Wissenswerte erfährt. Das, was vielleicht einen Unterschied zu früheren "du"-Ausgaben ausmacht, ist, dass man dabei auch ein paar Mal gelacht hat.

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