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Wegbereiter der Modernen Kunst

Der Aragoneser Künstler Francisco de Goya gilt als der große Vorläufer der Moderne. Nun haben zwei Kunsthistoriker - der Rumäne Victor Stoichita und die Katalanin Anna Maria Coderch - die Vorläuferrolle Goyas eingehender untersucht und ein komplexes Bild des Künstlers an der Schwelle zur Moderne entworfen.

Von Klaus Englert |
    Als Werner Hofmann 1980 die vielgerühmte Goya-Schau organisierte, waren sich die Experten einig: Der Aragoneser Künstler aus dem kleinen Fuendetodos war der große Vorläufer der Moderne. Francisco de Goya war eine völlig singuläre Gestalt. Deutliche Einflüsse hatte er weder aus Spanien noch aus dem revolutionären Frankreich erfahren. Nachdem Goya schließlich im 19. Jahrhundert von Manet entdeckt wurde, übte er eine nachhaltige Wirkung auf die folgenden Künstlergenerationen aus.

    Nun haben zwei Kunsthistoriker - der Rumäne Victor Stoichita und die Katalanin Anna Maria Coderch - die Vorläuferrolle Goyas eingehender untersucht und ein komplexes Bild des Künstlers an der Schwelle zur Moderne entworfen. Das zunächst in England publizierte Buch ist jetzt im Fink-Verlag unter dem Titel "Goya. Der letzte Karneval" erschienen. Victor Stoichita, der an der Université de Fribourg lehrt, über die einzigartige Künstlerpersönlichkeit Goyas:

    " Goya ist schwierig zu integrieren in eine klare Evolution: Renaissance, Manierismus, Barock, Post-Barock oder Rokkoko oder was weiß ich. Er ist schon etwas anderes. Eine sehr komplexe Gestalt mit vielen Elementen eines modernen Denkens."

    Stoichita erzählt von der Italienreise des 24-jährigen Spaniers. Anscheinend war der junge Goya an den antiken Vorbildern, die Generationen anderer Künstler anzog, nur wenig interessiert. Doch in Rom machte er eine Ausnahme. Ausgerechnet der Torso von Belvedere hatte es ihm angetan. Von ihm fertigte er eine Zeichnung an, die sehr gefühlvoll die einzelnen Körperlinien hervorhebt. Stoichita über das außergewöhnliche Skizzenbuch, das erst vor wenigen Jahren entdeckt wurde:

    " Das ist ein sehr interessantes Dokument, weil man kann doch sehen, was Goya sich in Italien angeschaut hat: Was hat er nachgezeichnet? (...) Das ist ein Heftlein, (...) eigentlich nicht als Dokument eines jungen Malers, der nach Italien geht mit dem Italien-Mythos oder mit dem Mythos der Antike."

    Viele zeitgenössische Künstler orientierten sich an den französischen Vorbildern Ingres und David. Anders Goya. Er empfand die Maler des Aufklärungszeitalters zu flach, zu schön. Sie verkörpern allzu sehr das klassische Formenideal. Goyas Zeichnung des Belvedere-Torsos offenbart seine Vorliebe für das Körperliche und Deformierte. Stoichita beweist überzeugend, dass in den "Desastres de la Guerra" das Torso-Motiv wieder auftaucht. Ebenso Goyas Leitthemen: Die Herabwürdigung des menschlichen Körpers, das Hässliche und Verdrehte:

    " Es gibt eine gewisse Tradition, die europäisch ist. Die das Irrationale, das Groteske, das Hässliche verwirklichen und die ist die Tradition (...) von Bosch oder Breughel (...). Und gegenüber dieser Tradition war Goya sehr, sehr empfindlich (...) Diese Linie ist vielleicht wichtiger als die klassisch-Renaissance-rationalistische Linie, die dann bis zu David führt."

    Francisco de Goya y Lucientes - einerseits Vorläufer der Moderne, andererseits Erbe der mittelalterlichen Groteske? Victor Stoichita behauptet völlig zu Recht, dass Goya eine sehr zweideutige Künstlerfigur ist. Ihn tout court zum Vorläufer der Moderne zu erklären, würde bedeuten, die rituellen Praktiken des traditionellen Spanien, die in seinen Bildern fast allgegenwärtig sind, zu übersehen:

    " Goya ist eine Gestalt, die nicht einfach zu definieren ist. Ideologisch-politisch zuerst. Man wird nie genau wissen, was die Stellungnahme von Goya war gegenüber der Monarchie, gegenüber Napoleon, gegenüber der Französischen Revolution (...). Sein Verhältnis zur Religion ist auch doppeldeutig. Man muss nicht vergessen, dass er ein Aragonese war. (...) Die Virgen del Pilar war, ist noch ein Idol von Zaragoza - ein Werk, das man noch heutzutage verehrt. Es ist nicht zu verwundern, dass Goya irgendwie ein Verhältnis zu diesem traditionellen Wunderbild gehabt hat. Nun, es ist auch klar, die Anfänge von Goya stehen innerhalb eines religiösen Auftraggebers in Zaragoza (...). Dann kommt er nach Madrid. In Madrid hat er Kontakt zu dem aufklärerischen Milieu, die sogenannten afrancesados, die Intellektuellen wie Jovellanos, die nach Frankreich orientiert waren, die neue Ideen, die letztendlich zur Französischen Revolution (...) geführt haben, assimiliert haben."

    Warum aber heißt das Gemeinschaftswerk von Stoichita und Coderch "Goya. Der letzte Karneval"? Nun, der Titel verweist ausdrücklich auf den römischen Karneval von 1788, den Goethe - ein Zeitgenosse Goyas - in seinem Bericht über die "Italienische Reise" beschrieb. In seinen Reisenotizen heißt es, er habe auf den Straßen einen "Taumel des Wahnsinns" miterlebt, eine aufgewühlte Menschenmenge, die ausnahmslos maskiert gewesen sei. Stoichita und Coderch setzen den Schilderungen Goethes die Beschreibungen von Madame de Staël entgegen, die in das römische Karnevalstreiben einige Jahre später - im Jahre 1805 - geriet. Von den früheren Ausschweifungen ist plötzlich nur noch ein blasser Abglanz geblieben. Dafür gibt es einen einfachen Grund: 1789 war die Französische Revolution, die mit ihrem Aufklärungspathos die karnevalistischen Exzesse zurückdrängte. Der jakobinische Aufklärungsfuror bewirkte, dass der Karneval als potentielle Bedrohung empfunden wurde. Bereits ein Jahr später erließ das revolutionäre Direktorium ein Karnevalsverbot, das allerdings nur unwillig befolgt wurde. Plötzlich waren Maskierungen strikt untersagt, und Männern, die sich weiterhin mit Frauenkleidern schmückten, drohte die Todesstrafe.

    Bereits Werner Hofmann verfolgte bei Goya die Motive des Rollentauschs, des Maskierens und Demaskierens, des Verkleidens und Enthüllens. Stoichita und Coderch gehen einen Schritt weiter: Sie deuten die bildnerische Kunst Goyas als "Verkarnevalisierung der Welt" (25): Als Einfall von Ausschweifung, Umkehrung, Kostümierung und Freude in die alltägliche Welt:

    " Innerhalb der Kultur des Karnevalesken spielt das Groteske eine sehr wichtige Rolle. (...) Eher in der Repräsentation des Körpers. Der karnevaleske Körper ist nicht der schöne Körper der klassischen Kultur, sondern ein grotesker Körper. Das Hässliche, die Umkehrung, ideologisch, aber auch ästhetisch gemeint, spielen eine große Rolle in dieser Kultur. (...) Ein zweites Problem war die Tatsache, dass (...) die Kultur des Karnevals - also die (...) Gegenkultur, mit Groteske, mit Hässlichkeit, mit Umkehrung der Welt - eine mittelalterliche Renaissance-Kultur war und dass diese Kultur im 18. Jahrhundert am Ende ist."

    Victor Stoichita hat sich auch mit den Vorläufern Francisco de Goyas auseinandergesetzt, mit den visionären Malern des spanischen Barock. Auf unterschiedliche Weise wurden sie alle von den Wächtern der reinen katholischen Lehre misstrauisch beäugt: Goya, weil er die religiösen Motive radikal verweltlichte, Zurbarán und seine Mitstreiter, weil es ihnen um die Innenschau in der religiösen Ekstase ging:

    " In dem vorigen Buch, dem Buch über spanische Mystik, dem Verhältnis von spanischer Barockmalerei und spanischer Mystik, war meine Hauptfrage (...), was die Grenze der Darstellbarkeit betrifft. In diesem Buch (...) 'Das mystische Auge‘ stellte ich mir die Frage: Wie haben (...) die spanischen Maler das visionäre Erlebnis dargestellt? Um genauer zu sein: Welche Strategien haben sie beherrscht, um gleichzeitig im selben Gemälde eine ekstatische Person, einen Heiligen, einen Mystiker darzustellen und was er sieht. Insbesondere weil das, was diese Person sah, eine innerliche Schau war, etwas, was schwierig zu kommunizieren war, deshalb schwierig darzustellen. (...) Ich war von dem Thema der Undarstellbarkeit (...) in der klassischen Mystik betroffen. Das ist ein Topos: 'Was ich sah, kann ich nicht beschreiben‘. (...) Die Hauptfrage war: Wie kann man das sichtbar machen? Wie kann die Malerei mit einem solchen Grenzphänomen umgehen? (...) Das ist schon ganz verschieden von Goya, aber vielleicht eine Vorbereitung zu einem anderen Grenzphänomen 'Goya mit seiner eigenen Welt'."

    Victor I. Stoichita und Anna Maria Coderch: Goya. Der letzte Karneval
    Wilhelm Fink Verlag, aus dem Französischen von Ruth Herzmann
    München 2006, 371 S., 39,90Euro

    Victor Stoichita: Das mystische Auge. Vision und Malerei im Spanien des Goldenen Zeitalters
    Fink 1997, 44,90Euro

    Werner Hofmann: Goya. Vom Himmel durch die Welt zur Hölle
    C.H. Beck, München 2005 (Sonderausgabe)
    336 S., 39,90Euro