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"Wegen Überfüllung geschlossen"

Juni 1952. In einer feierlichen Veranstaltung wird am Blücherplatz im Bezirk Kreuzberg, nahe der ehemaligen Sektorengrenze, der Grundstein gelegt. Amerikanische Spenden haben den Bau ermöglicht, und als Zeichen der neuen deutsch-amerikanischen Freundschaft wird die Bibliothek "Amerika-Gedenk-Bibliothek" getauft. Kein Geringerer als der amerikanische Außenminister Dean Etcheson ist zum Festakt nach Berlin gereist. Der Sender RIAS war damals live dabei:

Von Joachim Scholl |
    Der amerikanische Außenminister wird jetzt an den Grundstein geleitet und führt die historischen Hammerschläge aus... "May this building be the enduring symbol between the enduring friendship between the American and German people..." Möge dieses Gebäude ein dauerhaftes Symbol für die dauerhafte Freundschaft zwischen dem amerikanischen und deutschen Volke sein.

    Zwei Jahre später wird die AGB, wie man sie bald nur noch nennt, eröffnet - mit einem erneuten Festakt, an dem 300 Ehrengäste teilnehmen. Doch auch das Publikum darf die Bibliothek gleich benutzen, und so liest man schon am ersten Tag, dem 17. September 1954, am Eingang jenes Schild, das in den folgenden Jahren dort regelmäßig hängen wird: wegen Überfüllung geschlossen. Der Ort, der Blücherplatz, ist mit Bedacht ausgesucht: Die Bibliothek soll für alle Berliner da sein, gerade auch für die Bürger im Ostteil der Stadt, und sie nehmen diese Möglichkeit reichlich in Anspruch, wie der erste Direktor der AGB, Fritz Moser, erläutert:

    Wir haben natürlich viele Besucher aus dem Ost-Sektor, die sich hier völlig frei bewegen können, und auch das zu lesen bekommen, was ihnen drüben verschlossen bleibt. Dafür sind wir besonders dankbar, und deshalb ist ja auch dieser Standort gewählt worden, wie Sie wissen.

    Kaum zwei Jahre nach der Eröffnung wird schon Jubiläum gefeiert, im Februar 1956 verzeichnet man die einmillionste Ausleihe. Was macht die Amerika-Gedenk-Bibliothek so beliebt? Direktor Moser erklärt es stolz:

    Wir haben hier an Fachliteratur durchschnittlich genauso viel ausgeliehen wie auf den anderen Gebieten, der schönen Literatur zum Beispiel, und der Literatur, die wir als Leser-Anregungsbücher bezeichnen, die nach Leser-Interessen geordnet sind, nicht streng systematisch, sondern in gewisse Gebiete einführen wollen. Wir haben also täglich hier etwa 2300 Besucher im Haus, das ist eine Zahl, die man nirgendwo in Deutschland oder Europa finden kann.

    Und diese Besucherzahl wird mit den Jahren und Jahrzehnten stetig steigen, sich schließlich verdoppeln. Das Geheimnis des Erfolges ist das angelsächsische Prinzip der "Public Library": ein großer Freihandbereich, der für jeden Besucher direkt zugänglich ist. Mit dem Fall der Mauer konnte die Bibliothek ihre alte Funktion wieder erfüllen: eine Bibliothek für ganz Berlin zu sein. Und die Ost-Berliner kamen – allein im Jahr 1990 meldeten sich 45.000 Benutzer neu an, und so manch herzergreifende Szene war zu beobachten, wie sich die damalige Leiterin, Charlotta Pawlowsky-Flodell, erinnert:

    Es kamen unglaublich viele, Hunderte von Neu-Anmeldungen pro Tag, lustige Erlebnisse zuhauf. Es gab ehemalige Benutzer, die jetzt 30, 40 Jahre lang hier nicht rüber konnten, und die dann mit ihren damals ausgeliehenen Büchern kamen und sie zurückgebracht haben, also, das war wirklich rührend.

    1995 fusionierte die AGB mit der Berliner Stadtbibliothek zur Zentral- und Landesbibliothek Berlin. Heute sind die beiden Häuser in Kreuzberg und im Stadtteil Mitte hochmoderne Zentren innerhalb der riesigen Berliner Bibliothekslandschaft, mit 2,5 Millionen Büchern und elektronischen Medien, Internetzugang, Datenbanken, PC-Arbeitsplätzen und Recherche-Terminals. 1,4 Millionen Besucher werden jährlich verzeichnet. Dennoch schafft die Aufteilung in zwei Standorte auch Probleme, und die Zukunft wird vermutlich nicht mehr in Kreuzberg, sondern auf dem prominenten Schlossplatz liegen. So lautet zumindest der ehrgeizige Plan, erklärt die derzeitige Direktorin vom Blücherplatz, Christine-Dorothea Sauer.

    Die Entwicklung der Zentral- und Landesbibliothek muss jetzt in die Richtung eines gemeinsamen Hauses gehen, weil sehr viele Arbeitsvorgänge und auch die Irritation der Benutzer einfach darauf beruht, dass wir zwei Häuser haben mit unterschiedlicher Fächerprofilierung, das muss zusammen, und eine Bibliothek in dieser Größenordnung, die wir dann darstellen, an einem Ort, wird ein Magnet, ein solcher Publikums-Magnet, das wird – da bin ich mir sicher - eine noch größere Erfolgsstory als die Amerika-Gedenk-Bibliothek.