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Wein, Weib, Akkordeonmusik

Das städtische Theater in Freiburg feiert seinen 100. Geburtstag und zwar größtenteils auswärts - im Proletarierstadtteil Haslach. Von Laubenpieperkolonie bis Seniorentanz ist alles dabei.

Von Christian Gampert |
    Was sich hier so gemütlich nach Akkordeonklub und Heimatabend anhört, ist in Wahrheit eine Grenzüberschreitung. Wir befinden uns in der Freiburger Gartenstadt, in einem jener Häuschen, die vor dem Ersten Weltkrieg für die Arbeiter gebaut wurden, Obst und Gemüse gleich vor der Haustür. Drei ältere Damen sitzen in einem mit Schwarzwälder Nippes vollgestellten Wohnzimmer und spielen die Lieder ihres Herzens – für uns, eine Gruppe von sechs Theaterbesuchern, die vom Theater Freiburg auf Erkundungstour durch den Proletarierstadtteil Haslach geschickt wurde.

    Es werden an diesem Nachmittag noch zahlreiche andere Gruppen in diesem Wohnzimmer haltmachen, die alle mit Wein und Musik bewirtet werden. Nach drei Stunden Haslach habe ich folgende Bilanz vorzuweisen: Gang durch einen verwilderten Garten, wo Gras aus surrealen Menschenpuppen wuchs und im Geräteschuppen ein Zombie rumorte wie im Horrorfilm; Besteigung eines Hochhauses nebst Aufklärung über die Zukunft des (zu unseren Füßen liegenden) Gutleut-Laubenpieper-Viertels, das demnächst bebaut werden soll; Rockn-Roll-Tanzen mit einem Stadtteil-Senioren-Club; Tai-Chi auf einem Kinderspielplatz; Besuch eines Altersheims, wo der frühere Ringer-Weltmeister Adolf Seger ein paar Griff-Varianten vorführte. Eine Akteurin der Freiburger Tanztheater-Compagnie "pvc" saß in einem Baumhaus und umtanzte sehnsuchtsvoll den kahlen Stamm, und im Wohnzimmer einer türkischen Familie stand ein Sänger des Opernensembles im Matrosenoutfit und schmetterte das Lied von den Caprifischern.

    Das Freiburger Theater geht seit Jahren (!) in die unterprivilegierten Stadtteile – weniger, um die Bewohner zum Theaterbesuch zu animieren, sondern um eine Gemeinsamkeit herzustellen. Es sind vor allem Arbeiter und Migranten, Jugendliche und Alte, die hier eine gänzlich unerwartete Aufmerksamkeit erfahren, und der durchgeschleuste Theaterbesucher findet sich plötzlich an Orten wieder, die er sonst tunlichst meidet, an Bahndämmen und Schrottplätzen zum Beispiel.

    An einer Bahnstation spielt auch der erste Teil von Dürrenmatts "Der Besuch der alten Dame", und es ist eine Tragik, dass die Freiburger zu ihrem 100. Theaterjubiläum ausgerechnet diese unterirdische Inszenierung von Christoph Frick ins große Schaufenster stellen – als wollten sie sich die ganze Feier vermasseln. Natürlich bietet das dramaturgisch altbackene Stück jede Menge Anknüpfungspunkte an Gemeinderatspolitik und Leben auf Pump, Staatsverschuldung und Korruption. Ob man das allerdings mit so viel Gebrüll aufführen muss wie in Freiburg, ist sehr die Frage.

    Die Polizei wird den von der Volksmeute gehetzten Alfred Ill natürlich überhaupt nicht schützen, er wird in Freiburg auf obszöne Weise massakriert. Die heimgekehrte Claire Zachanassian bietet ja ziemlich viel Geld für die Suspendierung moralischer Maßstäbe.

    Fricks Inszenierung besteht zum großen Teil aus lokalen Anspielungen, Medienparodie und Politikerphrasen mit begrenztem Unterhaltungswert. Wie bei Shakespeare sind nur Männer auf der Bühne. Die reiche Claire Zachanassian ist in Freiburg ein Transvestit und wird von einem Mann gespielt; das ist kurzzeitig ganz witzig, aber man fragt sich dann schon, wie dieser Transvestit von seinem schwulen Lover einst ein Kind bekam und warum er einen Vaterschaftsprozess führte.

    Aber Biopolitik ist derzeit ja ein großes Thema des Freiburger Theaters, das sich in zwei Aufführungen mit Hirnforschung und Demenz, Reproduktionstechnologie und der Antiquiertheit des Menschen beschäftigte. Theater als Universitätslabor? Das ist vielleicht doch eine Überforderung. Und wenn das Theater in zahlreichen Vorträgen nun die Frage stellt, wie wir in Zukunft leben wollen, dann bietet sich nach diesem Wochenende die ganz altmodische Antwort an: wie die Haslacher Arbeiter und Migranten vielleicht, mit Wein, Weib, Akkordeonmusik und vielleicht auch mit Gesang.

    Infos:

    Theater Freiburg