Auf eine Bodenoffensive deutete zuletzt der Aufruf der israelischen Armee hin, dass palästinensische Bewohnerinnen und Bewohner den nördlichen Gazastreifen in Richtung Süden verlassen sollen. Eine Evakuierung würde bedeuten, dass rund die Hälfte der Bevölkerung des nur 40 Kilometer langen Küstenstreifens sich in den Süden begeben müsste. Der Gazastreifen gehört mit seinen 2,3 Millionen Einwohnern zu den am dichtesten besiedelten Regionen der Welt.
Bodenoffensive "unvermeidlich"?
Bereits am Vortag hatten sich die Hinweise auf einen möglichen Einmarsch der israelischen Armee in den Gazastreifen verdichtet. Die Nachrichtenagentur Reuters zitierte eine Quelle aus israelischen Sicherheitskreisen, die eine Bodenoffensive "unvermeidlich" nannte. Diese sei "wegen des hohen Preises, den wir gezahlt haben, nicht zu verhindern."
Zu einer ähnlichen Einschätzung kam auch der Leiter der Politikabteilung der Universität Bar Ilan bei Tel Aviv, Jonathan Rynhold: "Dies ist ein ganz entscheidender Moment für Israels Abschreckung", sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Israel müsse "sehr, sehr hart gegen die Hamas vorgehen - sonst wird es mehr solcher Attacken auf das Land geben, und nicht nur aus Gaza, sondern auch von anderswo".
Welche Folgen hätte eine Evakuierung?
Scharfe Kritik am israelischen Evakuierungsaufruf kam vom Untergeneralsekretär der UNO für humanitäre Angelegenheiten, Griffiths. Eine solche Aktion sei völlig unrealistisch, erklärte er am Freitag sinngemäß auf X, früher Twitter. "Wie sollen sich 1,1 Millionen Menschen in weniger als 24 Stunden über eine dicht besiedelte Kriegszone fortbewegen?", fragte Griffiths, der zugleich UN-Nothilfekoordinator ist. "Die Schlinge um die Zivilbevölkerung in Gaza zieht sich zu", beklagt er.
In einer Erklärung der UNO heißt es, es sei unmöglich, "dass eine solche Bewegung ohne verheerende humanitäre Folgen stattfinden kann". Die Vereinten Nationen appellierten nachdrücklich, den Aufruf zurückzunehmen. Damit könne man noch verhindern, dass sich die ohnehin schon tragische Situation zu einer katastrophalen entwickle. Der Aufruf des israelischen Militärs gelte im übrigen auch für alle UN-Mitarbeiter und diejenigen, die in UN-Einrichtungen wie Schulen, Gesundheitszentren und Kliniken untergebracht seien.
Ein Sprecher der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wies in Genf darauf hin, dass die Verlegung von schwer kranken und schwer verletzten Patienten aus dem nördlichen Gazastreifen unmöglich sei. "Solche Menschen zu transportieren, kommt einem Todesurteil gleich", warnte ein Sprecher.
Augenzeugen im Gazastreifen berichteten auch von Panik unter der Bevölkerung. Menschen sind in Autos, auf Lastwagen, mit Eselskarren und zu Fuß auf der einzigen Hauptstraße des Gazastreifens Richtung Süden auf der Flucht. Ein Hamas-Sprecher rief die Bewohner auf, in ihren Orten zu bleiben. Laut Augenzeugenberichten hinderten Hamas-Kämpfer Zivilisten daran, das Gebiet zu verlassen.
Welche Risiken birgt ein Einmarsch für Israel?
Die letzte große Bodenoffensive Israels im Gazastreifen hatte Mitte Juli 2014 begonnen - zehn Tage nach Beginn massiver Luftangriffe. Der bewaffnete Konflikt dauerte insgesamt fast zwei Monate. Damals war das Ziel nicht die komplette Zerstörung der Hamas, sondern vor allem deren unterirdischen Tunnelsystems, das auch Angriffen auf Israel diente. Von Ägypten aus verlaufen unzählige Tunnel unter der Grenze zum Gazastreifen. Das israelische Militär spricht von "Gaza-Metro". Das Tunnelsystem ermöglicht der Hamas ein schnelles Auf- und Untertauchen. Zudem wird davon ausgegangen, dass die Tunnel auch zum Schmuggeln von Waffen benutzt werden.
Die Hamas verfügte nach israelischen Schätzungen vor dem Angriff auf Israel über rund 30.000 Kämpfer. Rund 1.500 Mitglieder der sogenannten Nakba-Einheit sind nach israelischen Angaben bei der Attacke in Israel getötet worden, Hunderte weitere in Gefangenschaft. Gegenüber 2014 soll die Hamas nun besser ausgerüstet sein, unter anderem durch die Unterstützung aus dem Iran.
Israel hat zwar eine viel größere Armee, doch in den engen Gassen des Gazastreifens könnte die Hamas in einem Straßenkampf ihre Ortskenntnisse gegen das israelische Militär ausspielen. "Der Häuserkampf gehört mit zu den schwierigsten und kompliziertesten Operationsarten", sagte Militärexperte Carlo Masala den Funke-Zeitungen. Für beide Seiten und auch die Zivilbevölkerung dürfte es sehr blutig werden. Masala ist Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München.
Was passiert mit den Geiseln in Gaza?
Zum Dilemma der israelischen Armee gehört, dass eine Bodenoffensive auch das Leben der rund 150 Geiseln gefährden würde, die von der Hamas nach ihren Angriffen in den Gazastreifen verschleppt wurden. Die meisten von ihnen sind Zivilisten, darunter auch fünf deutsche Staatsbürger. Aber auch Soldaten befinden sich in der Gewalt der Hamas. Die Hamas könnte während einer Bodenoffensive weitere Soldaten entführen, um diese bei künftigen Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch als Druckmittel zu verwenden. Laut Hamas wurden bei israelischen Luftangriffen auch 13 Geiseln aus Israel getötet. Unabhängig überprüfen ließ sich dies nicht.
Weiterführende Informationen
In unserem Newsblog zum Angriff auf Israel finden Sie einen Überblick über die jüngsten Entwicklungen.
Diese Nachricht wurde am 13.10.2023 im Programm Deutschlandfunk gesendet.