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Welche Therapien Ärzte empfehlen

Der Goldstandard in der Medizin heißt: Langes Überleben - auch zum Preis von Nebenwirkungen. Viele Ärzte bevorzugen für sich selbst dagegen eher ein kürzeres Leben, das dafür frei von Nebenwirkungen ist. Zu diesem Schluss kommt eine US-Studie.

Von Anna-Lena Dohrmann |
    "Halbgötter in Weiß" - so werden Ärzte gerne mit einem Augenzwinkern genannt. Dieser Ausdruck spiegelt Respekt und Unbehagen zugleich: Viele Menschen suchen zwar den Rat der Experten, haben aber Schwierigkeiten die Empfehlung zu beurteilen - so auch Passanten der Leipziger Innenstadt:

    "Ich bin ihm ja ausgeliefert. Und dann vertraue ich an und für sich auf das, was der mir empfiehlt."
    "Also ich würde eine zweite Meinung einholen, wenn nicht sogar noch eine dritte."
    "Mein großes Problem ist eigentlich, dass ein Arzt mir Therapien empfiehlt, um nur Geld zu verdienen. Also das Gefühl habe ich oft."

    Eine aktuelle Studie scheint den Zweifel am Arzt zu fördern: Knapp 15 Prozent der Mediziner empfehlen ihren Patienten eine Therapie, die sie für sich selbst nicht wählen würden. In der Studie standen zwei Therapieoptionen zur Verfügung. Entweder: Langes Überleben mit dem Risiko von erheblichen Nebenwirkungen. Oder: Ein kürzeres Leben - dafür aber keine unerwünschten Nebenwirkungen. Für sich selbst wählten die Ärzte häufiger das kurze Leben. Doch warum raten Sie Ihren Patienten zu der anderen Therapie?

    Professor Elmar Brähler leitet die Abteilung für Medizinische Psychologie an der Universität Leipzig:

    "Die Ärzte überlegen, was wollen die Patienten: Wollen die lange überleben? Und sind sie nicht verpflichtet, ihnen langes Überleben zu gewährleisten? Die Ärzte gehen, glaube ich, davon aus, dass die Patienten möglichst langes Überleben haben wollen. Also das ist eine vermutete Entscheidungsfindung bei den Patienten."

    Sobald der Arzt eine Empfehlung abgibt, verändert er also seine Position. Er ist dann der Experte, der einen möglichst objektiven Vorschlag abgibt. Und der Goldstandard in der Medizin heißt: Langes Überleben. Nur warum gilt das nicht für den Arzt selbst?

    "Ärzte haben ja auch mehr Wissen und sie haben schon viel mehr gesehen und sie haben auch schon schlechte Beispiele gesehen. Und das ist eine alte Erfahrung, dass Ärzte für sich und für ihre Angehörigen oftmals zurückhaltender sind mit dem Ausreizen von therapeutischen Maßnahmen."

    Doch diese Zurückhaltung entspricht eben nicht den Leitlinien der Schulmedizin. Dr. Matthias Freutsmiedl ist Facharzt für Allgemeinmedizin. Er weiß, wie schwierig es ist, Patienten zu beraten:

    "Ab dem Moment, wo man sich auf eine individuelle Lösung einlässt, ist man natürlich ein Stück weit angreifbarer. Es ist allgemein bekannt, dass auch viele Patienten durchaus klagefreudig sind. Also Ärzte müssen auch in unserer Gesellschaft sehr vorsichtig sein. Und jede Abweichung von der Norm erfordert Mut und Verantwortungsbereitschaft."

    Und offenbar wollen einige Ärzte sich nicht vorwerfen lassen, sie hätten nicht jede Therapie ausgereizt. Doch die Studie bildet auch nicht die ganze Wirklichkeit ab. Denn idealerweise ist die Entscheidungsfindung ein gemeinsamer Prozess: Der Arzt erklärt die verschiedenen Optionen, gibt eventuell seine Empfehlung und dann bildet sich der Patient seine eigene Meinung. Allerdings ist das in der Praxis nicht immer umsetzbar, räumt Freutsmiedl ein:

    "Also im laufenden Medizinbetrieb, in so einer Kassenpraxis oder auch in der Klinik, bleibt oft einfach sehr wenig Zeit auch für die Aufklärung. Und da wird natürlich immer eine einfühlsame, ausreichende Aufklärung verlangt. Aber das ist oft gar nicht so realistisch, weil einfach die Zeit auch nicht wirklich honoriert wird und auch nicht bezahlt wird."

    Ärzte stehen also auch massiv unter Druck. Und so wie der Arzt jeden Patienten als individuellen Menschen wahrnehmen sollte. So muss vielleicht auch der Patient erkennen, dass der Arzt eben doch nur ein Mensch ist. Und kein "Halbgott in Weiß".