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Wenn Elektronen müde werden

Physik. - Wenn Schnürsenkel reißen oder Gummibänder ausleiern, wundert sich wohl niemand. Doch nicht nur Schnürbänder, sondern auch Akkus machen irgendwann schlapp und behalten nur noch einen Teil der ursprünglichen Kapazität. Während die mechanische Ermüdung seit vielen Jahrzehnten gründlich untersucht und erforscht wird, ist das ganz ähnliche Phänomen der elektrischen Ermüdung in vielen Aspekten noch ungeklärt. In den kommenden Jahren finanziert die Deutsche Forschungsgemeinschaft den neuen Sonderforschungsbereich ''Elektrische Ermüdung'', um Licht in die Hintergründe schwindender elektrischer Lebensgeister zu bringen.

11.08.2003
    Von Andrea Vogel

    Der Auslöser für Materialermüdung, ob elektrisch oder mechanisch, ist kein Rätsel, weiß Professor Jürgen Rödel, Materialwissenschaftler an der Technischen Universität Darmstadt.

    Mechanische Ermüdung heißt, ich gebe mechanische Wechsellasten auf. Das war ein Riesenproblem vor etwa 150 Jahren, als die ersten Eisenbahnachsen und Eisenbahnbrücken brachen. Elektrische Ermüdung heißt dagegen, wir bringen elektrische Wechsellasten auf.

    Wie zum Beispiel das Laden und Entladen eines Akkus oder das Ein und Aus einer Leuchtdiode. Jürgen Rödel interessiert sich besonders für ein Bauteil, in dem mechanische und elektrische Wechsel zusammenkommen: den Aktuator.

    Da werden so genannte Ferroelektrika eingesetzt, wir geben ein elektrisches Feld auf und bekommen einen gewissen, wenn auch kleinen Weg aus dem Festkörper.

    Sprich: Der Festkörper ändert seine Länge. Nicht besonders viel – bei dem Bauteil, mit dem sich Jürgen Rödel befasst, sind es ungefähr 20 Mikrometer. Diese winzige Längenänderung produziert ein Aktuator aber sehr schnell und präzise immer wieder. Damit lassen sich dann zum Beispiel die Ventile moderner Dieselmotoren sehr genau steuern.

    Der neue Vorteil mit dieser Aktuatorik ist, dass man wesentlich schneller, wesentlich genauer und während eines Verbrennungsvorgangs mehrfach einspritzen kann. Das bedeutet dann, dass wir Benzinersparnis haben, Laufruhe haben und bessere Umwelteigenschaften haben.

    Einziges Problem: Auch Aktuatoren ermüden irgendwann. Sie verlieren, genau wie ein Gummiband, im Laufe der Zeit an Elastizität. Der Grund hierfür liegt in der besonderen Struktur des Materials, einer speziellen Keramik. Sie ist aufgeteilt in mikroskopisch kleine Kammern, die so genannten Domänen. Unter Spannung verändern diese Kammern ihre Form, werden schmaler und höher. Das geht allerdings nur, so lange die Kammerwände weich und elastisch sind.

    Die Ermüdung kommt daher, dass innerhalb dieses Werkstoffes wegen der elektrischen Spannung auch geladene Teilchen, also Ionen, Elektronen, Defektelektronen, sich ebenfalls bewegen. Und diese bewegen sich, agglomerieren und bleiben an den Domänenwänden, die elektrostatisch geladen sein können, hängen und halten diese Domänenwände fest.

    Eine Keramik ohne diese Ionen und Defekte zu bauen wäre aber wohl auch keine Lösung. Denn die scheinen für die Längenänderung gebraucht zu werden. Darum suchen Rödel und seine Kollegen jetzt nach dem "perfekten Defekt", sozusagen der maßgeschneiderten Keramik für den Diesel der Zukunft. Und natürlich nicht nur für den. In einem großen Sonderforschungsbereich werden Darmstädter Wissenschaftler in den nächsten vier bis zwölf Jahren versuchen, mehr über diese Keramiken in Erfahrung zu bringen.

    Zum einen will man die Werkstoffe, wie sie jetzt eingesetzt sind, verstehen, zum anderen will man auch durch ab-initio-Berechnungen vorhersagen, welche Art von Defekt mit welcher Art von Zusatz überhaupt eine optimale Verlängerung, d.h. eine optimale Aktuatoreigenschaft bilden würde. Und dann will man diese optimale Aktuatoreigenschaft, also eine Verbesserung des Werkstoffes untersuchen, ob die auch bezüglich elektrischer Ermüdung tauglich wäre.