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Wenn Eltern zu Lehrer werden

Der Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin beklagt zu große Klassen im deutschen Schulwesen. "Und von daher ist für viele Eltern die Frage schon nahe liegend: Was machen wir eigentlich, wenn es in den Schulen großräumig mit großen Menschenmassen so zugeht, dass unsere Kinder nichts mehr lernen können?", sagt Ladenthin. Den Ausweg "Homeschooling" schildert er in einem Buch.

Moderation: Jürgen Liminiski | 21.08.2006
    Jürgen Liminiski: Professor Ladenthin, Bildung ist ein Thema der Politik, Homeschooling ist eher eine Angelegenheit zwischen Kindern und Eltern, ähnlich wie Erziehung, auf jeden Fall in Deutschland nahezu unbekannt. Wie kamen Sie auf dieses Thema, es ist, wenn nicht politisch unkorrekt, so doch zumindest ungewöhnlich. Was ist Homeschooling überhaupt?

    Volker Ladenthin: Es ist die Unterrichtung der Kinder durch Eltern. Wir sind gewohnt, dass Kinder Montagmorgen in die Schule gehen und dann vormittags oder den ganzen Tag dort bleiben. Das ist eine relativ junge Entwicklung. Jung in Anbetracht der Geschichte. Erst 200 Jahre gibt es flächendeckend Schulen. Vorher gab es noch Homeschooling. Das heißt, die Kinder wurden auf dem Bauernhof angeleitet, das Vieh zu hüten und die Kartoffeln aus der Erde zu buddeln. Das hat sich verändert. Wir haben eine Durchschulung, wir haben ein Schulsystem, das da ist, nur hat sich mittlerweile gezeigt, dass dieses Schulsystem offensichtlich nicht so gut ist, dass alle zufrieden sind. Es gibt eine große Schulmüdigkeit bei Kindern, eine Unzufriedenheit bei Eltern, und es gibt außerhalb von Europa, vor allen Dingen in den Vereinigten Staaten, eine große Bewegung, die fordert, Kinder wieder zu Hause zu unterrichten, nicht nur zu erziehen, sondern auch zu unterrichten, fit zu machen für die Zukunft. Und das nennt man im Englischen eben Homeschooling, Unterricht zu Hause, könnte man sagen.

    Liminski: In einem der Aufsätze in Ihrem Buch, in dem von Ihnen herausgegebenen Buch, werden auch einige Prozentzahlen genannt. Daraus geht hervor, dass Homeschooling relativ gering angewandt wird. In Amerika, sozusagen dem Land der Homeschooling, beläuft sie sich mal gerade auf vier Prozent, zwar mit steigender Tendenz, in dieser Tabelle steht auch überall "stark zunehmend", aber hat der Homeschooling oder hat überhaupt die Bildung nicht auch etwas damit zu tun, dass die Verhältnisse in der Gesellschaft so kompliziert geworden sind, dass Eltern eben nicht mehr ihren Kindern alles beibringen können und deswegen dieses Bildungssystem, dieses Schulsystem, so notwendig geworden ist.

    Ladenthin: Es gibt gute Gründe, Kinder in die Schule zu schicken. Sie haben den einen wichtigen genannt: Eltern überschauen die Welt nicht mehr, selbst von ihrem Beruf her kann man die Welt nicht mehr gesamt überschauen, man kann nicht mehr in die Welt einführen. Das ist die Aufgabe von Schule.

    Der zweite Bereich ist, dass Eltern keine Zeit haben, dass sie berufstätig sind und sich entlastet fühlen durch die Schulen. Gleichwohl ist die Frage, ob unsere Schulen diese ihre Aufgabe eigentlich noch leisten. Schulen werden ja überfrachtet mit immer neuen Aufgaben, und das empfinden Eltern durchaus nicht immer als positiv, sie sind unzufrieden mit Schulen, mit den Fällen von Mobbing, mit Stundenausfall, sie sind unzufrieden mit Lehrplänen, die undurchsichtig geworden sind, mit dauernden Prüfungen, das heißt mit dem unzufrieden sind, was Schulalltag ist. Und dann sucht man nach Alternativen, für besonders sensible Kinder, für Kinder, die besondere Interessen haben, für Kinder, die anders sind als die anderen Kinder, und Eltern kommen dann auf die Idee, sie zu Hause zu unterrichten. In den Vereinigten Staaten - das muss man dazu sagen - ist diese Bewegung sicherlich auch religiös motiviert, das heißt, es gibt Eltern, die trauen dem Schulunterricht nicht mehr zu, dass er richtig in die richtigen Inhalte einführt. Das hat dann zum Teil Sektencharakter, und das muss man einfach dazu sagen, aber das Grundanliegen ist, glaube ich, gute Ausbildung für die Kinder zu bekommen, gute Bildung für die Kinder.

    Liminiski: Gibt es denn Erfolge von Homeschooling?

    Ladenthin: Kann man messen durch die …, wenn man den weiteren Lebensweg verfolgt, wenn man sieht, wie Kinder, die zu Hause unterrichtet worden sind, wieder in das reguläre Schulsystem zurückgeführt werden. Die müssen ja dort Prüfungen machen, Eltern können ja keine Qualifikationen rechtsverbindlich austeilen, und dort sieht man, dass Kinder, die hochmotiviert sind, die individuell geschult worden sind, die individuell gefördert worden sind, sehr gute Leistungen bringen. Es gibt dort keinen Motivationsknick, es gibt eine Förderung des Kindes, die genau auf das Kind passt. Wir Pädagogen nennen das die Passung des Unterrichtes, und das ist für Kinder offensichtlich angenehmer. Es gibt auch Grenzen. Ob man sich immer gerne vom Vater alles sagen lässt, muss dahingestellt sein, aber die Vorteile sind für viele Eltern doch überwiegend.

    Liminiski: Wie war denn die Resonanz auf Ihr Buch hier in Deutschland?

    Ladenthin: Es ist ja eine wissenschaftliche Publikation, und das Erstaunliche war: In dem Moment, in dem das Buch auf dem Markt erschien, eine Flut von ihm aus E-Mails, Briefen und telefonischen Anfragen mit den Bitten, das doch genauer zu erklären, es in Vorträgen vorzustellen oder doch das Buch herumzuschicken. Das heißt, es war eine relativ große Resonanz, und das hat mich überrascht. Wissenschaftliche Publikationen haben eigentlich nicht eine solch große Resonanz.

    Liminiski: Sehen Sie darin einen besonderen Bedarf auch in Deutschland?

    Ladenthin: Ja, ich sehe diesen Bedarf auch, und zwar weniger in religiösen Gruppen. Wir haben ja einige Fälle in Ostwestfalen, wo bereits Staat und religiöse Gruppen in Clinch miteinander gerieten, weil eben die Eltern ihre Kinder zu Hause lassen wollten. Ich sehe die große Zukunft aber in bildungsambitionierten Eltern, die nach Alternativen zu den vermassten Schulen suchen, zu Klassen mit 35 Kindern, bei denen kein Lehrer mehr vernünftig unterrichten kann. Sie sehen, was daraus wird, wenn man in die Extremfälle schaut, nach Berlin, wo einfach die Klassen dann so groß sind, dass ein Lehrer nicht mehr individuell betreuen kann. Und aus diesen Situationen suchen Eltern nach Auswegen, und ich glaube, die bildungsambitionierten Eltern werden diese Auswege suchen.

    Liminski: Diese bildungsambitionierten Eltern werden natürlich an Grenzen stoßen. Wir haben eine Schulpflicht.

    Ladenthin: Ja, wir haben eine Schulpflicht, übrigens ein nahezu Sonderfall in Europa. Jetzt wird man erschrecken, aber man muss unterscheiden zwischen Bildungspflicht und Schulpflicht. Wir haben in Deutschland eine Schulpflicht. Andere europäische Länder - ich denke da an die Niederlande etwa - haben eine Bildungspflicht, das heißt, man muss nachweisen, dass man in einer Bildungsinstitution war, dass man bestimmte Prozesse durchlaufen hat. In Deutschland müssen Sie den Schulbesuch nachweisen, ohne dass gemessen wird, ob Sie ihn auch sinnvoll gemacht haben. Ich glaube, wir müssen hier umdenken, wir brauchen auch in Deutschland eine Bildungspflicht, das heißt die Abkehr davon, dass der Staat alles regelt, was mit Kindern zu tun hat.

    Liminski: Der Untertitel Ihres Buches heißt "Homeschooling – Tradition und Perspektive". Wo sehen Sie denn eine Perspektive in Deutschland? Es scheitert ja schon an dieser rechtlichen Hürde.

    Ladenthin: Ja, wir werden diese rechtliche Hürde diskutieren müssen. Hier ist sicherlich eine Veränderung des Rechtes notwendig. Zumindestens muss man über die Grenzen von Schule diskutieren und fragen, welche Ausnahmen es gibt. Es gibt ja bereits jetzt Ausnahmen: Diplomatenkinder etwa, die keine deutsche Schule vor Ort finden, in vielen Ländern der Welt. Die werden zu Hause unterrichtet. Dafür gibt es Lehrpläne, dafür gibt es eigene Unterrichtsmaterialien, das heißt, wir dürfen nicht so tun, als sei das nicht schon Möglichkeit, in Wirklichkeit gibt es sehr, sehr viele Fälle von Homeschooling. Diese Diskussion müssen wir antreten. Ich sehe aber einen weiteren Nutzen, nämlich den, dass die Schulen doch herausgefordert sind zu fragen: Was machen wir eigentlich nicht so, dass die Eltern zufrieden sind? Es ist also der Stachel im Fleische des Schulsystems, und diese Bedeutung, die finde ich sehr, sehr wichtig.

    Liminski: Da stoßen wir an unser Föderalismusprinzip.

    Ladenthin: Das sehe ich eher positiv. Im Föderalismus ist die Möglichkeit da, in überschaubareren Einheiten zu fragen, wie man die beste Schule macht. Etwas wird ja nicht dadurch richtig, dass es alle machen, sondern dadurch richtig, dass man es richtig macht, und da ist der Föderalismus eine gute Möglichkeit, überschaubar zu bleiben. Ich sehe eigentlich nur Vorteile im Föderalismus und keine Nachteile.

    Liminski: Sie haben in Ihren früheren Büchern zu Grundfragen der Pädagogik Stellung genommen. Ein Buch heißt "Zukunft und Bildung", ein anderes "Ethik und Bildung in der modernen Gesellschaft", auch herausgegeben wie dieses jetzige in der Reihe "Systematische Pädagogik". Wo ist denn für Sie das Kernproblem in der Bildung in Deutschland?

    Ladenthin: Das Kernproblem liegt darin, dass es für Eltern nicht mehr durchschaubar ist, wohin dieses Bildungssystem treibt. Es sind Maßnahmen, die sich selbst überholen, die aber keine richtige Linie erkennen: Wohin treibt das Bildungssystem? Dabei könnte man doch sagen, eine gute Schule muss guten Unterricht machen, sie muss in die Kultur einfühlen, sie muss zur Sittlichkeit erziehen. Das sind sehr einfache Dinge, aber die vielen Maßnahmen haben diese Perspektive, zumindestens für die Eltern, aus den Augen verloren. Also die grundlegende Information, die grundlegende Richtung wäre, ein Ziel wieder auszugeben, was Schule überhaupt soll, Klarheit über Schule herzustellen.

    Liminski: Wird das überhaupt diskutiert in der Politik?

    Ladenthin: Nein, wir diskutieren nicht über Ziele, sondern über Methoden. Wir fragen, ob denn alles erreicht wird, aber wir fragen nicht mehr, was denn erreicht werden soll. Wir messen, aber wir wissen gar nicht mehr, was wir eigentlich da messen. Ich kann mich an keine Diskussion erinnern darüber, was denn die Ziele dessen sind, was wir eigentlich in der Schule machen.

    Liminiski: Vielleicht, weil das mit Werten zu tun hat?

    Ladenthin: Mit Sicherheit. Über Werte zu reden, heißt in der Demokratie immer, über Werte auch zu streiten, und das ist immer unangenehm. Ich halte es aber für notwendig, dass man über Werte spricht, dass wir darüber sprechen, wozu Erziehung da ist, welchen Sinn Schule haben soll, und das ist immer ein Gespräch über Werte. Wir brauchen aber dieses Gespräch, denn der Staat setzt voraus, dass wir uns alle wertbewusst entscheiden, und das muss man irgendwo lernen, unter anderem in der Schule, nicht nur, aber eben auch in der Schule. Und hier fehlt es in der Schule an Unterricht, der diese Wertfragen wieder deutlich stellt. Die kann man nun leider auch nicht messen, die Wertfragen, aber trotzdem sind sie wichtig.

    Liminski: Ist für Sie Homeschooling sozusagen das Ei des Kolumbus?

    Ladenthin: Wir können die Geschichte nicht 200 Jahre zurück drehen. Es ist eine Möglichkeit, unser Schulsystem zu befragen, es ist die Möglichkeit, Alternativen zum Unterricht auszuprobieren, und es ist die Möglichkeit, hochgradig zu differenzieren bei Kindern, die nicht in das Schulsystem passen.

    Liminiski: Herr Prof. Ladenthin, wir sprechen von der Notsituation an den Schulen. Sie selbst lehren historische und systematische Erziehungswissenschaft. Sie haben einen Lehrstuhl an der Universität in Bonn. Von Ihrem Einblick an der Universität ausgehend, können Sie da Rückschlüsse vornehmen auf die künftige Situation an den Schulen?

    Ladenthin: Wir haben für die zu erwartenden Kinder zu wenig Lehrer, wenn wir die gegenwärtigen Relationen der Schüler/ Lehrer belassen. Wir brauchen also dringend Lehrer in den Schulen. Die sind aber nicht an der Uni da. In Nordrhein-Westfalen wurden mehrere Standorte der Lehrerausbildung geschlossen, Bonn zum Beispiel., Düsseldorf zum Beispiel, so dass es also auch zu einer Konzentration und dann zu einer Vermassung der Lehrerausbildung an den anderen Universitäten kommt. Das finde ich eine bedenkliche Entwicklung. Wir werden also hier eine weitere Verschlechterung in den Schulen haben, weil es schlicht und ergreifend an gut ausgebildeten Lehrern fehlt, oder aber, weil die Klassen zu groß sind. Und von daher ist für viele Eltern die Frage schon nahe liegend: Was machen wir eigentlich, wenn es in den Schulen großräumig mit großen Menschenmassen so zugeht, dass unsere Kinder nichts mehr lernen können ?

    Liminiski: Also, kommen zwangsläufig Lösungsvorschläge wie Homeschooling etcetera?

    Ladenthin: Ja, wir werden vermutlich eine ganz starke Privatisierung im Bereich des Bildungssystems haben. Wir haben jetzt ja schon einen Run auf die Privatschulen, gleich in welcher Trägerschaft, und dieser Run wird sich verstärken, und Eltern werden dann irgendwann fragen: Dann kann man doch die letzte Konsequenz ziehen und die Kinder selber unterrichten.

    Liminiski: Aber läuft das nicht einem anderen Trend, nämlich der Verstaatlichung der Erziehung, zuwider?

    Ladenthin: Das ist die Frage, wie Eltern damit umgehen. Einige Teile der Eltern werden froh sein, wenn sie entlastet sind, die werden ihre Kinder in Institutionen abgeben. Ich vermute, dass das aber auch eine soziale Unterscheidung sein will, dass die bildungsambitionierten Eltern dafür sorgen werden, dass ihre Kinder gut und in vernünftigen Relationen zwischen Schülern und Lehrern ausgebildet werden. Also wir werden hier vermutlich eine Zweiteilung der Gesellschaft haben.

    Liminiski: Sie haben in Ihrem Buch "Homeschooling" auch mehrere deutsche Größen - Fichte, Herbart und so weiter., Schleiermacher -, das haben Sie sicher bewusst gemacht. Warum?

    Ladenthin: Wir haben ja die Schule erst seit relativ kurzer Zeit. Unsere Geistesgrößen bis hin zum Ende des 19. Jahrhunderts, bis hin zu Fontane etwa, waren alle gar nicht in der Schule. Also Goethe hat nie eine Schule besucht, Fichte hat keine Schule besucht, das heißt, wir haben hier Personen, die eigentlich aus dieser Privaterziehung kommen und die das, was sie gelernt haben, in diesem Bereich auch gelernt haben, also zu Hause von Privatlehrern, natürlich in privilegierten Situationen, und auf diese Tradition wollte ich hinweisen. Es ist eine sehr gelungene Tradition. Nebenbei waren viele unserer Geistesgrößen selbst Hauslehrer, haben also zu Hause in Familien zwei, drei Kinder unterrichtet. Einer der berühmtesten ist Kant, der in drei Familien als Hauslehrer gewirkt hat.
    Volker Ladenthin (Hrsg.) Homeschooling - Tradition und
    Perspektive.

    Ergon Verlag, Reihe Systematische Pädagogik, Würzburg,
    2006
    294 Seiten
    38 Euro