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"Wenn es morgen früh dieses Land nicht mehr geben sollte …"

Am Vorabend der Neuwahlen in Griechenland schwankt die Kulturszene zwischen der Angst vor dem Kollaps und der Hoffnung auf einen Neubeginn. Während die einen mit der politischen Klasse des Landes hart ins Gericht gehen, fordern andere von Europa mehr Respekt vor dem kulturellen Erbe Griechenlands.

Von Marianthi Milona | 16.06.2012
    "Was wir bei den Wahlen im Mai in Griechenland erlebt haben, erinnerte stark an den Mai 68 in Frankreich. Ein Dominoeffekt der Ereignisse war es 68 gewesen und verbreitete sich ganz schnell über ganz Europa. Wenn das griechische Volk am kommenden Sonntag wieder ein deutliches Wahlergebnis in diese Richtung setzen sollte, sich also gegen die ungerechten Sparmaßnahmen ausspricht und in eine neue Verhandlungsphase mit dem Westen eintritt, dann wird das richtungsweisend für Europa sein. Und ich, ich würde mich persönlich sehr darüber freuen."

    Vassilis Spiritopoulos. Vierzig Jahre alt. Schauspieler im Königlichen Theater von Thessaloniki. Künstler mit einer Leidenschaft für alles was griechisch ist. Und mit euphorischen Gefühlen, wenn er an die Wahlen am kommenden Sonntag denkt. Spiritopoulos glaubt schon lange, dass sich in Griechenland etwas ändern muss. Das Land stehe vor dem Kollaps und Europa klopfe mit der Todesspritze an seiner Tür. Die griechische Künstlerszene hat Erwartungen an die Kulturgemeinschaft Europas. Und fordert Solidarität.

    "Heute ist es Griechenland. Morgen kann die Krise Zypern, Holland, Spanien und Portugal treffen. Ich frage mich, wie viele Negativbilder will Europa für diese Länder dann entwerfen? Es muss doch immer etwas oder jemand an der Misere schuld sein, nicht wahr? Nein, wir müssen alle umdenken. Denn am Ende kann Griechenland keine Veränderung alleine herbeiführen."

    Dass es mit Griechenland politisch nicht so weitergehen kann wie in den vergangenen 40 Jahren, das glaubt Eleni Theofillaktou. Die freischaffende Künstlerin hegt allerdings Zweifel, ob das griechische Volk eine radikale Veränderung momentan überhaupt verkraftet. Griechenland brauche diese Veränderung unbedingt, aber keine Abspaltung von Europa.

    "Eine politische Veränderung können wir nur mit ruhigen und nicht zu ehrgeizigen Zielen herbeiführen. Wir sollten die Wahlen sehr ernsthaft betrachten. Die meisten Künstler wollen links wählen, das wirkt abschreckend. Die Kommunikation mit Europa muss mit allen Mitteln bestehen bleiben."

    Dass es für Griechenland keinen anderen Weg mehr gibt, als politisch eine neue Richtung, zumindest keine wie in den letzten beiden Jahren bestand, einzuschlagen, das glaubt auch der Philosoph und Historiker, Christos Yiannaras. Seine Ansichten werden von Politikern, Medienleuten und Intellektuellen gleichermaßen respektiert. Yiannaras hält für den Reifeprozess Griechenlands die Abspaltung von den traditionellen politischen Lagern für unumgänglich.

    "Mir scheint, inzwischen hat jeder normale Bürger wirklich begriffen, was das für Leute sind, die uns jahrzehntelang regiert haben. Dass sie nämlich komplett unnütz sind. Der ganz normale Grieche würde ihnen nicht einmal mehr die Verwaltung eines Kiosks anvertrauen. Dieser Riss in der Gesellschaft wird Griechenland in eine neue Richtung lenken."

    Yiannaras Ansichten gelten in Europa als radikal. Deshalb richtet der 80-jährige Gelehrte seine Reden bewusst auch immer in Richtung Europa. Für ihn müsse sein Heimatland nicht aus wirtschaftlichen Gründen heraus gerettet werden. Yiannaras fordert Respekt gegenüber dem kulturellen Erbe Griechenlands.

    "Wenn es morgen früh dieses Land nicht mehr geben sollte, das heißt, keine Griechen mehr hier leben und dieses Land von anderen Nationen bevölkert wäre, ich sage das etwas provokativ, dann wird dennoch ein gebildeter Philologe Aristoteles niemals so verstehen, wie ich. Weil Aristoteles die Sprache meiner Mutter spricht, verstehen sie? Wenn Aristoteles von Gesellschaft spricht, dann meint er damit etwas komplett anderes als societas. Wenn er vom Gesetz spricht, dann meint er damit etwas komplett anderes als Lexis. Wenn er von Logos spricht, dann meint er etwas komplett Anderes als die Ratio. Und an dieser Stelle gibt es eine historische Verpflichtung, die von den Nachkommen eingefordert werden wird."