Archiv


Wenn süße Melodien von einem Gitarren-Gott zersägt werden

Es war sicher kein Zufall, dass nach diversen Besetzungswechseln in den Anfangsjahren seit 2004 der Gitarrist Nels Cline zur ständigen Besetzung bei Wilco gehört. Der gemeinsame Nenner war und ist: Songstrukturen aufbrechen. Gestern haben Wilco in Köln gespielt.

Nels Cline im Gespräch mit Anja Reinhardt |
    - Und weil ein Konzert viel mehr Raum für Improvisation bietet als ein Album lag die Frage auf der Hand, was bei einem Wilco-Konzert, wo Songs gerne mal in Grund und Boden zerhackt werden, für den Musiker der interessanteste Moment sei.
    Nels Cline: Der interessanteste Moment bei einem Wilco-Konzert ist, wenn wir sehen, wie das Publikum reagiert. Wer diese Leute sind, wie die Stimmung ist, ob sie sitzen oder stehen. Der Grund ist: All das beeinflusst das Konzert, es beeinflusst die Art, wie ich oder die anderen aus der Band spielen. Wenn die Zuschauer sich richtig auf uns einlassen und nah dran sind, dann entsteht eine ganz bestimmte Energie. Zum Beispiel am Dienstag in Hamburg: ein toller Konzertort, gebaut in den 70-er, die Leute saßen. Bis auf zwei, die schon sehr früh aufstanden und tanzten. Ein Ordner kam, sagte ihnen, sie sollten sich setzen und stieß einen von ihnen in den Sessel. Unser Sänger Jeff war so sauer, dass er am Ende des Songs sagte: Das Publikum solle machen, was es wolle, stehen oder sitzen, da habe niemand etwas vorzuschreiben. Und da kamen alle nach vorne und standen bis zum Schluss sehr nah an uns dran. Es war ein toller Abend. Musikalisch ist der interessanteste Moment, wenn die anspruchsvollen Stücke kommen, zum Beispiel das Stück "Art Of Almost", wo es viele Soundschleifen gibt, und ich den Song am Ende mit meiner Gitarre total zerstöre. Sehr großes Drama.

    Anja Reinhardt: Ich habe mal in einem Interview gelesen, dass Sie auch deswegen bei Wilco spielen, weil jeder in der Band machen kann, was er will. Es geht um ein gewisses Verständnis von Freiheit. Was den Vorfall in Hamburg angeht: Es geht also nicht nur um musikalische Freiheit?

    Nels Cline: Es ist doch Rock'n'Roll! Wir sind sehr oft eine richtig klassische Rock'n'Roll-Band, die eben diesen Sound spielt. Klar, es gibt auch andere Einflüsse, aber im Grunde ist es Rock'n'Roll - und das ist gleichbedeutend mit Freiheit. Es geht darum, sich auszudrücken, die Zuschauer in den Wahnsinn zu treiben, ihnen die Freiheit zu geben, zu tanzen, zu hüpfen. Oder was auch immer sie machen wollen. Als Bandmitglied spiele ich meinen Part. Teilweise sind das Elemente, die auf meine Ideen zurückgehen, teilweise Songideen der anderen. Klar, es gibt Diskussionen bei uns, unsere Musik ist eine Zusammenarbeit. Aber es ist Jeffs Band, er ist der Chef. Und alle fühlen sich wohl mit dieser Konstellation. Für mich ist es sogar befreiend, dass es keine totale Demokratie gibt, sonst würden wir ja nie mit einem Song fertig. Man kann Jahre damit verbringen, einen Konsens zu finden, deswegen ist es auch mal schön, wenn jemand sagt: Kannst du das so machen? Und ich sage: Ja. Dauert drei Sekunden. Aber klar: Jeder bei uns hat eine Persönlichkeit und die darf er auch einbringen. Was wir auf gar keinen Fall machen: Festlegen, was wir auf der Bühne machen werden. Das ist ziemlich befreiend, weil es am Ende ein echtes Zusammenspiel ist.

    Anja Reinhardt: Ein anderer Aspekt, der vielleicht auch mit Freiheit zu tun hat, ist, dass bei Wilco oft Melodien aufgebaut werden, wahnsinnig schöne Melodien. Und dann kommt der Moment, wo alles zerstört wird. Ist das ein Aspekt von Freiheit oder ist es die Dekonstruktion von Popmusik?

    Nels Cline: Es hat auf jeden Fall mit Dekonstruktion zu tun. Das hat schon begonnen, bevor ich in der Band war. Und es geht vor allem auf Jeff zurück. Mittlerweile sprechen wir da gar nicht mehr so konkret drüber. Ich glaube, wir wissen einfach, wann wir etwas zerstören müssen und wann nicht. Und wann wir wieder etwas aufbauen müssen. Ich glaube, dass es Jeff deswegen so wichtig ist, weil er im Grunde seines Herzens ein sehr klassischer Songschreiber ist. Er will aber gar nicht nur klassische Songs schreiben. Und ich mag die Idee, dass wir uns eben nicht so anhören wie Bob Dylan oder eine Band aus den 70-ern.

    Anja Reinhardt: Funktioniert das für Sie auch deswegen so gut wegen Ihrer musikalischen Sozialisation? Sie kommen ja aus der Jazz- und der Avantgarde-Musik.

    Nels Cline: Was mich betrifft: Ich kann mit Musik jede Menge Unsinn anstellen, das ist genau das, was ich mag. Als kleiner Junge fing ich mit Rock'n'Roll an. Und auf eine bestimmte Art und Weise ist das, was ich bei Wilco mache, pubertär – ich schnuppere an meiner Jugend. Vielleicht ist das manchmal auch ein bisschen würdelos. Ich schlüpfe in mein Teenager-Gehirn. Aber was soll's, ich muss ja nicht die ganze Zeit drin leben. Außerdem bringe ich auch Strukturen aus der experimentellen Musik und der Improvisation mit in die Band, oder eben Jazz. Wobei: Eine so große Rolle spielt das bei Wilco gar nicht. Beim Jazz gibt es einfach zu viele Noten – zu viel für Wilco! Also muss ich das eingrenzen. Ich spiele letztendlich mit unterschiedlichen musikalischen Persönlichkeiten. Mit jedem Song nehme ich eine andere Persönlichkeit an. Ein Riesenspaß, ganz ehrlich!

    Anja Reinhardt: Die erste Person, mit der Sie zusammen Musik gemacht haben, war ja Ihr Zwillingsbruder Alex...

    Nels Cline: Ja, wir waren Rock'n'Roll-besessene Zwillinge!

    Anja Reinhardt: Und was ist passiert, dass Sie plötzlich beim Jazz gelandet sind, der sich grundlegend von der Musik ihrer Jugendzeit in den 70-ern unterschied?

    Nels Cline: Mein Bruder und ich haben zusammen Musik gemacht, seit wir elf Jahre alt sind. Und obwohl wir immer Rhythmus und Harmonie mochten, waren wir besessen von einem bestimmten Sound, von der Magie dieses Sounds, der uns zur Instrumentalmusik führte und zu einer Musik, die abstrakter war als Pop oder Folk. So kamen wir zum Progressive Rock. Und dann saßen wir irgendwann in der Wohnung eines Freundes und hörten John Coltrane. Das war für mich ein Meilenstein, ein höchst dramatisches Ereignis. Das war für uns viel interessanter als Rock'n'Roll. Für eine Weile zumindest, ich bin ja dann wieder beim Rock'n'Roll gelandet.

    Anja Reinhardt: All das, Wilco, ihre Solo-Projekte oder die Projekte mit anderen Musikern, drehen sich am Ende um das Zerstören oder Dekonstruieren.

    Nels Cline: Ich bin Romantiker! Das hängt alles zusammen!

    Anja Reinhardt: Dann erklären Sie mir doch den Zusammenhang zwischen Romantik und Dekonstruktion!

    Nels Cline: Ich mag einfach die Spannung, die aus dieser Kombination entsteht. Der Effekt, wenn etwas zerstört wird, das behutsam aufgebaut wurde, fühlt sich richtig an, aufregend. Und es ist manchmal auch eine Möglichkeit, Gefühle am Kraftvollsten auszudrücken. Wenn eine fragile Melodie eingerahmt wird von gigantischem Lärm. Oder andersrum. Ich mag das einfach. Das ist gar keine intellektuelle Herangehensweise, es hat viel mehr mit Emotionen zu tun.

    Anja Reinhardt: Vielen dank für das Interview.

    Nels Cline: Thank you, this was really great!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.