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Wer sind eigentlich die Inder?

Trotz aller Gegensätze und ethnischen Spannungen, trotz seiner kolonialen Vergangenheit und der blutigen Trennung von Pakistan vor fast 60 Jahren (1947): Indien ist eine stabile Demokratie, die größte der Welt, wie die Inder gerne betonen. Was sie im innersten zusammenhält, damit befasst sich der Psychologe und Romancier Sudhir Kakar, ein kluger Kenner der indischen "Seele". Gemeinsam mit seiner Frau, der deutschen Religionswissenschaftlerin Katharina Kakar, hat er ein neues Buch geschrieben: "Die Inder" heißt es. "Porträt einer Gesellschaft". Ich habe Sudhir Kakar vor der Sendung gefragt, was das Leben "der Inder" entscheidend prägt. Warum zum Beispiel das Kastenwesen in weiten Teilen des Landes bis heute Bestand hat - trotz der egalitären indischen Verfassung:

Moderation: Christina Janssen |
    Kakar: Sie werden keinen in Indien finden, der die Kasten verteidigen würde. Alle würden sagen, das ist das absolut Schlimmste. Und trotzdem hält es sich. Da sind zwei, drei Sachen, die man dort sagen kann: Eine ist: dieses hierarchische Denken - und die Kasten sind eigentlich eine hierarchische Art, die Gesellschaft zu organisieren - ist so tief verwurzelt. Also wenn ein Mensch einen anderen trifft - vielleicht unbewusst, dann ist die Frage: ist das ein Mann oder eine Frau, und das zweite, ist er alt oder jung, und in Indien wird ganz schnell kommen: ist er höher oder niedriger als ich? Das kommt von Anfang an, aus der Kindheit. Wenn die Eltern mit dem Kind ausgehen und wenn ihnen ein Unberührbarer nahekommt, dieses Zurückschrecken, das merkt das Kind viel mehr, als was sie sagen, oder wie sie ein bisschen die Nase rümpfen. Das kriegt ein Kind ganz von Anfang an mit, das ist hier etwas Schlimmes, was ich vermeiden muss. Und was die Eltern sagen, dass alle Menschen gleich sind, das ist natürlich wie in allen Ländern. Was die Eltern sagen, hat viel weniger Wirkung als was die Eltern fühlen und zeigen. Und das wiederholt sich über Generationen hin.

    Janssen: Als fast noch wichtiger als dieses ja sehr prägende Kastensystem beschreiben Sie in Ihrem Buch die indische Großfamilie. Also quasi als den Dreh- und Angelpunkt der indischen Gesellschaft. Wie wirkt sich dieser "Familienismus" - wie Sie es nennen und schreiben - denn aus, gerade im Vergleich zu einer ja hoch individualisierten Gesellschaft, wie wir sie etwa in Deutschland haben?

    Kakar: Den Familienismus lernt ein Inder auch als ganz kleines Kind. Die wichtigste Beziehung, die ihm das Leben gibt, ist die Beziehung zur Familie. In der Familie sind manche höher als du, manche niedriger als du. Denen oben musst du gehorchen, und die, die unten sind, für die musst du immer sorgen, und das ist deine lebenslange Pflicht. Die Gründe dafür sind klar: Es ist ein Land, wo es lange Zeit und immer noch für die meisten keine Krankenversicherung gibt, Altersversicherung. Wer springt dort ein? Es ist immer die Familie. Familienmitglieder sind die, denen man letztlich eigentlich vertrauen kann. In andere Institutionen, staatliche Institutionen, hat man kein großes Vertrauen. Möglicherweise ist die Familie auch etwas anderes, als sie in Europa ist: Der Angelpunkt der Familie in Indien ist nicht die Mann-Frau-Beziehung. Weil das eine Beziehung ist, die eine Familie - glaubt die Familie - kaputtmacht. Wegen der ganzen erotischen Stärke und der Macht von dieser Beziehung vergisst der Mann seine Pflichten gegenüber anderen Mitgliedern seiner Familie: gegenüber seinen Eltern, gegenüber seinem Bruder, gegenüber seiner Schwester, gegenüber seinem Enkel. Er wird vielleicht eine kleine Zelle bilden mit seiner Frau; seine Kinder sind wichtiger als die Kinder seines Bruders. Das darf nicht sein, das würde natürlich die Familienharmonie, den Familienismus kaputtmachen. Die indische Sicht war immer, dass die Mann-Frau-Beziehung am Anfang, wenn die beiden jung sind, gefährlich ist für die Familie. Es ist nur nachher, dass die Familie diese Beziehung eigentlich unterstützt, aber am Anfang müssen sie ein bisschen auseinander gehalten werden. Und das kann wirklich auch nur dann gehen, wenn Heiraten arrangiert werden, wenn Familienangelegenheiten mehr sind als individuelle Angelegenheiten.

    Janssen: Das ist ja eine der ganz erstaunlichen Aussagen Ihres Buches, dass noch immer die meisten jungen Inder die arrangierte Ehe tatsächlich akzeptieren. Bleibt denn die Rebellion der Jungend in indischen Familien völlig aus?

    Kakar: Die Rebellion bleibt aus, ja. Nicht die Spannung, die immer die junge Generation gegenüber oder mit der älteren Generation auslebt, die Spannung ist natürlich immer da. Die Gründe, dass sie die arrangierte Ehe nicht nur akzeptieren, sondern dass sie sie willkommen heißen - da sind Umfragen von 80, 85 Prozent in den Städten, mehr als 90 Prozent im dörflichen Indien. Auch in Amerika, in Deutschland, wo die Software-Ingenieure arbeiten, die kommen zurück, um zu heiraten, eine arrangierte Ehe, und das wird willkommen geheißen. Da sind die Gründe nicht von der Hand zu weisen. Einer ist, wie ich gesagt habe: Sie haben von Anfang an gelernt, dass eigentlich die Ehe keine leichte individuelle Sache ist. Und die zweite Sache ist, dass man dann sicher ist. Da ist keine große Angst oder keine Panik, dass, weil ich hässlich bin oder dick bin oder dünn bin, dass ich keinen Partner finden werde. Also diese ganze Last wird von den Jungen weggenommen.

    Janssen: Wenn ich da ganz kurz unterbrechen darf - dürfen die Mädchen denn auch mal widersprechen, wenn ihnen jemand vorgeschlagen wird, der ihnen nicht passt?

    Kakar: Ja, natürlich. Ein Veto gibt es jetzt. Meine Schwester hat 17 Männern nein gesagt, und dann hat sie, ich glaube, sie war dann müde - hat sie dem Achtzehnten ja gesagt. Aber ein Veto gibt's natürlich.

    Janssen: Das Augenfälligste für einen Europäer, der nach Indien reist, ist ja die Omnipräsenz der Religion oder der Religionen. Jedes Taxi ist ein kleiner Tempel, mit Götterbildchen und Figuren geschmückt und mit Räucherstäbchen. Wie sehr eint die Religiosität der Menschen denn das Milliardenvolk der Inder, und wie sehr spaltet sie es?

    Kakar: Beides. Die Religiosität ist - wie Sie gesagt haben - omnipräsent. Es ist eigentlich nicht die Religion, die den Unterschied macht, es ist nicht die Theologie. Es ist nicht, was Hindus glauben und was Muslime glauben, das die Menschen trennt. Ich habe mal eine Studie gemacht über Hindu- und Muslim-Ausschreitungen, und da habe ich einen Fragebogen mit Moralbegriffen von beiden gemacht. Ganz interessant war die Frage, dass ein Muslim ein Hindu wird und umgekehrt, dass er konvertiert, da hat absolut keiner gesagt, dass das schlecht ist. Das Schlechteste für die Muslime war, dass ein Muslim-Mädchen mit einem Hindu ins Kino geht, das war absolut verpönt. Also es ist die gelebte Religion, die Anthropologie, und nicht die Theologie, die trennt. Was ich damit meine, ist zum Beispiel, was trennt, ist, was ein Hindu isst und was ein Muslim isst. Ein Hindu verabscheut Rindfleisch, was die Muslime essen. Und wenn man mit einem nicht essen kann, das trennt viel mehr als was man glaubt, ob Allah oder Hinduismus. Das religiöse Gefühl achten sie beide, die religiösen Gefühle der anderen zu kränken ist ganz schlimm. Da waren sich alle einig. Aber diese Sachen, Junge mit Muslim-Mädchen oder umgekehrt, zusammen essen von Rindfleisch und so weiter, solche Sachen sind es, die trennen, wie ich gesagt habe. Es ist die Anthropologie der Religion.

    Janssen: Herr Kakar, wodurch wird dann letztlich die Schwelle der Gewalt überschritten? Inwieweit ist denn die indische Politik, inwieweit sind die Parteien daran beteiligt?

    Kakar: Da sind sie sehr beteiligt. Die Politiker müssen die Stimmen mobilisieren, und dafür müssen sie immer Gründe finden, wie man die Stimmen mobilisiert. Und Religionszugehörigkeit ist ein Grund, wie Politiker Stimmen mobilisieren können oder das versuchen. Und da machen sie ihrer potentielle Wählerschaft bewusst, dass du ein Hindu oder ein Muslim bist. Auch wenn die das vorher nicht gewusst haben, müssen sie jetzt wissen, dass du ein Hindu bist, und das heißt das, und du bist Muslim, und da ist eine Gefahr durch den anderen. Und eigentlich - wir haben vorher von dem Kastenwesen gesprochen - die moderne Demokratie hat das Kastenwesen sehr gestärkt, genau aus diesen Gründen. Da sind manche Parteien, die die Kasten mobilisieren, und das ist natürlich diese Mobilisierung, die die Unterschiede zwischen Religionen, zwischen Kasten stärken statt schwächen.

    Janssen: Es ist höchst amüsant, in Ihrem Buch zu lesen, dass in Indien inzwischen Themenparks für indische Gottheiten gebaut werden. Also statt Disneyland gibt es dann Ramaland, Durgaland und Gangaland. Wie stark setzen sich westliche Einflüsse durch?

    Kakar: Also in der ganzen Technologie sind die westlichen Einflüsse sehr stark. Aber interessant ist, dass man in Indien mit den Göttern so umgeht, weil mit Göttern ist man viel intimer. Im Westen ist Gott ein graubärtiger Großvater dort oben, dem man so ein bisschen gehorchen und fürchten muss. In Indien kann man mit Gott lachen, der populärste Gott ist Krishna, schon als Kind. Also ich würde sagen, westliche Technologie beeinflusst sehr, aber im Herzen ist das sehr indisch, mit den Göttern so umzugehen.

    Katharina und Sudhir Kakar: Die Inder. Porträt einer Gesellschaft
    Verlag C.H. Beck. München 2006.
    206 Seiten. 19,90 Euro.