Mit diesen Worten schilderte der französische Philosoph Gilles Deleuze seine legendären Seminare in Paris-Vincennes. Ungewollt hat er damit auch den neuen Ton angesprochen, den er in die Philosophie einführte. Kaum ein Thema ließ er in den Künsten, den Geistes- und Naturwissenschaften aus. Und immer ging es ihm darum, starre Strukturen zu verflüssigen: In den gesellschaftlichen Machtgefügen hielt er Ausschau nach den Bruchstellen und Fluchtlinien; in der Psychoanalyse verfolgte er die Befreiung des Wunsches aus den familiären Fesseln; in der Linguistik wandte er sich ab vom allzu starren und in sich geschlossenen Sprachsystem; in der Literatur spürte er den Einfluß außertextueller Phänomene auf; in der Musik interessierte ihn das Aufbrechen traditioneller Klangstrukturen; in der Malerei erkundete er das Spannungsfeld zwischen Figuration und Defiguration und im Kino entdeckte er das Auftauchen neuer Bildtypen, die er mit neuen Begriffen beschrieb.
Gemeinsamer Ausgangspunkt all dieser Untersuchungen bildet die Erkenntnis: Es gibt immer nur offene Systeme, es gibt Fluchtlinien und es gibt die Schaffung und Besetzung neuer Systeme, die ebenfalls offen sind. Deswegen gibt es bei Deleuze ein sehr unakademisches Verständnis von Philosophie:
In der Philosophie zu bleiben, bedeutet auch, aus ihr herauszugehen. Doch aus der Philosophie herauszugehen, heißt nicht einfach: etwas anderes machen. Es bedeutet: Hinausgehen und dennoch drinnen bleiben (...). Ich möchte mit den Mitteln der Philosophie das Terrain der Philosophie verlassen. Genau das interessiert mich.
Für den Sammelband Die einsame Insel, der acht Jahre nach Deleuzes Selbstmord erschien, läßt sich ähnliches sagen. Auch in diesem Band, der kleinere Texte und Gespräche zwischen 1953 und 1974 versammelt, finden sich zahlreiche Ausblicke auf außerphilosophische Gebiete. Das Erstlingswerk "Die einsame Insel", das dem Buch den Titel gab, ist eine originelle Kritik der Insel-Literatur –von Daniel Defoes Robinson Crusoe und Jean Giraudoux‘ Suzanne et le Pacifique. Seit diesem frühen Aufsatz von 1953, der nun zum ersten Mal publiziert wurde, hat Gilles Deleuze immer wieder die Verbindung von Literatur und Philosophie betont:
Beide Aktivitäten, die große Literatur und die große Philosophie haben etwas Gemeinsames: sie zeugen für das Leben. Das ist es, was ich die Kraft des Autors nenne.
Bereits die kurzen Texte, die der 28-jährige Gilles Deleuze schrieb, enthalten grundlegende Einsichten, die später in Hauptwerken wie Differenz und Wiederholung oder Logik des Sinns ausgeführt werden. In einem dem Lehrer Jean Hyppolite gewidmeten Aufsatz entwickelt er eine "Ontologie der Differenz", die Hegels Dialektik zu überwinden trachtet. Aber man sieht schnell, daß sich Deleuze nur sehr wenig für die Hegelsche oder Marxsche Dialektik interessierte – ganz im Gegensatz zu den Pariser Intellektuellen, die seinerzeit noch im Bann der marxistischen Orthodoxie standen. Deleuze fand den Ausweg aus dem dialektischen Dualismus bei Henri Bergson, über den er zwischen 1956 und 1966 umfangreiche Texte schrieb. Allerdings handelt es sich bei diesen Schriften niemals um akademische Pflichtübungen. Stets versucht Deleuze in ihnen das herauszufiltern, was seinem eigenen intellektuellen Interesse entspricht: Die Begründung einer Differenz-Philosophie, die das Sein in seiner zeitlichen Differenz faßt. Schließlich kommen die existentialistischen Ideen der Neuheit, Zukunft und Freiheit hinzu. Schon 1956 konnte man bei Deleuze einen völlig neuen Ton in der Philosophie vernehmen:
Philosophie treiben heißt, mit der Differenz zu beginnen. (...) Die Differenz ist der wahre Anfang. (...) [Denn] die Sache erklärt sich durch die Differenz, nicht durch ihre Ursachen.
Aber noch ein anderer Philosoph taucht immer wieder in dem Sammelband auf. Es ist Friedrich Nietzsche, dem Deleuze 1962 mit seinem Buch Nietzsche und die Philosophie eine leidenschaftliche Huldigung schrieb, die über viele Jahre einen fulminanten Einfluß auf die französische Nietzsche-Rezeption hatte. Während man in Deutschland den ungeliebten Philosophen mit Samthandschuhen anfaßte, heißt es bei Deleuze:
Nietzsche ist ein Philosoph, dessen kritische und zerstörerische Macht unvergleichlich ist, aber diese Macht entspringt immer einer Bejahung, einer Freude, einem Kult der Bejahung und der Freude, einem Anspruch des Lebens gegen diejenigen, die es verstümmeln und martern.
Deleuze ist ein Philosoph des Werdens, des Ereignisses. Nur sie öffnen die Gegenwart und machen sie empfänglich für ein zukünftiges Geschehen, für das unerwartet Neue. Aus diesem Grund stand ihm Nietzsche näher als Marx. Näher auch als die ganze Phalanx der Historiker, die sich zwar für die Geschichte, nicht aber für das Werden interessieren. Nietzsche stand schließlich auch für den Anti-Ödipus Pate – das Kultbuch der anti-autoritären Bewegung der siebziger. Interviews, Diskussionen, Manifeste und sonstige Texte bekunden den Einfluß, den das Buch von Gilles Deleuze und Félix Guattari vor dreißig Jahren ausübte. In der Folge des Pariser Mai 68 gehen sie den Wünschen nach, die zu politischen Manifestationen auswuchsen; sie verfolgen die allmähliche Aufweichung einer erstarrten Geschlechtertrennung; sie registrieren die befreiten Stimmen der ethnischen Minderheiten; sie artikulieren die verstärkte Kritik an den geschlossenen psychiatrischen Anstalten; sie demaskieren die schleichende Krise der Familie. Der Anti-Ödipus ist eine Eloge auf die Bewegung und den Prozeß, auf Intensitäten und Grenzerfahrungen, auf Übergänge und Transgressionen. Schließlich eine Eloge auf alles Strömende, allem voran die Wunschströme.
Es mag überraschen, daß im Anti-Ödipus ausgerechnet Sigmund Freud als Feindbild auftaucht. So werfen ihm Deleuze und Guattari vor, die Psychoanalyse als ein Unternehmen gegen das Leben gegründet zu haben. Als eine systemkonforme Wissenschaft, die die gesellschaftliche Ausrichtung der Wunschproduktion ignoriert. Auf die Anklagebank sitzt die Familie, der Agent der Sexualverdrängung, aber auch Ödipus, der Feind der freien Wunschproduktion. Denn bei Ödipus fließt alles nur in die Sackgasse des familialen Dreiecks.
Die Psychoanalyse redet vom Wunsch wie ein Priester. Doch das Unbewußte ist kein Theater, es ist nicht dort zu suchen, wo Ödipus und Hamlet ihr immergleiches Schauspiel aufführen. Das Unbewußte ist eine Fabrik, eine Produktion - ganz im Gegensatz zur psychoanalytischen Auffassung vom Unbewußten als Theater. Das zweite Thema ist das Delirium, das mit dem Wunsch verbunden ist. Wünschen bedeutet im gewissen Sinne Delirieren. Man deliriert nicht über Papa und Mama (...), man deliriert über die ganze Welt, nämlich über die Geschichte, die Geographie, die Stämme, die Wüsten, die Völker, die Rassen, die Klimazonen (...). Das Delirium ist geographisch und politisch, dagegen führt es die Psychoanalyse jedesmal in die Sackgasse der Familie zurück. Schließlich der dritte Punkt: der Wunsch ist aus Gefügen, aus Vielheiten gebildet (...). Entsprechend gibt es immer mehrere Faktoren. Doch die Psychoanalyse reduziert ihn stets auf den gleichen Faktor: den Vater, die Mutter oder den Phallus.
Gilles Deleuze
Die einsame Insel. Texte und Gespräche - 1953 bis 1974
Suhrkamp, 435 S., EUR 34,90
Gemeinsamer Ausgangspunkt all dieser Untersuchungen bildet die Erkenntnis: Es gibt immer nur offene Systeme, es gibt Fluchtlinien und es gibt die Schaffung und Besetzung neuer Systeme, die ebenfalls offen sind. Deswegen gibt es bei Deleuze ein sehr unakademisches Verständnis von Philosophie:
In der Philosophie zu bleiben, bedeutet auch, aus ihr herauszugehen. Doch aus der Philosophie herauszugehen, heißt nicht einfach: etwas anderes machen. Es bedeutet: Hinausgehen und dennoch drinnen bleiben (...). Ich möchte mit den Mitteln der Philosophie das Terrain der Philosophie verlassen. Genau das interessiert mich.
Für den Sammelband Die einsame Insel, der acht Jahre nach Deleuzes Selbstmord erschien, läßt sich ähnliches sagen. Auch in diesem Band, der kleinere Texte und Gespräche zwischen 1953 und 1974 versammelt, finden sich zahlreiche Ausblicke auf außerphilosophische Gebiete. Das Erstlingswerk "Die einsame Insel", das dem Buch den Titel gab, ist eine originelle Kritik der Insel-Literatur –von Daniel Defoes Robinson Crusoe und Jean Giraudoux‘ Suzanne et le Pacifique. Seit diesem frühen Aufsatz von 1953, der nun zum ersten Mal publiziert wurde, hat Gilles Deleuze immer wieder die Verbindung von Literatur und Philosophie betont:
Beide Aktivitäten, die große Literatur und die große Philosophie haben etwas Gemeinsames: sie zeugen für das Leben. Das ist es, was ich die Kraft des Autors nenne.
Bereits die kurzen Texte, die der 28-jährige Gilles Deleuze schrieb, enthalten grundlegende Einsichten, die später in Hauptwerken wie Differenz und Wiederholung oder Logik des Sinns ausgeführt werden. In einem dem Lehrer Jean Hyppolite gewidmeten Aufsatz entwickelt er eine "Ontologie der Differenz", die Hegels Dialektik zu überwinden trachtet. Aber man sieht schnell, daß sich Deleuze nur sehr wenig für die Hegelsche oder Marxsche Dialektik interessierte – ganz im Gegensatz zu den Pariser Intellektuellen, die seinerzeit noch im Bann der marxistischen Orthodoxie standen. Deleuze fand den Ausweg aus dem dialektischen Dualismus bei Henri Bergson, über den er zwischen 1956 und 1966 umfangreiche Texte schrieb. Allerdings handelt es sich bei diesen Schriften niemals um akademische Pflichtübungen. Stets versucht Deleuze in ihnen das herauszufiltern, was seinem eigenen intellektuellen Interesse entspricht: Die Begründung einer Differenz-Philosophie, die das Sein in seiner zeitlichen Differenz faßt. Schließlich kommen die existentialistischen Ideen der Neuheit, Zukunft und Freiheit hinzu. Schon 1956 konnte man bei Deleuze einen völlig neuen Ton in der Philosophie vernehmen:
Philosophie treiben heißt, mit der Differenz zu beginnen. (...) Die Differenz ist der wahre Anfang. (...) [Denn] die Sache erklärt sich durch die Differenz, nicht durch ihre Ursachen.
Aber noch ein anderer Philosoph taucht immer wieder in dem Sammelband auf. Es ist Friedrich Nietzsche, dem Deleuze 1962 mit seinem Buch Nietzsche und die Philosophie eine leidenschaftliche Huldigung schrieb, die über viele Jahre einen fulminanten Einfluß auf die französische Nietzsche-Rezeption hatte. Während man in Deutschland den ungeliebten Philosophen mit Samthandschuhen anfaßte, heißt es bei Deleuze:
Nietzsche ist ein Philosoph, dessen kritische und zerstörerische Macht unvergleichlich ist, aber diese Macht entspringt immer einer Bejahung, einer Freude, einem Kult der Bejahung und der Freude, einem Anspruch des Lebens gegen diejenigen, die es verstümmeln und martern.
Deleuze ist ein Philosoph des Werdens, des Ereignisses. Nur sie öffnen die Gegenwart und machen sie empfänglich für ein zukünftiges Geschehen, für das unerwartet Neue. Aus diesem Grund stand ihm Nietzsche näher als Marx. Näher auch als die ganze Phalanx der Historiker, die sich zwar für die Geschichte, nicht aber für das Werden interessieren. Nietzsche stand schließlich auch für den Anti-Ödipus Pate – das Kultbuch der anti-autoritären Bewegung der siebziger. Interviews, Diskussionen, Manifeste und sonstige Texte bekunden den Einfluß, den das Buch von Gilles Deleuze und Félix Guattari vor dreißig Jahren ausübte. In der Folge des Pariser Mai 68 gehen sie den Wünschen nach, die zu politischen Manifestationen auswuchsen; sie verfolgen die allmähliche Aufweichung einer erstarrten Geschlechtertrennung; sie registrieren die befreiten Stimmen der ethnischen Minderheiten; sie artikulieren die verstärkte Kritik an den geschlossenen psychiatrischen Anstalten; sie demaskieren die schleichende Krise der Familie. Der Anti-Ödipus ist eine Eloge auf die Bewegung und den Prozeß, auf Intensitäten und Grenzerfahrungen, auf Übergänge und Transgressionen. Schließlich eine Eloge auf alles Strömende, allem voran die Wunschströme.
Es mag überraschen, daß im Anti-Ödipus ausgerechnet Sigmund Freud als Feindbild auftaucht. So werfen ihm Deleuze und Guattari vor, die Psychoanalyse als ein Unternehmen gegen das Leben gegründet zu haben. Als eine systemkonforme Wissenschaft, die die gesellschaftliche Ausrichtung der Wunschproduktion ignoriert. Auf die Anklagebank sitzt die Familie, der Agent der Sexualverdrängung, aber auch Ödipus, der Feind der freien Wunschproduktion. Denn bei Ödipus fließt alles nur in die Sackgasse des familialen Dreiecks.
Die Psychoanalyse redet vom Wunsch wie ein Priester. Doch das Unbewußte ist kein Theater, es ist nicht dort zu suchen, wo Ödipus und Hamlet ihr immergleiches Schauspiel aufführen. Das Unbewußte ist eine Fabrik, eine Produktion - ganz im Gegensatz zur psychoanalytischen Auffassung vom Unbewußten als Theater. Das zweite Thema ist das Delirium, das mit dem Wunsch verbunden ist. Wünschen bedeutet im gewissen Sinne Delirieren. Man deliriert nicht über Papa und Mama (...), man deliriert über die ganze Welt, nämlich über die Geschichte, die Geographie, die Stämme, die Wüsten, die Völker, die Rassen, die Klimazonen (...). Das Delirium ist geographisch und politisch, dagegen führt es die Psychoanalyse jedesmal in die Sackgasse der Familie zurück. Schließlich der dritte Punkt: der Wunsch ist aus Gefügen, aus Vielheiten gebildet (...). Entsprechend gibt es immer mehrere Faktoren. Doch die Psychoanalyse reduziert ihn stets auf den gleichen Faktor: den Vater, die Mutter oder den Phallus.
Gilles Deleuze
Die einsame Insel. Texte und Gespräche - 1953 bis 1974
Suhrkamp, 435 S., EUR 34,90