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Werke in fünf Bänden

1988 schrieb Sarah Kirsch in ihrem poetischen Bericht "Allerleih-Rauh": "Ich hatte mehrere Leben, die sich voneinander stark unterschieden, und wenn das eine endete, das nächste begann und es galt, schnell ein paar Abgründe zu überwinden und wieder Land zu sehen, auf dem sich ausschreiten ließ, geschah es, daß ich fest wie ein Stein schlief und dennoch die klarsten, poetischsten Träume hatte, weil in solchen Zeiten persönlicher Revolutionen wahrscheinlich Häutungen erfolgten, die mich empfindlich sein ließen, das bunteste hilfreiche Kino im Kopf erzeugten. Zu Beginn des dritten Lebens in meinem dreiunddreißigsten Jahr war es ein Traum, den ich aufschreiben konnte, als ich erwacht war (...), und es ist möglich, daß ich mich in die Zeit und an den Ort seiner Entstehung rückversetze, was einem Abstieg in ein Bergwerk ja gleichkommt."

Heinz-Ludwig Arnold |
    Es war in ebendiesem ihren dreiunddreißigsten Jahr, daß ich Sarah Kirsch erstmals getroffen habe, 1978, bald nach ihrem Übertritt in den Westen, den sie gegen die Behörden der DDR mit der ihr eigenen Kraft und Resolutheit durchgesetzt hatte. Sie war mit ihrem Söhnchen Moritz, den sie in ihren Büchern gern Moses nennt, aus dem 17. Stockwerk jener Mammut-Platten-Siedlung auf der Ost-Berliner Fischerinsel nach West-Berlin gezogen. Sie war zu einer Lesung nach Göttingen gekommen, ins überfüllte Auditorium des Deutschen Theaters. Seither habe ich mich immer wieder mit ihren Gedichten und Prosatexten beschäftigt, die nun in einer schönen fünfbändigen Ausgabe gesammelt sind, was Gelegenheit gibt, anläßlich ihres fünfundsechzigsten Geburtstags wieder einmal ins Bergwerk ihres poetischen Werks einzusteigen.

    Damals, 1978, kannte ich nur ihren zweiten Gedichtband: "Zaubersprüche" von 1973, und erinnerte aus dem Gedicht "Besinnung" die beiden rebellischen Strophen:

    "Was bin ich für ein vollkommener weißgesichtiger Clown/ Am Anfang war meine Natur sorglos und fröhlich/Aber was ich gesehen habe zog mir den Mund/In Richtung der Füße/Erst glaubte ich das Eine dann an das Andere/Nun schneide ich mein Haar nicht mehr und horche/Wie dir und mir die Nägel wachsen, Hühnchen/Die Daunen ausgehn, sie Fett gewinnen"

    Damals hatte Sarah Kirschs kritische Besinnung auf die sozialistische Realität, in der sie lebte, wohl auch eingesetzt nach Erkenntnissen, die sie auf ihrer Materialsuche und erneuten Wirklichkeitserfahrung gesammelt hatte - die Arbeitswirklichkeit in der DDR war ihr ja nicht fremd, sie hatte nach dem Abitur in einer Fabrik gearbeitet und dann ein Studium der Biologie abgeschlossen -; die Ergebnisse dieser Sondierungen in der sozialistischen Arbeitswelt hatte sie 1973, im Jahr der "Zaubersprüche", niedergeschrieben, in "Die Pantherfrau" hatte sie jene Texte versammelt, die den sozialen und beruflichen Verhältnissen von fünf Frauen nachforschten, Texte, die sie "Romanextrakte" genannt hat. Sieht man sie, von heute her, zusammen mit den gleichzeitig erschienenen ersten Erzählungen in dem Band "Die ungeheuren bergehohen Wellen auf See", so kann man mutmaßen, daß nach den maßgeblichen lyrischen Arbeiten Sarah Kirsch damals auch auf der Suche nach neuen Artikulationsformen war - zur Prosa hin, freilich kaum zur sozialistisch- realistischen. Doch daraus wurde - einstweilen - nichts. Prosa hat Sarah Kirsch erst nach vielen Jahren wieder geschrieben.

    Wie tief aber Sarah Kirschs Verletzungen durch das "Ländchen", wie sie die DDR zuweilen nannte, waren und deshalb ihre Aversionen gegen diesen längst untergegangenen Staat noch immer sind, macht diese Werkausgabe deutlich: Denn in ihr fehlen nicht nur die Texte aus der "Pantherfrau", in denen sich Sarah Kirsch ja auf die Wirklichkeit des "Ländchens" eingelassen hatte; und ihre drei in der DDR erschienenen Gedichtbände "Landaufenthalt" von 1967, eben die "Zaubersprüche" von 1973 und "Rückenwind" von 1976 werden nur mit ihren späteren westdeutschen Lizenzausgaben nachgewiesen.

    Sarah Kirschs Gedichte, die damals entstanden sind und den besonderen Klang ihrer Lyrik ausgebildet und berühmt gemacht haben, standen schon damals quer zum herrschenden Literaturbegriff der DDR, weil sie die individuelle Erfahrung über die gesellschaftliche stellten. Und schon im ersten Band "Landaufenthalt" stehen jene Gedichte, die bis heute zu ihren eindringlichsten gehören, zum Beispiel jenes von der sehnsüchtig "bei den weißen Stiefmütterchen" Wartenden:

    "Bei den weißen Stiefmütterchen/Im Park wie ers mir auftrug/Stehe ich unter der Weide/Ungekämmt Alte blattlos/Siehst du sagt sie er kommt nicht/Ach sage ich er hat sich den Fuß gebrochen/Eine Gräte verschluckt, eine Straße/Wurde plötzlich verlegt oder/Er kann seiner Frau nicht entkommen/Viele Dinge hindern uns Menschen/Die Weide wiegt sich und knarrt/Kann auch sein er ist schon tot/Sah blaß aus als er dich untern Mantel küßte/Kann sein Weide kann sein/So wollen wir hoffen er liebt mich nicht mehr"

    Solche Gedichte hat, anläßlich ihrer "Zaubersprüche", Sarah Kirsch damals Gedichte genannt, "die sich aus einer Gelegenheit entfalten": Gedichte also, die nicht nur Empfindungen beschreiben, umsetzen in Stimmung aus Wort und Tönung, sondern die, indem sie aus den Gelegenheiten wachsen, auch die Ursachen der Empfindungen enthalten und abbilden, freilich verschlüsselt, eingezogen in das Zusammenspiel von Klängen, Farben und Bildern. Das gilt, variantenreich, bis heute. Aus dem nächsten Gedichtband, dem letzten in der DDR erschienenen: "Rückenwind", hat Sarah Kirsch damals in Göttingen gelesen: Liebesgedichte, Naturgedichte: aus Gelegenheiten und bei Gelegenheiten entstandene Gedichte von meist zarten Stimmungen. Pastelltöne, keine grellen Farben und Bilder; dennoch sind diese Gedichte keine Idyllen - im Gegenteil. Wo die Idylle erscheint, Ursache vielleicht einer gelegentlichen Stimmung, wie im Gedicht "Ende Mai":

    "Du schick die leichteste/Aller Tauben windförmig sie bringt/Ungeöffnete tagschnelle Briefe. Schatten/Unter den Augen; mein wüster Herzschlag."

    Wo also Idyllik aufzukommen scheint, folgt bald darauf der Gegensatz: da wird die Idylle, abstrakt wie die leichteste aller Tauben über der Wirklichkeit schwebend, zerstört vom Blick, der unter dem schönen Schein eine idyllenlose Wirklichkeit erkennt und zu ihr hin drängt; denn weiter heißt es in diesem Gedicht:

    "Unfroh seh ich des Laubs grüne Farbe, verneine/Bäume Büsche und niedere Pflanzen: ich will/Die Blätter abflattern sehen und bald. Wenn mein Leib/Meine nicht berechenbare Seele sich aus den Stäben/Der Längen- und Breitengrade endlich befreit hat.

    Oder auch umgekehrt wird Wirklichkeit benannt, um vonvorneherein den Schein des Idyllischen, der entstehen könnte im Anblick von Natur, ursächlich zu zerstören:

    "Ein Bauer mit schleifendem Bein/Ging über das Kohlfeld, schwenkte den Hut Als wäre er fröhlich."

    Nur ein ganz kurz angeleuchtetes Bild, voller Lakonie, in dem der Prozeß von Sehen, Fühlen, Denken und Erkennen im Moment konzentriertester Wirkung festgehalten ist. Das Gedicht Sarah Kirschs vermeidet bewußt den großen lyrischen Gestus; das liest man schon den Titeln ab: "Sommergedichte" - "Wintergedichte" - "Katzenkopfpflaster" - "Drachensteigen" - "Wind" - "Schatten" - "Erdreich" - "Zwischen Herbst und Winter" - "Katzenleben" - "Landwege" - "Luft und Wasser" - "Schneewärme" - "Die Flut" - samt und sonders nüchterne Titel, die Zeiten und Orte in der Natur benennen und ab den 80er Jahren auch viel mit ihrem Leben auf dem schleswigholsteinischen Lande zu tun haben - und sogar "Erlkönigs Tochter" mag im Nebel an der Eider sich bilden.

    Prosa hat Sarah Kirsch nach der "Pantherfrau" und den "Ungeheuren bergehohen Wellen auf See" lange Zeit nicht veröffentlicht - bis 1980 ein Bändchen mit Prosatexten erschien, "La Pagerie": kurze Notate nach einem sommerlichen Aufenthalt in einem alten verfallenden provencalischen Schlößchen - Texte, die Stimmungen evozieren, nicht beschreiben; leichte, helle, eben sommerliche Texte, deutlich Prosa, weder Vorstufen zu Gedichten noch lyrische Prosa:

    Im Schloßhof stehen die weißen Tische, sitzen die Stühle mit ihren rosa Pfefferminzplätzchenkissen, Licht wird verschwendet. Das Hündchen liegt da als ein Bettvorleger, knurrt und stinkt. Grünes Pergament in den Bäumen, jedes Blatt mit über dreißig Zipfelchen.

    Sechs Jahre später folgte neuerlich ein Band mit Prosatexten: "Irrstern"". Darin dieses kleine Prosastück: "Nebel":

    "Mitte des achten Monats während ich Wolle am Brunnen wasche kann ich meine Füße nicht mehr erkennen und lange das Haus nicht das ich verließ. Alte Weiber setzt man ins Moor aus Kiebitze hüten sie rufen mit verschimmelten Stimmen gegen den Wind und gehen allmählich verloren. Die Nächte werden länger die Träume dunkler und allenthalben stürzen Flugzeuge Bewohner des Irrsterns herunter in unwegsame Gebirge."

    Nicht nur ihre Stimmung unterscheidet diese Texte von jenen aus "La Pagerie". Vor allem sind die sprachlichen Mittel, die sie nun hervorrufen, andere: Der Blick des sprechenden Ich, samt all seinen Sinnen, geht nicht nur über die wahrnehmbare Fläche der Gegenstände, Landschaft, Tiere und Menschen, sondern richtet sich auch nach Innen, holt Erinnerung herein, spinnt Gedankenfäden weiter, wird mehrschichtig, dem Geschauten verbindet sich Gedachtes und Erahntes, und dies oft wie im Traum mit seiner ganz eigenen Grammatik. Etwa dieser Satz aus dem Text "Drosseln":

    "Zu große aufgepustet Drosseln in der schwarzen nach Nordost geneigten Allee bis der Milchwagen später als sonst die Reise beginnt das Tuckern des Treckers lange zu hören ist gar nicht zur Ruhe gelangen kann immer wieder in der blitzenden Luft hängt von Einöde zu Einöde schwingt sich am Mittag verdoppelt wen der Trecker zurückkehrt mit sorglosen pfeifenden Kannen."

    Man mache eine kleine Übung mit einem anderen kurzen Text, der "Trost" überschrieben ist und weder Punkt noch Komma hat; er kommt geheimnisvoll daher:

    "Aber das macht nichts je früher desto besser im Sommer ist Sommer später fällt dir der kleine Zahn Träume von Zähnen betreffen Verwandtschaft einfach so hin ins Gras"

    Der Text, wie gesagt, endet ohne Punkt, endet also wohl nicht, geht weiter, aber wie? Wer mag aufheben, was da so ins Gras fällt? Und was fällt da? "der kleine Zahn"? Jedenfalls auch etwas, das aus einem Traum stammen kann. Und die Satzteile davor? "Aber das macht nichts" - "je früher desto besser" - "im Sommer ist Sommer": Trostsprüche, so dahingesagte, Banalitäten? Doch das kann man ja auch anders lesen: "Aber das macht nichts. Je früher desto besser im Sommer. Ist Sommer später, fällt dir..." Oder auch der Satz "Je früher desto besser im Sommer ist Sommer. Später fällt..."- ist denkbar. Das läßt sich, nicht gerade beliebig, aber immer spielerisch fortsetzen: Denkbares wird evoziert, Phantasie in Gang gesetzt und gefordert: Leser mobilisiert Eure Träume!

    Auch der Satz aus dem Text "Drosseln" steht in einer Sprache bzw. Grammatik, die unterschiedliche Wahrnehmungen ineinanderzieht oder überlagert, deshalb der Phantasie unterschiedliche Lesarten bereitstellt: Während das formulierende beobachtende phantasierende - träumende? - Ich die Drosseln in der Allee und den Milchwagen sieht, hört es das - penetrante? - Tuckern des Treckers; und dann wird aus dieser ziemlich 'normalen' Beschreibung ein polyphoner Text bzw. Vorgang, wie er in solcher Überlagerung auch in Träumen begegnet. Wollte man die Grammatik solcher Traumsprache im Wachzustand in Sprache setzen, könnte sie wohl in solcher Transkription der meisten Texte aus "Irrstern" erscheinen.

    Die Landschaft auch dieser Texte liegt im Norden, am Rande eines Dorfes - und eben im Inneren des vermittelnden Ich. Doch Idyllen wollen da nicht entstehen - diese Texte sind weit entfernt von jenen heiteren aus der sommerlichen Pagerie. Obgleich das Titelwort "Irrstern" nur einmal in den Texten erscheint, liegt es allen zu Grunde, weil alle auf diesem Irrstern entstanden sind, und in seines ständigen Gedenken. "...es wird ein schlimmes Ende nehmen und bald" schließt einer, doch so eindeutig wie hier im verkürzenden Zitat ist auch dieser Text nicht.

    Vereindeutigungsversuche kommen dieser Prosa nicht bei. Denn sie bildet auch die Schizophrenie unserer alltäglichen Existenz ab, wie sie sich aus unserem selektiven Wahrnehmungsvermögen innerhalb einer zerfallenden und gleichzeitig komplexen und unüberschaubaren Welt aufschließen, ohne doch restlos erschlossen werden zu können. Noch in dem Prosa-Band "Schwingrasen" von 1991 ging Sarah Kirsch auf dieser Spur weiter, nahm dort freilich auch Texte auf, die sichtlich unverhüllte Erinnerungen waren, oder Aufzeichnungen aus dem Alltag - solch autobiographisches Schreiben hat Sarah Kirsch in den beiden Bänden "Spreu" (ebenfalls 1991) und "Das simple Leben" von 1994 recht offen betrieben, eine ungewöhnliche Wendung in ihrem Schreiben: Erstmals stehen fast unverschlüsselte Berichte in ihrem Werk, gar in Tagebuchform, aber das so offen Mitgeteilte wird in bisweilen schnoddriger Sprache niedrig gehängt, ins Alltägliche gezogen, wo es auch hingehört. Ganz anders als in "Allerlei-Rauh" von 1988, worin Sarah Kirsch eben jenen Sommer poetisch noch einmal beschwor, den Christa Wolf in ihrem "Sommerstück" nur wenig verhüllt nacherzählt hat: ein bei aller Poesie auch kritischer Bericht über den letzten Besuch bei der Freundin und den alten Freunden in Mecklenburg, in der DDR, die es nun nicht mehr gibt.

    Auch viele Gedichte Sarah Kirschs gewinnen mit der Zeit den herben Klang solch poetisch-kritischer Ambivalenz. Vor allem in den beiden Gedichtbänden "Schneewärme" aus dem Jahre 1989 und "Erkönigs Tochter" von 1992 gibt es viele Texte von, freilich milder, Ironie. Von ihnen unterscheidet sich auffällig der letzte Gedichtband "Bodenlos" von 1996, der fast wie ein geschlossener Zyklus gebaut ist. Wem der Boden entzogen wird, der fällt in den Abgrund, oder muß leichter werden als der Boden. Und fliegen. Besser noch schweben; es wäre die schönere Rettung. Sarah Kirschs Gedichte in "Bodenlos" sind, nimmt man ihr Äußeres, leichter geworden, kürzer. Solche Dreizeiler gab es bei ihr fast nie:

    "Inkubus/Springst du mit mir/über die eiskantigen Gräben"

    Doch solcher Hexenwunsch, Formel der Sehnsucht nach Erlösung aus der Einsamkeit, bleibt unerfüllt. Und aus der Einsamkeit heraus erzählen die meisten der 54 Gedichte dieses Bandes die Geschichte vom Lieben und vom Vergehen, und man darf sagen, daß diese Gedichte solches erzählen, weil ihre Choreographie so meisterhaft ist, daß der gesamte Band wie ein großer Hymnus gelesen werden kann. Immer trugen ja einzelne Gedichte von Sarah Kirsch über die Liebe neben deren hellen und leuchtenden Bildern auch die Schatten in sich, und Gedichte von der Natur betrauerten in deren Schönheiten stets auch deren weltlichen Vergang. Dieser Zyklus freilich lebt in seiner Gesamtheit von dieser Spannung zwischen Sehnsucht und Erfüllung. Der "schöne Kummer" muß ausgetragen werden im "tiefen Herzen". Auf diese, die Struktur des Bandes durchgehend formende, inhaltliche Disposition seines Themas deutet auch die Wahl seines Mottos aus dem Journal von Gerard Manley Hopkins: "Zwei schöne Amboßwolken tief auf der Erdlinie in gegenüberliegenden Quartieren, so daß ich zwischen ihnen stand."

    Die strukturelle Spannung wird mit den ersten Zeilen des ersten Gedichts "Mond Glunst Rauch" formuliert: "Ich fahre vorwärts ich denke / Zurück weit entfernt / Ist mein Herz von früher", das freilich endet mit der lakonischen Feststellung "erinnere nichts weiter". Doch schon im zweiten Gedicht "Geduld" wird in höherem Ton der mythische Fluß Lethe angesprochen, aus dem die Verstorbenen tranken, um ihr irdisches Dasein zu vergessen. Im Zentrum des dritten Gedichts steht der Satz "Das Herz hat einen Riß", und im vierten der Wunsch: "Ich habe Lust durch die / Sümpfe zu gehen." Im fünften Gedicht schließlich wird der Tod unmittelbar erinnert:

    "Im Mondlicht hör ich/Stolpern und Fallen./Man hat den/Tischler Maß nehmen Lassen. O die/Dunkelheit dauert und/Dauert. Falls ich den/Sommer erlebe lebe ich Tanzend."

    Der Zauber dieser Gedichte lebt von der unnachahmlichen Verbindung einfachster Sprache und unmittelbar auf den vorrationalen, gleichsam den lyrischen Solarplexus gezielter Bilder. Der typisch Klang früherer langer Gedichte Sarah Kirschs fehlt hier fast ganz; als verlange eine existentielle Erfahrung, wie sie hier durch den gesamten Band noch einmal erinnernd entfaltet wird, die klarste und unmittelbarste poetische Sprache: reine Poesie als Medium tiefster Empfindung, bar jeglichen lyrisierenden Schmucks.

    Noch etwas anderes macht den großen Reiz dieses Zyklus aus: Die doppelte Themen-, ja Melodie-Führung nach der Exposition: Was aus der Erinnerung kommt, also vergangen und der Sehnsucht ausgeliefert ist, wird noch einmal als 'real' vergegenwärtigt, noch einmal ganz einfach, liedhaft in den Farben des Glücks gemalt. Zugleich bleibt die Sehnsucht als Spannung zwischen Nähe und Distanz, zwischen Höhenflug und Absturz, erhalten:

    "Ich sehe Wolken nach die sich/Langsam nach Süden entfernen./Wenn ich auch dorthin könnte."

    Und schließlich wird die Sehnsucht übermächtig im Titelgedicht "Bodenlos":

    "Wohne seit langem am Boden/Der Flüsse. Die Schwäne/Rudern über das Blau. Siehst du/Ihn noch? fragt mich die/Ralle. Ja überall."

    Aber man sieht nicht konkret, was man "überall" sieht: Man sieht "überall" nur noch das Verlorene, weil man es "überall" zu finden hofft Einst wurde die Sehnsucht, wie im frühen Gedicht "Bei den weißen Stiefmütterchen", bei allem Kummer klangvoll und durchaus hoffnungsvoll intoniert. Die sparsame Genauigkeit der letzten Gedichte von Sarah Kirsch signalisiert nun eine Sehnsucht, die aus einer unüberwindbaren Einsamkeit kommt:

    "So viel Sehnsucht/Tag und Nacht. Hab gerade/Die Pflanze Herzgespann uns erfunden."

    Auf diese Weise ist die verlorene Gemeinsamkeit aber für alle Zeiten aufgehoben und bewahrt: im Zyklus dieser Gedichte. Aber nicht überwunden.