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Westintegration vor Wiedervereinigung

Der vor 60 Jahren in Bonn unterzeichnete Deutschlandvertrag gilt bis heute als wichtige Etappe auf dem Weg zur Souveränität der jungen Bundesrepublik. Zugleich zementierte der mit ihm eingeschlagene Weg der Westintegration die deutsche Teilung für viele Jahre.

Von Bernd Ulrich | 26.05.2012
    "Ob die Geschichte diesen Tag als einen großen Tag bewerten wird, - oder ob sie ihn als einen Fehlschlag bezeichnen wird, das weiß keiner. Wir kämpfen noch leidenschaftlich um das Für und Wider."

    Der Reporter, der am 26. Mai 1952 von der Unterzeichnung des Deutschlandvertrags in Bonn berichtete, war sich nicht sicher, wie er das Ereignis bewerten sollte. Die Auseinandersetzung über den "Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten", kurz General- oder Deutschlandvertrag genannt, hielt auch am Tage der Unterzeichnung unvermindert an. Der Leiter des Amtes für Information der DDR, Gerhart Eisler, überschlug sich geradezu in seiner noch am 26. Mai gehaltenen Rede; er prägte dabei den Begriff "Generalkriegspakt", der sich in der DDR schnell für das Vertragswerk einbürgern sollte:

    "Heut können sie lachen – sie haben unterzeichnet. Morgen werden sie weinen, weil ihnen der ganze Generalkriegspakt in ihr eigenes Gesicht explodieren wird und dass er bald explodiert, dafür müssen wir helfen!"

    Bundeskanzler Konrad Adenauer sah die Angelegenheit naturgemäß ganz anders. Denn schließlich sollte der mit den USA, Frankreich und Großbritannien abgeschlossene Vertrag der jungen Bundesrepublik zur Souveränität verhelfen und zum Ende des Besatzungsregimes der Westalliierten führen:

    "Die Unterzeichnung hier in diesem Raume ist, wenn man sie im Zusammenhang sieht mit der Unterzeichnung des Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft morgen in Paris, in Wahrheit ein Ereignis von historischer Bedeutung. Hier ist jetzt ein Schlussstrich gezogen worden unter den schrecklichen Krieg und die Nachkriegszeit."

    Adenauers Verweis auf die einen Tag später stattfindende Unterzeichnung des Vertrages zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft – die EVG – öffnet den Blick auf die anhaltende Heftigkeit der um ihn entbrannten Diskussionen. Denn die EVG, an deren Gültigkeit der Deutschlandvertrag gekoppelt war, sah die unter den Deutschen äußerst umstrittene Wiederbewaffnung vor. Sie bildete den Kern einer Politik der Westintegration bei voller Souveränität, wie sie von Konrad Adenauer verfolgt – und schließlich auch von den Westalliierten gewünscht wurde. Insbesondere der Beginn des Koreakrieges am 25. Juni 1950 wirkte beschleunigend auf diese Entwicklung. Deren Höhepunkt bildeten Adenauers geheime und öffentliche Angebote eines westdeutschen Wehrbeitrags.

    Was hieß das aber für die von allen Parteien angestrebte deutsche Einheit? Insbesondere die im Deutschlandvertrag festgeschriebene Bindungsklausel, wonach ein wiedervereinigtes Deutschland zum Westen gehören müsse, bereitete der Opposition Kopfschmerzen. Der Sozialdemokrat Carlo Schmid am 10. Juli 1952 im Bundestag:

    "Und nun kann Deutschland doch nur zustande kommen, wenn die Russen mit gesamtdeutschen Wahlen einverstanden sind. Und glaubt man denn, dass sie das tun werden, wenn von vornherein feststehen soll, dass der Teil, den Russland aufgibt, einem Block zugeschlagen werden soll, den dieses Russland als feindselig empfindet?"

    Der Deutschlandvertrag und der EVG-Vertrag wurden von den Parlamenten der beteiligten Staaten schließlich ratifiziert. Allein - die französische Nationalversammlung lehnte aufgrund eines nicht versiegenden Misstrauens gegenüber Deutschland beide Verträge am 30. August 1954 ab, die damit nicht in Kraft treten konnten.
    Der spätere Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer hielt sich zu diesem Zeitpunkt zu einem Studienaufenthalt in Paris auf und berichtete in einem Brief an seine spätere Frau:

    "Ich werde in der kommenden Woche ins Parlament gehen, um die Europadebatte zu verfolgen. Die Franzosen haben Angst, fürchten Deutschland jeden Tag mehr. Es ist ein Jammer."

    Das Scheitern von Deutschlandvertrag und Verteidigungsgemeinschaft im Sommer 1954 vermochte allerdings nicht, die Westbindung der Bundesrepublik und deren damit verbundene Souveränität aufzuhalten oder gar zu verhindern, - jene Souveränität, zu deren Erlangung die Unterzeichnung des Deutschlandvertrags eine so bedeutende Etappe gebildet hatte.

    Am 5. Mai 1955 wurde Westdeutschland schließlich kraft der schnell verhandelten und ratifizierten Pariser Verträge souverän und trat vier Tage später der NATO bei. Am 20. September erkannte die Sowjetunion ihrem Vasallenstaat DDR die Souveränität zu und förderte deren Beitritt zum Warschauer Pakt. Es sollte 15 lange, quälende Jahre dauern, bis zwischen beiden deutschen Staaten der diplomatische Dialog beginnen konnte.