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Auf dem Weg zur europäischen Einigung

Im Konservatorenpalast des Kapitols in Rom unterzeichneten die Vertreter Frankreichs, Italiens, der Niederlande, Belgiens, Luxemburgs und Deutschlands die Römischen Verträge. Eine Selbstverständlichkeit war die Zeremonie an diesem 25. März 1957 nicht.

24.03.2007
    "Der Kapitolsberg liegt im Scheinwerferlicht gebadet. Dieser mächtige, quadratische Platz von Michelangelo entworfen, bildet eine Szenerie, die verpflichtet. Jeder, der heute Abend in Rom ist und der weiß, worum es geht, wird hoffen, dass der Platz, die Lichter, die Glocke, die nur zu gewissen Feierstunden läutet, die Menge, die dort zusammengepfercht stand, die beklatschte Auffahrt der schwarzen Wagen, dass das alles mehr bleiben wird als nur Staffage, die im grauen Morgenlicht verweht."

    "..Die Europäische Gemeinschaft verfolgt nur friedliche Zwecke. Sie richtet sich gegen niemand. Sie ist gegenüber jedem Staat zur Zusammenarbeit bereit. Der Beitritt steht allen europäischen Staaten offen."

    Im Konservatorenpalast des Kapitols in Rom unterzeichnen die Vertreter Frankreichs, Italiens, der Niederlande, Belgiens, Luxemburgs und Deutschlands die Römischen Verträge. Eine Selbstverständlichkeit ist die Zeremonie an diesem 25. März 1957 nicht. Der deutsche Bundeskanzler, Konrad Adenauer, sagt, nachdem auch er seine Unterschrift geleistet hat:

    Konrad Adenauer (Erklärung vom 25. März 1957):
    "All zu viel Aufgaben liegen noch vor uns. Aber der Freude darüber, dass es uns vergönnt ist, den großen Schritt zur Einigung Europas zu tun, der in der Unterzeichnung der beiden Verträge liegt, dieser Freude möchte ich doch Ausdruck geben, denn diese Freude wird von Millionen und Abermillionen unserer Völker geteilt, die in diesem Augenblick im Geiste bei uns sind. Noch vor kurzem erschien die Einigung, die wir jetzt vertraglich festlegen, vielen nicht wahrscheinlich."

    Der Befund nach dem Krieg ist eindeutig: Europa liegt in Trümmern, zwischen den Machtblöcken USA und Sowjetunion droht dem alten Kontinent die politische Bedeutungslosigkeit. Der friedliche Zusammenschluss der Europäer gilt als einzig gangbarer Weg.

    Die Blaupause für ein geeintes Europa liefert Winston Churchill mit seiner Züricher Rede am 19. September 1946:

    Winston Churchill: "”Unter dem Dach dieser Weltorganisation müssen wir die europäische Familie gruppieren, nennen wir es die Vereinigten Staaten von Europa. Der erste praktische Schritt muss die Gründung eines europäischen Rates sein. In all diesen notwendigen Aufbauschritten müssen Frankreich und Deutschland die gemeinsame Führung übernehmen.""

    Im Mai 1948 ist Winston Churchill wieder dabei, als in Den Haag fast 800 Politiker tagen und am Ende ihres Kongresses die wirtschaftliche und politische Einheit Europas fordern. Sie setzen einen Ausschuss ein und bereiten damit den Weg für das Statut des Europarates.

    Reportage Europarat: "5. Mai 1949. Vor dem St. James Palast in London fahren kurz vor elf die schwarzen Staatslimousinen vor, Vertreter von zehn Nationen wollen das Statut eines Europarates unterzeichnen: Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen und Schweden."

    Der gute Wille ist da, allerdings sind die Kompetenzen des Europarates beschränkt. Einstimmigkeit in nahezu allen Fragen bedeutet Schwerfälligkeit. Europas Jugend fordert mehr. 1950 kommt es vielerorts zu Demonstrationen für ein geeintes Europa, auffällig viele Jugendliche aus Deutschland engagieren sich. Sie sind auch dabei, als, symbolisch, Schlagbäume an der deutsch-französischen Grenze zerstört werden.

    Jugendliche: "Wir kommen aus Heidelberg in Europa, wir kommen von Bonn in Europa, wir kommen von Mainz in Europa, wir kommen aus Amsterdam in Europa, Rom in Europa, Bern in Europa….."

    Die politischen Einigungsversuche sind unvollkommen. Weder die Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit OEEC, die 1948 auf Initiative der Amerikaner in Paris besiegelt wird, noch der Europarat tasten die Souveränität der Nationalstaaten an. Das ändert sich erst am 9. Mai 1950. Der französische Außenminister, Robert Schuman, hat in den Uhrensaal des Ministeriums am Seine-Ufer eingeladen. Kein Routinetermin zwar, aber auch nicht hoch bewertet – der staatliche Rundfunk jedenfalls erscheint gar nicht erst und auch ein Fotograf ist nicht anwesend. So gibt es kein authentisches Dokument über den Augenblick, in dem Robert Schuman verkündet, was sich sein Berater Jean Monnet bei einer Wanderung in den Schweizer Bergen ausgedacht hatte:

    "Schuman-Plan": "Die gesamte deutsch-französische Kohle- und Stahlproduktion ist einer Hohen Behörde zu unterstellen. In einer Organisation, die den anderen Ländern Europas zur Teilnahme offen steht. Damit sollen die echten Grundlagen einer wirtschaftlichen Vereinheitlichung dieser Nationen geschaffen und konkrete Fundament einer europäischen Föderation gelegt werden."

    Die Montanunion ist geboren. Denn am Vorabend hatte Konrad Adenauer von einem Boten aus Paris die Nachricht über Schumans Plan erhalten und umgehend gebilligt. Gemeinsame Arbeit auf dem Gebiet der Grundstoffindustrien, keine gegeneinander gerichtete Rüstung mehr:

    Adenauer zu Schumans Absichten: "Es handelte sich eben auch darum, psychologisch zu wirken. Wir müssen uns doch darüber klar sein, dass französische Bevölkerungskreise vielfach noch immer in dem Gedanken leben, dass Deutschland ein eventueller, zukünftiger Gegner sein werde. Die psychologische Bedeutung, die Frage der Beruhigung solcher Befürchtungen im eigenen Land, und die Erweckung des Gefühls der Zusammengehörigkeit zwischen Deutschland und Frankreich waren die ersten Triebfedern, die Herr Schuman geleitet haben."

    Am 18. April 1951 wird die Montanunion besiegelt. Schuman, wie Monnet ein Kenner Deutschlands und der deutschen Sprache, sagt an diesem Tag:

    "Kohle, Eisen und Stahl sind nunmehr Gemeingut geworden einer europäischen Bevölkerung von 156 Millionen Einwohnern, "Klein-Europa" sagt man mit Geringschätzung – ein Europa, das 156 Millionen zählt, das ist nicht so klein, das stellt die Hälfte des jetzt frei lebenden Europa dar. Und das ist für einen Anfang schon immerhin etwas."

    Ein Anfang. Immerhin. Ideen, die Motanunion auf andere Wirtschaftsbereiche zu übertragen, gibt es reihenweise. Meist scheitern sie an Bedenken Großbritanniens oder der skandinavischen Staaten.

    Steinig ist der Weg bis zu den Römischen Verträgen über den gemeinsamen Wirtschaftsraum aber vor allem aus taktischem Fehlkalkül. Nicht nur Adenauer ist der Auffassung, die politische und militärische Zusammenarbeit bringe Europa voran. Da Deutschlands Wiederbewaffnung auf der Tagesordnung der Amerikaner steht und die übrigen Europäer den Prozess gestalten wollen, ohne sich fürchten zu müssen, entsteht der Vertrag über eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft. Dem Akt der Unterzeichnung am 27. Mai 1952 folgt allerdings nicht die Umsetzung des Vertragstextes, sondern eine der ersten großen Krisen im europäischen Nachkriegsgefüge.

    Die französische Nationalversammlung lehnt den EVG-Vertrag am 30. August 1954 ab. Das Ratifizierungsverfahren hat zu lange gedauert, die Dynamik des Augenblicks ist auf der Strecke geblieben, die französischen Gegner einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft mit Deutschland hatten Zeit, sich zu formieren. Erich Ollenhauer, der Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag:

    "Das deutsche Volk, jedenfalls wir deutschen Sozialdemokraten, werden morgen von Neuem bereit sein ernsthaft zu versuchen, eine echte Zusammenarbeitsmöglichkeit mit dem französischen Volke zu finden."

    Die Gründungseuphorie der Nachkriegszeit erweist sich als überzogen. Gedanken über einen militärischen und politischen Zusammenschluss verkommen zur Utopie. So behält Robert Schuman vorläufig Recht, dass Europa nicht an einem Tag erbaut werde.

    Der Schock des gescheiterten Verteidigungsvertrages sitzt tief und wirkt wie ein Weckruf im Hochsommer. Die Europäer besinnen sich auf eine Idee, die in den Wirren um den EVG-Vertrag untergegangen war. Die niederländische Regierung hatte, im Gründungsrausch der frühen fünfziger Jahre, die Bildung eines gemeinsamen Marktes und einer Zollunion angeregt. Im Dezember 1954 tagt die Gemeinsame Versammlung der Montanunion, um diesen Gedanken zu vertiefen. Konferenz folgt auf Konferenz, Vorschlag auf Vorschlag und schließlich landet all dies auf dem Tisch der Außenministerkonferenz in Messina am 1. und 2. Juni 1955. Unter Leitung des belgischen Ressortchefs, Paul-Henri Spaak, streben die sechs Staaten die Gründung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, einer Atomgemeinschaft und den Bau eines Fernstraßennetzes an.

    Die britische Regierung, die zu den Verhandlungen in Messina eingeladen und zum Mitmachen ermuntert worden ist, lehnt ab. Spaaks Bericht wird in Venedig Ende Mai 1956 gebilligt, von Juni an wird in Brüssel verhandelt, nach neun Monaten darf die Geburtsstunde des gemeinsamen Marktes gefeiert werden.

    Reportage 25. März, Rom: "Alle Schüler haben heute frei in Rom und ganz Italien, und in den höheren Schulen haben heute morgen europäische Feierstunden stattgefunden, die Direktoren und Professoren haben die italienische Schuljugend über die historische Bedeutung und die Tragweite des heutigen Tages aufgeklärt."

    Deutschland, Frankreich, Italien, die Niederlande, Belgien und Luxemburg vereinbaren den gemeinsamen Markt in drei Stufen binnen 12 Jahren. Sie nehmen sich die Abschaffung der Zölle vor und wollen den Personen- Dienstleistungs- und Kapitalverkehr erleichtern. Die Europäische Atomgemeinschaft, der zweite zentrale Teil der Römischen Verträge, verpflichtet die Unterzeichner zu gemeinsamer Forschung und einheitlichen Sicherheitsnormen.

    Adenauer: "Die Verträge sind umfangreich und verwickelt. Die Fülle der modernen, technischen und wirtschaftlichen Probleme hat das notwendig gemacht. Nicht alle Einzelheiten dieser umfangreichen Regelungen, über die sich sechs Staaten einigen mussten, haben überall einstimmigen Beifall gefunden. Das ist selbstverständlich. Wir dürfen aber nicht über den Einzelheiten das wahrhaft Große des erreichten Fortschrittes übersehen: Nur ein immer festerer Zusammenhalt unserer sechs Staaten gewährleistet uns allen die Sicherung unserer freiheitlichen Entwicklung und unseres sozialen Fortschritts. Natürlich genügt dazu nicht der Buchstabe von Verträgen, sie müssen mit Leben erfüllt werden. An diese Aufgaben gehen wir mit Kraft und mit Vertrauen heran."

    Deutschlands Nachbarn wollen den einstigen Kriegsgegner einhegen. An der atomaren Zusammenarbeit sind sie ohnedies interessiert. Auch ist Aussöhnung möglich und gewollt, allerdings nicht um den Preis weitgehender politischer Selbstaufgabe. So bereiten die Römischen Verträge vorerst nur den wirtschaftlichen Weg und zeichnen das organisatorische Fundament der Europäischen Gemeinschaft vor. Und doch sind die Verträge mehr als das Resultat nur handelspolitischer Vernunft. Das zeigt die Entschlossenheit, mit der die sechs stur weiterverhandeln, obwohl Großbritannien versucht, sein Modell einer lockeren Freihandelszone im Rahmen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa durchzusetzen.

    Mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wollen Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten ein festeres Band knüpfen und so den Willen zur politischen Integration verstärken und zum Ausdruck bringen. So handeln sie nach der Devise: Lieber eine kleine, aber entschlossene Runde der sechs als einen größeren, aber nur lockeren Handelsverbund. Und so gießen sie mit den Römischen Verträgen auch einen institutionellen Rahmen für das geeinte Europa. Walter Hallstein ist einer der Baumeister der Konstruktion und erster Präsident der EG-Kommission:

    "Der Vertrag regelt nicht, wie ein gewöhnliches Wirtschafts- und Handelsabkommen nur Rechte und Pflichten der beteiligten Staaten auf zwischenstaatlicher Grundlage. Eine derartige Regelung hätte weder den politischen noch den wirtschaftlichen Zielen genügt, die die sechs Staaten anstreben. Der Vertrag ruft vielmehr ein europäisches Gebilde mit besonderen organisatorischen Elementen ins Leben."

    An Rückschlägen mangelt es den Europäern in den Folgejahren nicht.

    Beitrittsgesuche Großbritanniens, Dänemarks und Irlands müssen wiederholt gestellt werden. Am 14. Januar 1963 – wenige Tage vor der Unterzeichnung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages – zeigt Frankreichs Präsident, General de Gaulle, den Briten die kalte Schulter und legt sein Veto gegen einen Beitritt des Königreichs zur Wirtschaftsgemeinschaft ein:

    de Gaulle : "L’Angleterre, elle, …très peux agricole… »"

    Großbritannien, so unterstellt der General, wolle ein Europa zu seinen Konditionen und das bringe der Gemeinschaft der sechs Gründungsstaaten Probleme. Großbritannien sei ein Inselstaat, ein maritim ausgerichtetes Land, mit anderen Handelsinteressen, vor allem mit mangelndem Interesse an der Landwirtschaft.

    ""…acricole."

    Die Gemeinsame Agrarpolitik, die mit den Römischen Verträgen vereinbart wird, ist gerade für Frankreich nicht nur eine wirtschaftliche, sie ist eine kulturelle, eine gesellschaftspolitische Frage. Und so sind es drohende und tatsächliche Interessenkonflikte dieser Art, die der ersten Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft einen Riegel vorschieben. Dass die sechser Runde an der Erweiterung ein Interesse hat, betont Willy Brandt in seiner Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag am 28. Oktober 1969:

    Brandt: "Sie, diese Konferenz der sechs kann darüber entscheiden, ob Europa in den sachlich miteinander verknüpften Themen des inneren Ausbaus, der Vertiefung und der Erweiterung der Gemeinschaft entweder einen mutigen Schritt nach vorn tut oder aber in eine gefährliche Krise gerät. Die Völker Europas warten und drängen darauf, dass die Staatsmänner der Logik der Geschichte den Willen zum Erfolg an die Seite stellen.
    Die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft muss kommen. Sie, die Gemeinschaft, braucht Großbritannien ebenso wie die anderen beitrittswilligen Länder. Im Zusammenklang der Stimmen darf die britische nicht fehlen, wenn Europa sich nicht selbst schaden will."

    Aber erst vier Jahre später, 1973, sind die erneuten Aufnahme-Anträge Großbritanniens, Dänemarks und Irlands erfolgreich.
    Agrarsubventionen, babylonische Sprachverwirrung, Kompetenzenwirrwarr und fehlender politischer Fortschritt nähren immer wieder die Skepsis an der Integrationsfähigkeit des alten Kontinents und lassen etwa Franz Josef Strauß in den siebziger Jahren fragen:

    Strauß: "Ob es überhaupt noch in den siebziger oder achtziger Jahren oder in diesem Jahrhundert zu einer funktionierenden politischen Gemeinschaft der Europäer kommt? Mein Gott, was soll aus Europa werden?"

    Die Europa-Skespis ist verbreitet und steigert sich in den frühen achtziger Jahren in das Schlagwort Euro-Sklerose. Inzwischen ist auch Griechenland Mitglied der Gemeinschaft, die zweite Süderweiterung kündigt sich bereits an. Gaston Thorn, der Präsident der EG-Kommission:

    Thorn: "Frankreich, Deutschland, die drei Beneluxländer, Italien vor 25 Jahren waren Leute, die denselben schrecklichen Krieg mitgemacht hatten, sogar als Gegner, aber die sich aus nächster Nähe, zu nah oft, kennen gelernt hatten, während der schrecklichen Jahre 40-45, man merkt es – jetzt kommen Länder hinzu wie Irland, wie – ein bisschen Griechenland, weil es weiter weg lag im Krieg, Spanien, die nicht diese Geschichte mit uns geteilt haben und da besteht ein gewisses Manko."

    Andere sind gelassener. So nennt Helmut Schmidt als Bundeskanzler die Fortschritte der Europäer seit Unterzeichnung der Römischen Verträge "phantastisch":

    Schmidt: "Ich halte das Krisengerede, das ich aus einem anderen großen internationalen Bündnis nun schon seit zwanzig Jahren kenne, nämlich aus der NATO, zwar für verständlich – was sollen Sie hier in Brüssel auch anderes schreiben und reden – aber für falsch. Ich halte die wirtschaftliche Integration für sehr weitgehend, für phantastisch, gemessen an damaligen Erwartungen – wenn Sie sie an Tatsachen messen und nicht an Illusionen, dann werden Sie sehen, dass das alles gar nicht so schlecht ist."