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"Wichtig ist, dass tatsächlich wieder Nervensignale fließen können"

Medizin.- Ein teilweise gelähmter Patient wurde in den USA erstmals mit embryonalen Stammzellen behandelt. Was sich die Mediziner von dem Eingriff genau erhoffen, erklärt Wissenschaftsjournalist Michael Lange im Interview mit Monika Seynsche.

12.10.2010
    Uli Blumenthal: Im Januar 2009 erteilte die amerikanische Gesundheitsbehörde die Zulassung für die erste klinische Studie mit embryonalen Stammzellen. Jahrelang hatte das kalifornische Unternehmen Geron um die Zulassung gekämpft und den Antrag von mehreren tausend Seiten mehrfach nachbessern müssen. Als dann die Zulassung Anfang 2009 erteilt wurde, dauerte es noch einmal fast zwei Jahre, bis nun die erste Therapie aus embryonalen Stammzellen tatsächlich zum Einsatz kommt. In Atlanta erhielt jetzt ein gelähmter Patient mit einer Rückenmarksverletzung die Zellinjektion. Das teilte die Firma Geron in Kalifornien gestern Abend mit und sorgte damit für einen Anstieg ihres Aktienkurses. Der Wissenschaftsjournalist Michael Lange verfolgt die Fortschritte der Stammzellforscher seit vielen Jahren. Herr Lange, was wissen Sie über die Zellen, die dem Patienten gespritzt wurden?

    Michael Lange: Das sind Zellen, die in Kalifornien schon sehr lange erforscht werden. Es werden nicht direkt embryonale Stammzellen in das Rückenmark des Patienten gespritzt, sondern diese Zellen werden vorher in Zellkultur verändert. Es entstehen oligodendrozyte Vorläuferzellen. Das sind Zellen, die sich in Richtung Nervenzellen bereits entwickelt haben. Aus embryonalen Stammzellen werden also Vorläuferzellen, die noch alle Möglichkeiten der Stammzellen haben, aber sich nicht mehr so schnell teilen.

    Blumenthal: Woher kamen diese Stammzellen? Hat man dazu Embryonen getötet? Wie viele? Was weiß man darüber?

    Lange: Für die Forschung wurden natürlich mehrere Embryonen getötet - Embryonen, die in Fortpflanzungskliniken gelagert werden, eingefroren sind. Das sind viele tausend in den USA. Aber für diese konkrete Behandlung wurden keine zusätzlichen Embryonen verbraucht, denn die Zellen wachsen bei Geron in San Francisco im Labor. Und aus diesen Zellen werden dann eben verschiedene Zelltypen entwickelt. Und eben auch diese Zellen, die übrigens unter dem Produktnamen GRNOPC1 jetzt sozusagen in einer klinischen Studie zum Einsatz kommen.

    Blumenthal: Was sollen diese Zellen im Körper des Patienten bewirken?

    Lange: Im Idealfall sollen sie das angerissene Rückenmark dieser Patienten wieder flicken. Da ist das Rückenmark, also die langen Nervenstränge im Inneren der Wirbelsäule, angerissen, nicht vollkommen durchgerissen. Und dieser Anriss soll geflickt werden. Ob das wirklich möglich ist, ist unter Experten umstritten. Tierversuche zeigen, dass diese Zellen zwar wirken, dass sie aber möglicherweise nur deshalb wirken, weil sie Botenstoffe freisetzen und die körpereigenen Zellen dann sozusagen die Lücke überbrücken. Aber der Weg, der da beschritten wird, ist eigentlich nicht das wichtigste. Wichtig ist, dass tatsächlich wieder Nervensignale fließen können.

    Blumenthal: Was weiß man über die Schwere der Verletzung dieses Patienten. Ist das Rückenmark durchtrennt und wie lange liegt die Verletzung zurück?

    Lange: Die Verletzung darf höchstens 14 Tage zurückliegen. Also man muss sich dann sehr schnell entscheiden, nach einem Unfall zum Beispiel. Und das Rückenmark darf nicht vollständig durchtrennt sein. Es ist wichtig, dass es nur ein solcher Anriss ist. Und die dritte Voraussetzung, die gegeben sein muss: Der Patient muss zustimmen. Obwohl Risiken bestehen, muss der Patient sagen: Ich bin bereit, hier an dieser Studie mitzuwirken.

    Blumenthal: Wir reden von einer Stammzellentherapie. Was heißt in diesem Zusammenhang Stammzellentherapie? Gibt es da mehrere Injektionen, gibt es da eine, in welcher Dosierung?

    Lange: Zunächst einmal gibt es eine Injektion. Das heißt, etwa eine Million Stammzellen beziehungsweise Vorläuferzellen, die aus embryonalen Stammzellen entstanden sind, werden hineingespritzt. Dann schaut man erstmal: Was passiert? Gibt es Gegenreaktionen? Stößt das Immunsystem, das körpereigene Immunsystem des Patienten die Zellen wieder ab? Oder bleiben die Zellen aktiv? Was machen sie? Teilen Sie sich vielleicht zu schnell? Und dann erst entscheidet man weiter, ob es eventuell eine zweite Injektion gibt. Die Therapie ist jedenfalls nicht so angelegt, dass man regelmäßig Injektionen gibt, sondern dass man abwartet und schaut. Und vielleicht reicht ja tatsächlich eine - das wäre aber ein Optimalfall. Hier handelt es sich um eine Phase-1-Studie. Und Phase 1 heißt, man testet erst einmal, ob es zu Nebenwirkungen kommt und wie stark diese Nebenwirkungen sind.

    Blumenthal: Man hat diese Therapie ja an der Maus ausprobiert. Jetzt wendet man sie bei Menschen an. Rechnet man da einfach die Dosis hoch? Oder wie viele Stammzellen hat man da injiziert? Ist das sozusagen nur eine Hochrechnung oder einfach mal nur ein Versuch? Was lässt sich dazu abschließend sagen?

    Lange: Es gibt natürlich Erfahrungswerte und von denen gehen die Forscher hier auch aus. Aber man muss ganz klar sagen: Alle Hochrechnungen können keine genauen Angaben über die Dosierung machen. Die Dosierung ist tatsächlich ein Versuch. Er wird in der Regel erstmal sehr niedrig angesetzt. Eine Million Zellen klingt viel, ist aber nicht so hoch. Aber man weiß es ehrlich gesagt nicht. Also Mäuse sind natürlich sehr viel kleiner als Menschen. Und jetzt kann man erst in dieser ersten Studie am Menschen sehen: Wie könnte die Dosierung gewählt werden, damit tatsächlich eine heilende Wirkung auftritt? Es ist also noch vieles ungewiss.