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Widerstand in der SPD gegen Ausbildungsplatzabgabe wächst

Volker Wagener: Herr Minister Schartau, drei Autostunden von Düsseldorf entfernt, bei herrlichem Sonnenschein an der holländischen Nordseeküste: Bekommen Sie hier den Abstand zu den Problemen Ihrer Partei, die sie sicherlich unbestritten derzeit hat?

    Harald Schartau: Ich bekomme hier Abstand zu allem, deshalb fahre ich ja an die Nordseeküste. Aber die Gedanken sind natürlich bei den drängenden Fragen, die ich in Düsseldorf zurückgelassen habe.

    Wagener: Es ist jetzt gerade eine Woche her, dass Ihr Landesverband seinen Parteitag in Bochum abgehalten hat – mit Franz Müntefering, mit Kanzler Gerhard Schröder. Es war der erste gemeinsame Auftritt nach der großen Personalentscheidung, dem Stabwechsel von Schröder an Franz Müntefering. Wie würden Sie mit diesem zeitlichen Abstand sozusagen den Tenor dieses Parteitages benennen wollen? War das jetzt ein kleines Nachsteuern am Kurs, oder war das jetzt schon die große Korrektur, der Aufbruch?

    Schartau: Zunächst war der Parteitag absolut bundespolitisch dominiert. Das wollten wir aber auch. Wir wollten gerade den beiden die Möglichkeit geben, auch öffentlich zu präsentieren, wie sie sich ihre Aufgabenteilung denken. Das haben sie gut gemacht. Der Kanzler ist als Kanzler mit einer enormen Entschlossenheit aufgetreten. Franz Müntefering, der natürlich zum großen Teil ein Heimspiel hatte, fand auch seine Rolle. Insofern war das für die SPD insgesamt ein ganz wichtiger Anlass. Dahinter sind landespolitische Themen zwar zurückgegangen, das war aber in dieser politischen Situation auch nicht anders zu machen. Die Frage des Verhältnisses der Reformen zu der Kritik daran – da kann man im Augenblick nur folgendes sagen: Wenn man diese Art von Reformen beginnt, dann kann man zwischendurch nicht sagen, wir hören damit wieder auf, weil jeder wusste, es handelt sich um Reformen, die aufgestaut waren, die über zehn, fünfzehn, zwanzig Jahre zwar oft beredet, aber nie angepackt worden sind. Und jeder wusste auch: Das sind Reformen, für die man keinen Applaus bekommt, weil die aktuellen Einschnitte die mittelfristige Perspektive überlagern. Aber, um es noch einmal zusammenzufassen: An dem Kurs selbst, an der Richtung selbst wird und kann die SPD nichts verändern. Da kann man nicht mal versuchen, wie es ankommt, sondern da muss man eine Richtung im Kopf haben und die dann auch konsequent gehen.

    Wagener: Vielleicht könnte die Partei aber etwas an ihrem Kommunikationsstil ändern, gerade auch Ihnen gegenüber – Sie sind immerhin der Chef des größten Landesverbandes. Hat Sie das nicht geärgert, dass Sie, wie im Falle von Wolfgang Clement, der von Düsseldorf nach Berlin seinerzeit gegangen ist, wieder über den Rundfunk davon erfahren haben, dass Franz Müntefering der neue Vorsitzende werden soll?

    Schartau: Ich habe es ja live bei einem Fernsehinterview erfahren. Natürlich ist man da einen Augenblick vergrätzt. Aber man muss auch die Tage davor sehen. Da hatte sich einiges aufgestaut, und dass sich beide entschieden haben, diesen Weg zu gehen, das wäre auch nach langen Beratungen in den Parteigremien nicht anders gewesen. Das war eine richtige Entscheidung. Und ich glaube, sie hat in zwei Richtungen einiges klar gemacht, nämlich: Der Kanzler wird sich in dieser zugespitzten Situation – zugespitzt, weil die Reformen in der Tat schwierig auch im Augenblick zu händeln sind – voll und ganz um die Koordination der Regierungsgeschäfte kümmern, und Franz Müntefering kommt dem Ruf der Partei nach, dass gerade in einer solchen Zeit eine erhebliche Diskussion um Koordination in der Partei geschehen muss, die schließlich vor Ort die Reformen auch vertreten muss und den Kopf für viele Dinge hinhalten muss, die im Augenblick vor Ort auch ausgetragen werden.

    Wagener: Bei der Kurzcharakterisierung von Franz Müntefering ist dem Kanzler ein schönes Bonmots eingefallen, demnach Franz Müntefering nichts anderes machen wird, aber manches anders. Reicht dieser kleine, feine, semantische Unterschied, um der Basis zu verdeutlichen, dass hier nun eine neue Kommunikationsvariante eingeführt wird, ein neuer Vermittlungsstil?

    Schartau: Ja gut, ich meine, es sind erst einmal zwei vollkommen unterschiedliche Typen. Aber, was sicherlich von vielen unterschätzt wurde, ist: Man kann eine solche schwierige Reformpolitik nicht machen, ohne gleichzeitig auch enorm in die Partei zu investieren. Denn wer soll denn vor Ort gerade im Augenblick, wo die Einschnitte sichtbar werden, wer soll da erklären, wie der aktuelle Einschnitt mit einer mittelfristigen Perspektive zusammenhängt – die Sozialversicherung beispielsweise wieder in sicheres Gewässer bringen? Oder wer vermittelt, dass Veränderungen in Gepflogenheiten zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt nicht gegen die Arbeitslosen gerichtet ist, sondern dazu beitragen soll, dass schneller vermittelt wird und die Leute auch einen verbindlicheren Kontakt zu den Fachleuten am Arbeitsmarkt bekommen? Das sind enorme Veränderungen im Verhalten, in den Einstellungen. Da muss eine Partei stehen können, und eine solche Partei muss auch gerade in ihrem Vorsitzenden jemand haben, der häufiger zum Anpacken ist, als das ein viel beschäftigter Kanzler sein kann.

    Wagener: In der Sache will Franz Müntefering ja keinen Millimeter zurück hinter das, was vom Kanzler als Marschroute ausgegeben worden ist. Ist es aber – sagen wir mal – ein Stilwechsel, den er jetzt vornimmt, indem er einfach ein oder zwei Gänge an Geschwindigkeit raus nimmt? Und wenn ja: Ist das der richtige Schritt jetzt?

    Schartau: Über die Geschwindigkeit, darüber werden wir uns in den nächsten Monaten noch ein Bild bilden müssen. Ich halte es für sehr wichtig, dass bei Reformen immer zwei Dinge passieren. Das eine ist das fachlich sachliche. Und das zweite ist: Wie bringe ich die Reformen auch an die Frau, an den Mann? Das heißt, wie kann ich es schaffen, in einem schwierigen Reformprozess die Bevölkerung auch mitzunehmen? Zum Jahresende ist eine Vielzahl von Gesetzen über den Vermittlungsausschuss schlagartig erstellt und dann auch in Kraft gesetzt worden. Und die Bevölkerung hat im Augenblick größte Mühe, sich an die Veränderungen, die damit zusammenhängen, überhaupt zu gewöhnen oder sie nachzuvollziehen. Und so geht es auch der Partei. Und deshalb glaube ich, dass diese beiden Dinge – wie mache ich die Reformen und wie erkläre ich auch in der Diskussion der Bevölkerung die Reformen mit der dahinter stehenden Perspektive –, das wird der Partei noch eine Menge an Kopfzerbrechen in den nächsten Wochen bereiten.

    Wagener: Ihre Parteifreundin Heide Simonis, ihres Zeichens Ministerpräsidentin in Schleswig Holstein, hat bei uns im Programm im Deutschlandfunk die Forderung aufgestellt, die Mehrwertsteuer erhöhen zu wollen. Wie stehen Sie zu diesem Vorstoß?

    Schartau: Ich halte im Augenblick von jeder Art von Erhöhungsdiskussionen nichts, weil ich glaube, die Menschen müssen sich zum Beispiel auch mal darüber freuen können, dass es zum Jahresanfang eine Steuerrückgabe gab, dass die Steuern gesenkt wurden. Wir stehen zu Beginn einer Konjunkturwende, die Zeichen stehen alle auf wirtschaftlichen Aufschwung. Die Vorbereitungen am Arbeitsmarkt sind so getroffen, dass wir bei geringerem Wachstum Beschäftigungseffekte schon erhoffen können. Und das große Ziel dieses Jahres muss sein, zu zeigen, dass bei aufstrebender Konjunktur und bei den Reformen auf dem Arbeitsmarkt die Menschen, die im Augenblick keine Arbeit haben, wieder Hoffnung schöpfen können. Das muss im Augenblick absolut im Mittelpunkt stehen. Mittelfristig und über den Tag hinaus steht noch einiges auf unserer Tagesordnung. Die sozialen Sicherungssysteme müssen weiter reformiert und zukunftsfest gemacht werden. Die Arbeitsplätze müssen von Lohnnebenkostenreduktionen betroffen sein, das heißt, es muss weniger Geld ausgegeben werden je Arbeitsplatz, sonst kriegen wir keine Beschäftigungseffekte. Dass man in diesem Zusammenhang über den Tag hinaus darüber redet, wie das finanziert werden kann – was über die Sozialversicherung finanziert wird, was über Steuern finanziert wird, ob man den Teil, der in der Sozialversicherung beispielsweise für den Aufbau Ost ausgegeben wurde zur Integration, zukünftig über Steuern finanziert –, das mag eine Diskussion der Zukunft sein, aber im Augenblick sperre ich mich gegen eine Diskussion über jedwede Steuererhöhung.

    Wagener: Das heißt, Sie sperren sich gegen den Zeitpunkt. Aber die gute Absicht – unterstellt, dass es eine gute Absicht gewesen ist Ihrer Parteifreundin…

    Schartau: … ich vermute, dass Heide Simonis diesen Gedanken so angepackt hat. Es gibt ja eine ganz seriöse Diskussion darüber, die Sozialversicherung oder Teile der Sozialversicherung eben mit Steuern zu finanzieren. Aber das ist eine Diskussion, die um Gottes Willen nicht übers Knie gebrochen werden darf.

    Wagener: Aber die soziale Gerechtigkeit wäre doch über dieses Modell stärker gegeben als im Vergleich zu dem, wie es jetzt praktiziert wird?

    Schartau: Das sind komplizierte Diskussionen, die dahinter stecken, wie wir Teile der Sozialversicherung haben, die eben über die paritätische Finanzierung dargestellt werden, das heißt, je Arbeitsstunde oder je Arbeitsplatz gibt es einen Teil, den die Arbeitnehmer, einen Teil, den die Arbeitgeber bezahlen. Es gibt mittlerweile schon Teile, die über die Steuern finanziert werden. Und es ist mittlerweile auch jedem in der Bevölkerung klar, dass ein Teil der sozialen Sicherung von ihm selbst gemacht werden muss. Das in ein vernünftiges Verhältnis zueinander zu setzen, das wir die Aufgabe einer Diskussion sein, die unter keinen Umständen von Kurzfristigkeiten bestimmt sein darf.


    Wagener: Im Moment streitet man in Ihrer Partei vor allem um die Ausbildungsplatzabgabe. Die Diskussion ist auch deshalb so interessant, weil die beiden führenden Politiker, wenn wir den Kanzler jetzt mal außen vorlassen – Franz Müntefering als designierter neuer Parteichef und der so genannte 'Superminister' Wolfgang Clement – da über Kreuz liegen. Die Forderung seitens Münteferings ist ganz klar: Die Wirtschaft muss im Laufe des Jahres da noch nachbessern, mehr ausbilden. Tut sie dies nicht, zieht er das entsprechende Gesetz aus der Schublade. Frage: Wann wird denn bilanziert, und bei welcher Bilanz kommt denn dieses Gesetz zum Tragen? Wieviel – konkret gesagt – muss denn die Wirtschaft noch nachbessern?

    Schartau: Also, ich möchte erst mal vorweg schicken, dass das Ziel, jungen Leuten nach der Schule die Möglichkeit einer dualen Berufsausbildung einzuräumen, von allen unterschrieben wird. Das ist das Ziel. Das Ziel, während einer konjunkturellen Delle durchzuhalten, wird immer extrem schwierig sein. Da wird es kein Patentrezept geben. Es gibt eine Auseinandersetzung darüber, ob die Erhebung einer Ausbildungsplatzumlage, die für nicht ausbildende oder gering ausbildende Betriebe eine Ausbildungsplatzabgabe bedeuten würde, ob die dazu führt, dass Jugendliche zukünftig sicher sein können, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Dazu gibt es erhebliche Diskussionen in der Partei und auch in der interessierten Landschaft, so auch in Nordrhein-Westfalen. Wir selbst haben ein vollkommen anderes Modell praktiziert und praktizieren es in Nordrhein-Westfalen: Ein freiwilliges, von dem wir überzeugt sind, dass es letztlich besser ist. Die Kriterien, nach denen die Ausbildungsplatzabgabe oder –umlage bemessen werden sollen, die sind noch nicht bekannt. Die Fraktion will in wenigen Tagen einen Gesetzentwurf vorlegen. Da wird man sehen, wie das Ganze praktisch funktionieren soll. Und ich hoffe, dass jeder im Auge hat, dass Ausbildung immer was mit lebenden Menschen zu tun hat. Ausbildung hat auch was mit Emotionen zu tun. Ausbildung hat was damit zu tun, dass man jungen Leuten etwas vermitteln will. Und Ausbildung wird niemals funktionieren, wenn in irgendeiner Form da ein ‚Muss’ oder ein Zwang dahinter steckt. Deshalb werden wir aus Nordrhein-Westfalen mit allem Nachdruck dafür plädieren, unser freiwilliges Modell des Ausbildungskonsenses auch zukünftig vorzuführen.

    Wagener: Wie schädlich ist dieser Konflikt zwischen Müntefering und Clement in dieser Frage für die Partei?

    Schartau: Ja, Wolfgang Clement hat ja gerade in Nordrhein-Westfalen den Ausbildungskonsens auch auf die Beine gestellt. Das heißt, alle, die etwas für Ausbildungsplätze tun können, kommen an einen Tisch, und dann wird überlegt, wie man gerade in schwierigen Zeiten mehr Ausbildungsplätze kriegen kann. Und deshalb ist er überzeugt davon, dass dieser Weg richtig ist – eine Überzeugung von Peer Steinbrück, die ich teile. Auf der anderen Seite ist der große Wunsch der Partei, dass man nicht von Jahr zu Jahr wieder bangen muss, ist der Blick darauf gerichtet, dass viele Jugendliche eben auch in Warteschleifen sind, nicht ihren Wunschberuf bekommen. Da gibt es eine Diskussion, die, wenn man sie nur quantitativ führt, in Leere läuft. Denn hier sind viele qualitative Fragen zu besprechen. Betriebe, die nicht die Jugendlichen bekommen, die sie wollen, Jugendliche, die an den Anforderungen moderner Ausbildungsberufe scheitern, die da gar keine Chance haben, reinzukommen, weil wir in den letzten Jahren immer mehr Inhalte in die Ausbildung reingepackt haben, so dass man hier und da schon ein Technikerstudium absolvieren muss, bevor man eine Berufsausbildung durchlaufen kann. Und solche Fragen werden alle quantitativ überlagert durch die Ausbildungsplatzabgabe. Ob diese Auseinandersetzung zwischen den Freunden der Abgabe und denen, die sagen: Lasst uns um Himmels Willen an freiwilligen Lösungen weiterarbeiten, ob und wie sich die in den nächsten Wochen entwickelt, wird man sehen. Was mich im Grunde genommen friedlich stimmt, ist, dass alle im Prinzip das gleiche Ziel haben, nämlich, dass Jugendliche einen Ausbildungsplatz bekommen.

    Wagener: Sie selbst haben in diesem Zusammenhang einen Vorstoß gemacht, um die Betriebe finanziell zu entlasten – mit dem Hintergedanken sicherlich, dass wir dadurch vielleicht noch etwas mehr zusätzlich ausbilden –, nämlich die Ausbildungsvergütung auf die Tage zu beschränken, bei denen die Lehrlinge auch tatsächlich dem Betrieb zur Verfügung stehen, also abzüglich der Berufsschultage. Ich vermisse so ein bisschen das große Echo darauf.

    Schartau: Ja, die Vorschläge, die ich vor wenigen Wochen gemacht habe, die waren in die Zukunft gerichtet und haben eingefordert, dass wir im Auge behalten müssen, dass sich die Betriebsstruktur vollkommen verändert. Wir haben immer mehr kleine Betriebe. Die großen Ausbildungsstätten der Vergangenheit tauchen nur noch ganz selten auf. Wir haben allein in Nordrhein-Westfalen im letzten Jahr 50.000 Bürger, die in die Selbständigkeit gegangen sind. So, und ich bin nun ein Freund der dualen Berufsausbildung, die ich für gut halte und frage mich deshalb: Wie werden wir denn eigentlich zukünftig die duale Berufsausbildung, also teils im Betrieb, teils in der Berufsschule, organisieren, wenn die Betriebe immer kleiner sind und selbst nicht in der Lage sind, die gesamte Ausbildung alleine zu machen? Da werden wir zu anderen Modellen kommen müssen. Und eines dieser Modelle könnte sein, dass in der Mitte zwischen Berufsschule und Betrieb ein Dritter die Verträge abschließt, sich um die Administration kümmert, die Personalverwaltung macht und selbst kleinste Betriebe ausschließlich praktische Ausbildung machen müssen, also nichts mit dem ganzen Drumherum zu tun haben und die Berufsschule auf der anderen Seite eben die theoretischen Kenntnisse vermittelt. In dem Zusammenhang habe ich zu überlegen gegeben, dass solche Betriebe dann natürlich umso leichter für eine Ausbildung zu gewinnen sind, wenn man die Kosten anders aufteilt. So, an diesen Fragen wird keiner dran vorbei kommen, der für duale Berufsausbildung ist, weil der Gang der Dinge, die Größe der Betriebe geht in diese Richtung. Wir haben heute im Handwerk schon eine Ausbildung, die so organisiert ist, dass ein Teil eben praktisch in dem jeweiligen Handwerksbetrieb stattfindet, aber ein größerer Teil auch in überbetrieblichen Ausbildungszentren stattfindet, wo die Jugendlichen den Rest der Ausbildungsinhalte kennen lernen. Und eine solche Organisationsform wird in Zukunft noch mehr auf die Tagesordnung kommen, weil eben die Größe der Betriebe immer mehr abnimmt.

    Wagener: Im Zusammenhang mit der Durchsetzung der Agenda-Politik ist nun auch eine große Kurskorrektur bei der Versteuerung der Betriebsrenten – Stichwort: Direktversicherung – ins Auge gefasst worden. Ist das nicht ein nachträglicher, ich sag’s bewusst hart, Betrug an denen, die rechtzeitig in Eigenverantwortung sich um ihr Alterssalär bemüht haben?

    Schartau: Ich habe in den letzten Wochen einen Punkt, den viele wahrscheinlich übersehen haben, kritisiert, nämlich dass ab 1. Januar auf Betriebsrenten der volle Krankenkassenbeitrag und nicht mehr der halbe erhoben wird, und dass Bürger, die über eine Direktversicherung sich einen Teil ihrer Altersversorgung finanziert haben, dass die schlagartig ab 1. Januar den vollen Krankenkassenbeitrag bezahlen müssen. Dabei ist meine Kritik immer unter dem Stichwort gewesen: Vertrauensverlust. Die Leute hatten gar keine Zeit, sich darauf einzustellen, und das in Verbindung mit dem Einkommen, das dann im Alter sein wird, das ist eine Art von Unzuverlässigkeit, die uns über den Tag hinaus schweren Schaden zufügen kann. Deshalb habe ich den Finger in die Wunde gelegt, die offen ist und die sich unkalkulierbar entwickeln kann. Ich habe da eine Diskussion auch mit Gesundheitspolitikern bekommen, die gesagt haben: Ja, das Geld wird aber benötigt, weil ansonsten die Krankenkassenbeiträge stärker belastet werden müssen. Ich kann dazu nur sagen: Selbst wenn man dieses Ziel verfolgt, muss man den Leuten die Möglichkeit geben, sich darauf einzustellen, es mit Übergängen zu machen, es mit Fristen zu machen. Dann wird der Ärger vielleicht nicht viel geringer sein, aber die Leute konnten sich darauf einstellen. Dieser Punkt der Verlässlichkeit, den halte ich für ganz wichtig, gerade wenn man in den Bereichen Rente, Gesundheit oder in sonstigen Versicherungsformen Neuerungen einführt, die für die Leute auch mit weniger Geld verbunden sind.

    Wagener: Sie gelten unbestritten als Reformer, auch als undogmatischer Reformer. Andererseits sind Sie auch der Vertreter der Partei, vielleicht auch sozusagen des Bauches der Partei als Vertreter der Basis. Kommen Sie nicht irgendwann mal an Loyalitätsgrenzen in diesem großen Spannungsbogen?

    Schartau: Ich mache meine Klappe auf, wenn es notwendig ist. Da braucht sich nicht jeder sofort erschreckt fühlen. Aber ich glaube, man kann sich bei vielen politischen Entscheidungen, die auch weh tun, in die Köpfe der Bevölkerung rein versetzen. Viele wissen, wie die Dinge sind. Viele sind auch bereit, Veränderungen mitzumachen. Man muss ihnen aber Zeit lassen. 'Wandel braucht Zeit' ist eine alte Erkenntnis. Und deshalb setze ich mich auch für solche Übergänge ein, damit man nicht von heute auf morgen vor vollkommen veränderten Tatsachen steht. Eine Partei wie die SPD, die Partei des kleinen Mannes, der kleinen Frau sein möchte, die trotzdem in der Regierungsverantwortung für das Ganze steht, muss natürlich bei jeder Entscheidung auch immer wieder zum Ausdruck bringen, dass sie weiß, wie die Leute leben, dass wir wissen, in welchen Einkommenskategorien sie sind, dass wir wissen, wenn wir beispielsweise bei der Rente die Pflegeversicherung verdoppeln auf den vollen Satz, dass das unter Umständen der Kaffee für zwei Monate bei einer Rentnerin sein kann, also dass wir nicht so tun, als wenn das ein geringfügiger Einschnitt wäre. Eine Partei, die mit den Leuten vor Ort darum ringt, dass auch ein Einschnitt gerecht sein kann, wenn er über den Tag hinaus auch zu mehr Verlässlichkeit führt, die wünsche ich mir. Auch eine Partei, die sich nicht davor drückt, unangenehme Entscheidungen herbeizuführen – das machen wir im Augenblick –, die wünsche ich mir auch. Aber hinter allem muss zu jeder Zeit und erkennbar stehen, dass es uns darum geht, die Perspektiven auch für soziale Sicherheit, für das, wo die Gesellschaft dem Einzelnen und der Einzelnen unter den Arm greift, immer klar zu haben, damit der kurzfristige Einschnitt nicht empfunden wird als ein Abschied von der sozialen Gerechtigkeit.

    Wagener: Es gibt nicht wenige, die sagen Ihnen nach, noch nicht so ganz nach zwei Jahren in der Partei angekommen zu sein in Ihrem Amt. Da gibt es zum Beispiel die Vorwürfe, dass Sie die Landesinteressen gegenüber der Bundes-SPD nicht so richtig zur Geltung bringen oder dass Sie die Partei führen wie einst Ihren IG-Metall-Bezirk in Nordrhein-Westfalen. Das Wort vom Fürsten taucht in diesem Zusammenhang auf. Was würden Sie selbstkritisch über sich selbst sagen wollen? Wo wollen Sie sich gerade im Wahlkampfjahr 2004 noch verbessern?

    Schartau: Zunächst würde ich jeden, der ein solches Urteil abgibt, bitten, als aller erstes die eigene Nase mal anzupacken. Ich bin Teamspieler, ich mache das in der Mannschaft. Ich bin kein Fürst. Ich bin jemand, der möchte, dass jeder seine Verantwortung mitträgt, vor allen Dingen, wenn er sich in Leitungsgremien reinwählen lässt, und bin in der SPD nicht kurz zu Hause. Ich bin seit 1970 nicht nur Mitglied, habe an allen Ecken schon in irgendeiner Form mitgemacht und immer drauf geguckt, ob auch möglichst alle, die große Sprüche loslassen, auch viel Arbeit machen und ob sie sich auch einer Aufgabe verpflichtet fühlen. Die nordrhein-westfälische SPD ist die mit Abstand wichtigste Gliederung dieser Partei. Sie trägt Verantwortung dafür, dass was in Berlin funktioniert, dass die Mehrheiten zustande kommen. Sie ist in Nordrhein-Westfalen Trägerin der Regierungsmehrheit, trägt also auch hier Verantwortung, und wir haben Verantwortung in vielen Kommunen. Das heißt, die nordrhein-westfälische SPD ist eine, die durch Bodenständigkeit auffallen soll, und zwar im besten Sinne des Wortes, die Perspektiven entwickeln muss, wo die Leute merken: Das hat was mit dem realen Leben zu tun, und die sensibel bleibt, bei schwierigen Reformen auch zu gucken, ob die wirklich überall passen oder ob da Auswuchtungen notwendig sind. In dieser Mischung möchte ich die Partei aufstellen. Sie wird im Augenblick in den Boden gesprochen wegen der Umfragewerte, wegen der Mitgliederverluste. Ich weiß aber: Diese Partei hat ein Potential, das in der Auseinandersetzung hervortritt und das uns auch in diesem Jahr ermöglichen wird, trotz alledem offensiv in den Wahlkampf zu gehen.

    Wagener: Die politischen Würfel für die SPD der Zukunft fallen mit Sicherheit in Nordrhein-Westfalen spätestens bei der Kommunalwahl. Deshalb hat Ihre Partei auch den politischen Aschermittwoch, die zentrale Veranstaltung der Partei, nach Düsseldorf verlegt. Der Kanzler kommt und wird sprechen. Was empfehlen Sie ihm als Landeschef als zentrale Botschaft an die Basis zu richten?

    Schartau: Keine Angst vor dem politischen Gegner, Mut, in den Wahlkämpfen auch Position zu beziehen, den Humor nicht zu verlieren und vor allen Dingen eine Lebensweisheit der SPD: Nie zu vergessen, dass wir nämlich nicht die Asche hüten, sondern das Feuer leuchtend halten. Das heißt Mut zu machen, zur Entschlossenheit aufzurufen, mit Witz und Konsequenz an die Sache heranzugehen und nach dem Aschermittwoch politisch nicht zu fasten sondern politisch erst mal richtig zuzulegen.

    Wagener: Herr Minister, ich danke Ihnen für das Gespräch.

    Schartau: Danke auch.