Sonntag, 12. Mai 2024

Archiv


Wie alt ist der "alte" Feminismus?

Seit Ende der 90er Jahre wird der Feminismus in Feuilletons, Fernsehtalks und seitens der offiziellen Politik totgesagt. Dennoch lässt sich kaum leugnen, dass schon vieles an Fortschritten erreicht worden ist - allen voran die Freiheit der Berufswahl und die Akzeptanz vielfältiger Familienformen. In ihrem Essay "Wie alt ist der 'alte' Feminismus?" weist die Autorin Hilal Sezgin auf eine Art Wiederbelebung der Frauenbewegung hin. Ohne die alten Parolen explizit im Munde zu führen, werden manche der früheren feministischen Vorhaben wieder aufgegriffen.

Ein Essay von Hilal Sezgin | 23.11.2008
    Die deutsch-türkische Schriftstellerin Hilal Sezgin war Feuilletonredakteurin bei der Frankfurter Rundschau". 1999 veröffentlichte sie den historischen Roman "Tod eines Maßschneiders". Zuletzt erschien ihr Buch "Typisch Türkin?".


    Hilal Sezgin: Wie alt ist der "alte" Feminismus?


    "Die männliche Herrschaft konstituiert die Frauen als symbolische Objekte, deren Sein ein Wahrgenommenwerden ist. Das hat zur Folge, dass die Frauen in einem andauernden Zustand körperlicher Verunsicherung oder, besser, symbolischer Abhängigkeit versetzt werden: Sie existieren zuallererst für und durch die Blicke der anderen, d.h. als liebenswürdig, attraktive, verfügbare Objekte. Man erwartet von ihnen, dass sie "weiblich", d.h. freundlich, sympathisch, aufmerksam, ergeben, diskret, zurückhaltend, ja unscheinbar sind. Und die angebliche "Weiblichkeit" ist vielfach nichts anderes als eine Form des Entgegenkommens gegenüber tatsächlichen oder mutmaßlichen männlichen Erwartungen, insbesondere hinsichtlich der Vergrößerung des männlichen Ego. Auf den Blick des anderen angewiesen, um sich selbst zu konstituieren, sind sie in ihrer Praxis fortwährend an der antizipierten Wertung ihres körperlichen Erscheinungsbildes, ihrer Art der Körperhaltung und -präsentation orientiert."

    Die Frau, das relative Wesen. Die Frau an ihren Körper "gefesselt", die Frau als Objekt eines fremden Blicks: Nein, dies Zitat ist kein Relikt aus den siebziger Jahren, es stammt nicht aus der Feder einer hauptamtlichen Feministin. Der Urheber ist der französische Soziologe Pierre Bourdieu. Er veröffentlichte seine Studie über "Die männliche Herrschaft" im Jahr 1998 - am Ende des Jahrzehnts also, in dem der Feminismus totgesagt wurde, von Feuilletons, Fernsehtalks und dem Gros der offiziellen Politik.

    Damals wie heute wurde und wird die Kritik der Frauenbewegung am "Sexismus" oder "Patriarchat" von der öffentlichen Meinung als viel zu radikal befunden. Nur frühere Jahrhunderte scheinen mit dem Makel dessen behaftet gewesen zu sein, was man die Unterdrückung der Frau nennen könnte. Heute müssen Frauen nicht mehr heiraten, sie dürfen wählen und studieren und tun es auch. Es ist zweifellos schon vieles erreicht.

    Und doch sind in den letzten Jahren Stimmen laut geworden, die eine Art Wiederbelebung des Feminismus versuchen. Sie nennen sich Alpha-Mädchen, "neue deutsche Mädchen" oder scherzhaft: Familienministerin; und ohne die alten Parolen der Frauenbewegung explizit im Munde zu führen, greifen sie manche von deren Vorhaben wieder auf. Denn diese neuen Feministinnen wenden den Blick wieder auf das, was noch nicht erreicht wurde: Immer noch liegen die Löhne für Frauen 20 Prozent unter denen der Männer; immer noch sind Beruf und Familie schwer vereinbar und finden wir wenige Frauen in Vorständen und im Management.

    Diese Kritik beerbt zwar die Frauenbewegung, doch lässt sie auch eine deutliche Verschiebung erkennen. Während es in den Siebzigern hieß, dass das Private politisch sei, sind die derzeitigen Feministinnen vor allem aufs Ökonomische konzentriert. Vom Staat erwarten sie vor allem, dass er die Zugangsbedingungen der Frauen zum Ökonomischen verbessert: Das zeigen die Diskussionen um mehr Kinderbetreuung, um Teilzeitmodelle und um Anreize für Väter in der Elternzeit. Manche vertrauen sogar fast mehr auf die Wirtschaft als auf den Staat:

    Es fällt nicht schwer, aus den aktuellen Debatten Ideale wie Selbstverwirklichung oder Gleichheit herauszuhören, die alte frauenrechtlerische Wurzeln haben. Doch ist mit diesen beiden Topoi das Erbe des Feminismus schon ausgeschöpft? Ein Gang durch den alten Fundus könnte uns vielleicht zeigen, dass Feminismus nicht nur mehr zu bieten hat; sondern dass dieses Mehr auch benötigt wird, um Kritik an vielen Formen von Benachteiligung zu leisten. Oft sind die entsprechenden Missstände sogar weithin als solche anerkannt - doch ist es nicht mehr en vogue, die dahinter stehenden feministischen Ideale explizit zu benennen. Während einerseits viele "alte" Theoreme der Frauenbewegung bei näherem Hinsehen noch sehr überzeugend sind, muss es andererseits auch irgendetwas geben, welches das Bekenntnis zu ihnen sonderbar erschwert.

    Um diese doppelte Behauptung zu belegen, beginnen wir bei dem Teil, der eher unumstritten ist: der Selbstverwirklichung. Eine Gesellschaft verbaut ihren Mitgliedern eine Selbstverwirklichung im emphatischen Sinn, wenn sie deren individuelle Interessen und Fähigkeiten zu stark nach traditionellen Mustern lenkt. Ein entscheidendes Muster ist das der Geschlechtscharaktere: Kein Wunder, dass es so wenige weibliche Ingenieurinnen gibt, wenn die Gesellschaft Mädchen von Kindheit an in bestimmte Geschlechterrollen drängt: freundlich sein, gefällig sein, einen helfenden Beruf ergreifen. Umgekehrt hindert das Patriarchat auch Männer an der vollen Verwirklichung ihrer Potenziale. So wie das Mädchen keinen Chemiebaukasten bekommt, wird der Junge, der mit Puppen spielt, verlacht. Die unverheiratete Professorin wird insgeheim bedauert, und den Jungakademiker, der in Vollzeit Kinder großzieht, nehmen die einstigen Kollegen immer noch häufig nicht für voll.

    Wer sich mit solchen traditionellen Rollenzuweisungen nicht wohl fühlt und gegen sie aufbegehrt, landet früher oder später bei einem Ideal der Androgynie. Lange bevor sich der metrosexuelle Mann in Szene setzte und Ursula von der Leyen Männer an die Wiege locken wollte, nämlich 1983, schrieb die amerikanische Philosophin Carol C. Gould:

    "Hinsichtlich der Charakterbildung ist das Bewusstsein erforderlich, dass der gesamte Bereich der Merkmale, die bislang als entweder ausschließlich männlich oder ausschließlich weiblich identifiziert worden sind, tatsächlich allgemeine menschliche Merkmale sind, die nur zufällig und historisch mit einem Geschlecht identifiziert wurden. Ein solches Bewusstsein ermöglicht die frei gewählte Aneignung jedes dieser Merkmale im Dienste der eigenen Selbst-Entwicklung. Somit sollten Eigenschaften wie Unabhängigkeit, Rationalität, Unternehmungsgeist und Kraft, die historisch als männliche Merkmale gelten, als charakterologische Optionen aufgefasst werden, die Frauen ebenso wie Männern offen stehen. In ähnlicher Weise sollten Eigenschaften wie Hilfsbereitschaft, Intuition, Empfindsamkeit und Gefühlsbetontheiten als Optionen gleichermaßen für Männer und Frauen gesehen werden. Das Bewusstsein, dass der ganze Bereich menschlicher Eigenschaften der Entwicklung des eigenen Charakters zur Verfügung steht, macht Androgynie oder die Mischung dessen, was derzeit als männlich oder weiblich gilt, zu einer völlig annehmbaren Charakterform."

    Hinter dieser Aufzählung traditionell weiblicher und männlicher Eigenschaften verbirgt sich die alte wie neue feministische Überzeugung, dass die vermeintlichen Unterschiede zwischen Mann und Frau nichts mit Mars und nichts mit Venus zu tun haben: Sie verdanken sich nicht reiner Biologie, sondern kulturellen Normen, die historisch gewachsen sind. Im bürgerlichen Zeitalter entstanden die Geschlechtscharaktere, wie wir sie heute kennen, den jeweiligen Lebens- und Arbeitswelten korrespondierend: Die weibliche Empfindsamkeit kontrastiert der männlichen Ratio, die männliche Arbeitswelt könnte nicht ohne die weibliche Sphäre der Reproduktion existieren und hebt sich von dieser ab.

    Doch verhalten sich die beiden Geschlechtscharaktere nicht nur komplementär zueinander, sie sind auch hierarchisch organisiert. Trotz ihrer Gleichzeitigkeit, trotz ihrer gegenseitigen Abhängigkeit sind es die männlichen Eigenschaften, Arbeitsweisen und Lebensbereiche, die die weiblichen übertrumpfen. Und so zielt ein zweiter Strang feministischer Kritik weniger auf den Umstand eingeschränkter Selbstverwirklichung an sich, sondern auf das, was Frauen dadurch vorenthalten wird: an Macht, an Geld, an Sicherheit; an gesellschaftlicher Anerkennung und auch an subjektiver Erfüllung. Beide Problembereiche - der Druck, der von Geschlechterrollen generell ausgeht, wie die daraus resultierende Ungleichheit - werden in der derzeitigen öffentlichen Diskussion angesprochen und kritisiert.

    Und doch ist etwas schief an der derzeitigen Kampagne für Kind und Karriere, die, vom Familienministerium ausgehend und von den Feuilletons schwärmerisch aufgegriffen, das Land durchströmt. Die Benachteiligung scheint beendet, wenn der Spagat zwischen Beruf und Familie, und am besten auch noch der zwischen Freizeit, Sport und Freundeskreis gelingt; jede Frau muss alles können und wollen und in ihrem Leben umsetzen dürfen. Das bedeutet keine Abschaffung von Ungleichheit, das ist Selbstverwirklichung auf das Niveau des Turbokapitalismus gebracht.

    Im Schatten dieser gut ausgebildeten, erfolgreichen Spagatkünstlerin stehen all diejenigen Frauen, die ohne Nadelstreifenkostüm, dafür aber mit mehreren Gelegenheitsjobs ihr Leben fristen. Und zu viele Formen der Benachteiligung von Frauen werden dabei nicht adressiert, Themen, die das Leben der Mittelschichtenfrau ebenso wie der Arbeiterin bestimmen. Zum Beispiel auf dem Gebiet der Sexualität.

    "Sexualität bedeutet für den Feminismus, was Arbeit für den Marxismus ist: dasjenige, was am meisten Teil an der eigenen Identität hat und einem doch am häufigsten genommen wird. Die marxistische Theorie argumentiert, dass die Gesellschaft sich grundlegend aus den Beziehungen konstituiert, die Menschen eingehen, wenn sie die für ein menschliches Überleben notwendigen Dinge tun. Arbeit ist der gesellschaftliche Prozess der Formung und Veränderung der materiellen und sozialen Welt... In der feministischen Theorie gibt es im implizit ein paralleles Argument: Die Form, die Zielrichtung und die Art, wie sich Sexualität äußert, strukturiert die Gesellschaft in zwei Geschlechter - Frauen und Männer; eine Teilung, die der Gesamtheit gesellschaftlicher Beziehungen zugrunde liegt... Wie die organisierte Ausbeutung der Arbeit einiger zum Wohle anderer eine Klasse - die der Arbeiter - definiert, so definiert die organisierte Ausbeutung der Sexualität einiger zum Nutzen anderer das Geschlecht der Frau."

    In diese programmatischen Sätze hat Catharine MacKinnon, Juristin und Initiatorin zahlreicher Aufsehen erregender Gerichtsverfahren in den USA, gleich mehrere starke Thesen gepackt. Sexualität, lautet die eine These, ist eine heuristische Kategorie, die sich mit demselben Recht auf eine Gesellschaft anlegen lässt wie die Frage nach der Organisation von Arbeit oder nach der Verteilung von Geld, Bildung oder Macht. Wenn wir nur genau genug hinschauen, werden wir erkennen, dass nahezu jeder Bereich des Sozialen implizit oder explizit geschlechtlich strukturiert ist.

    Die unterschiedlichen Dresscodes von Männern und Frauen am Arbeitsplatz haben ebenso mit Sexualität zu tun wie das Relaxen der Geschäftsreisenden im Bordell. Dass die Arbeit der Kindererziehung ganz wesentlich von Frauen übernommen werden muss, ist genauso eine Folge sexueller Verhältnisse wie die erhöhte weibliche Infektionsgefahr bei AIDS in Afrika. Elektronikartikel werden mithilfe vollbusiger weiblicher Computerwesen beworben, aber wenn Kunde oder Kundin im Elektronikladen stehen und die Wahl zwischen einer Verkäuferin und einem Verkäufer haben, wenden sie sich mit ihren Fragen lieber an den für kundiger gehaltenen Mann. In Musikvideos lassen sich alternde Sänger von knapp bekleideten Mädchen umringen, und "echte" Mädchen, die samstagabends zum Tanzen gehen, sollen wegen der Gefahr auf den Straßen früh zu Hause sein.

    Diese Aufzählung zeigt, dass Sexualität als heuristische Kategorie auch zu eigenen Ergebnissen führen kann. Wenn wir die Gesellschaft nicht nur auf ihre Verteilung von Arbeit und Einkommen und Macht hin betrachten, sondern auch fragen, wie Sexualität in ihr organisiert ist, werden wir Phänomene entdecken, die uns ansonsten gar nicht auffallen würden und die eine Ungleichheit oder Benachteiligung eigener Art darstellen. Anders gesagt: Das Geschlechterverhältnis ist nicht nur ungerecht, weil es der einen Hälfte der Gesellschaft weniger Einkommen beschert und mehr Arbeit bei der Kindererziehung. Und Vergewaltigung ist nicht nur schlimm, weil sie Folgekosten fürs Gesundheitssystem verursacht, sexuelle Belästigung nicht nur, weil sie die betroffenen Frauen aus der Bahn schleudert und ihre Karrieren unterbrechen lässt. Sexuelle Gewalt ist ein Politikum an sich ...

    Und leider nach wie vor weit verbreitet. Für eine Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur "Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland" wurden im Jahr 2003 10 000 Frauen aus ganz Deutschland befragt. Frühere Schätzungen wurden damit bestätigt: 6 Prozent der über 16-jährigen Frauen werden im Laufe ihres Lebens einmal vergewaltigt, 4 Prozent werden Opfer einer versuchten Vergewaltigung, und weitere 8 Prozent Opfer einer erzwungenen sexuellen Handlung, also Nötigung.

    Bewusst haben sich die Leiter der Untersuchung auf klar definierte, strafrechtlich relevante Sexualdelikte beschränkt. Addiert man diese, lässt sich sagen, dass jede sechste Frau in Deutschland einmal in ihrem Leben Opfer sexueller Gewalt wird. Nur ein Fünftel der Täter sind Fremde; häufiger handelt es sich um Bekannte, Freunde, Ehepartner oder Familienmitglieder. In 70 Prozent der Fälle ist der Tatort nämlich nicht die dunkle Straße, sondern die eigene Wohnung; 25 Prozent der Frauen haben schon Gewaltanwendung durch den Beziehungspartner erlebt. Gute Ausbildung und hohes Einkommen der Frau oder ihres Partners schützen nicht davor; die Ausübung physischer und sexueller Gewalt scheint in allen Schichten gleich weit verbreitet zu sein.

    Doch über die empirischen Zahlen hinaus, muss dahinter wohl auch ein kulturelles Muster stehen, ein strukturelles Phänomen - das MacKinnon einer bestimmten Form von Heterosexualität geschuldet sieht:

    "Eine Frau wird als ein Wesen identifiziert, dessen Sexualität für jemand Männlichen existiert, und das sich auch selbst so bestimmt. Die Sexualität der Frau ist die Fähigkeit, in diesem anderen Verlangen zu erwecken. Wenn das Sexuelle an einer Frau allein das ist, was der Mann an Stimulation wünscht, haben sich nicht dann männliche Forderungen derart der Bedingungen weiblicher Sexualität bemächtigt, dass sie praktisch mit diesen identisch geworden sind? Wenn wir die Sexualität der Frau so sehen, drängt sich und jedoch die Frage auf, ob es so etwas wie weibliche Sexualität gibt? Besteht die Frau in ihrem Nicht-Vorhandensein?"

    Hier begegnet sie uns wieder, die Frau als das relative Wesen, als das sie eingangs schon Bourdieu beschrieben hat. Nach Selbstverwirklichung, Gleichheit und Sexualität haben wir es hier mit einem vierten zentralen feministischen Topos zu tun: dem der symbolischen Ordnung beziehungsweise der symbolischen Unterordnung der Frau. Dieses Topos taucht in nahezu jedem feministischen Text auf, doch wird es je nach deren begrifflichem Rahmen unterschiedlich formuliert. Catharine MacKinnon sieht vor allem das sexuelle Wesen "Frau", dessen Begehren sich auf das Vom-Manne-begehrt-Werden richtet.

    Die französische Philosophin Luce Irigaray hat demselben Gedanken eine zugleich psychoanalytische und sprachphilosophische Wendung gegeben. Simone de Beauvoir wiederum illustrierte ihr Verständnis von der Relativität der Frau und ihrer symbolischen Unterordnung anhand einer Anekdote aus dem philosophischen Milieu:

    "Oft habe ich mich geärgert, wenn im Verlaufe ganz theoretischer Diskussionen Männer zu mir sagten: "Sie denken so, weil Sie eine Frau sind"; ich aber war mir bewusst, dass ich mich nur durch die Antwort rechtfertigen konnte: "Ich denke so, weil es wahr ist", d.h. indem ich meine subjektive Situation ausschaltete; beileibe hätte ich nicht antworten dürfen: "Und Sie denken das Gegenteil, weil Sie ein Mann sind"; denn es steht allgemein fest, dass ein Mann zu sein keine Besonderheit darstellt... In der Praxis bedeutet das: ebenso wie die Alten eine absolute Vertikale kannten, an der das Schräge als solches festgestellt wurde, gibt es einen absoluten Menschentypus, der eben der männliche ist. Die Frau hat Ovarien und Uterus ...; man sagt gern, sie denke mit ihren Drüsen. Großzügig sieht der Mann darüber hinweg, dass zu seiner Anatomie ja ebenfalls Hormone und Testikel gehören. Er fasst seinen Körper als die direkte und normale Beziehung zur Welt auf, ... während er den Körper der Frau als gleichsam belastet durch alles sieht, was ihr eigentlich ist und was ihm als ein Hindernis, eine Fessel erscheint. "Das Weib ist das Weib durch das FEHLEN gewisser Eigenschaften", sagt Aristoteles " Wir müssen das Wesen der Frauen als etwas betrachten, das an einer natürlichen Unvollkommenheit leidet."

    Nun mag man einwenden, dass Aristoteles lange tot ist und kein Philosophieprofessor einer Kollegin mehr ins Gesicht sagen würde, sie denke mit ihren Drüsen. Das grundsätzliche Modell jedoch - der Mann ist die Norm, die Frau die Abweichung, das Besondere, das extra herausgestellt werden muss - hat noch lange nicht ausgedient. Um noch einen Moment bei den Drüsen zu bleiben, ein Beispiel aus dem Bereich der Medizin: erst in den letzten Jahren haben Medizinerinnen und auch Mediziner begonnen zu kritisieren, dass sich die Humanmedizin in der Regel am männlichen Patienten orientiert. Als Probanden werden Männer genommen, die Dosierungen der Arzneimittel auf Männer abgestimmt. Die Diagnose von Herzinfarkten erfolgt bei Frauen deutlich später, weil man vor allem die Symptome des männlichen Körpers kennt, und Frauen gelangen in Notfällen später ins Krankenhaus.

    Auch wenn heute oft gefordert wird, dass Arbeitsleben und Kinderbetreuungsangebote besser an die Biografie der Frau angepasst werden müssten, schwingt hier eine Ahnung von dem Problem der symbolischen Unterordnung mit. Denn die Frage der nachträglichen "Anpassung" stellt sich ja nur, weil bisher normalerweise die Erwerbsbiografie des Mannes als Maßstab genommen wurde; die Bedürfnisse von Frauen erschienen derweilen als Spezialfälle, die jetzt auch noch mit hinzugezogen werden müssen, um das Bild zu komplettieren.

    Wer sich über solche Formen von Benachteiligung empört - dass Bedürfnisse von Frauen bisher nicht wahrgenommen wurden, oder dass mit dem Patienten auf dem Beipackzettel offenbar tatsächlich nur der männliche Patient gemeint war - greift auf feministische Ideen zurück. Nicht nur die Ideale Selbstverwirklichung und Gleichheit, sondern auch die beiden feministischen Topoi Sexualität und symbolische Unterordnung sind im Hintergrund unseres gesellschaftlichen Handelns noch aktiv. Den jeweiligen theoretisch und abstrakt klingenden feministischen Thesen entsprechen höchst konkrete empirische Phänomene; viele längst akzeptierte politische Forderungen und Regelungen haben insgeheim klassische feministische Wurzeln und könnten auf sie auch gar nicht verzichten. Nehmen wir die Kategorie Sexualität weg, und es ist nichts mehr falsch an den Sexreisen deutscher Männer nach Thailand: Haben die jungen Frauen dort nicht Geld erhalten und zugestimmt? Vergessen wir die Kategorie Sexualität, können wir zurückkehren zu den Zeiten früherer Asylverfahren, als die Anträge von Frauen regelmäßig abgewiesen wurden: Sie mochten im Zuge von Kriegen vergewaltigt worden sein, doch das gilt nicht als Form von politischer Gewalt.

    Ohne die Kategorie symbolischer Unterordnung wiederum würde uns das Instrumentarium fehlen zu erkennen, warum wohlmeinende Lehrer und Lehrerinnen insgeheim eher die Jungen zu den Naturwissenschaften lenken und die an Mathe interessierten Mädchen entmutigen. Ohne die feministische "Erfindung" der Kategorie symbolischer Unterordnung fielen auch gender-mainstreaming-Programme in sich zusammen, die heute in öffentlichen Institutionen weit verbreitet sind und offenbar gut funktionieren, obwohl - oder weil?- sie so scheinbar wenig radikal daherkommen.

    Wieso also sind die beiden ersten feministischen Ideale von Selbstverwirklichung und Gleichheit im öffentlichen Bewusstsein noch halbwegs präsent und können, ohne Spott auf sich zu ziehen, im Munde geführt werden - während die Kategorien Sexualität und symbolische Unterordnung irgendwie peinlich klingen, dogmatisch und verstaubt?

    Vielleicht ist der Feminismus vom selben Schwund politischer Radikalität betroffen wie auch andere Visionen von einer ganz anderen, besseren gesellschaftlichen Realität. Vielleicht ist der Feminismus soft geworden, wie auch die Begriffe Sozialismus oder Utopie seit den Neunzigern nicht mehr auf der Höhe der Zeit scheinen; es weht eher die sanfte Brise der Reform denn der harte Wind der Revolution. Ebenso haben die jüngeren Politaktivisten für die Kapitalismuskritik neue Ausdrucksformen gefunden: Globalisierungsgegner findet man allerorten, Konsumkritik ist in aller Munde, Attac versteht sich als Gegner der kapitalistischen Weltwirtschaft.

    Doch sonderbarer Weise hat diese Radikalisierung vor feministischen Themen bisher meist halt gemacht. Obwohl doch die Globalisierung, wo immer sie ihre Greifarme hinstreckt, die Frauen noch härter anzupacken pflegt als die Männer. Die Arbeitskraft der Männer ist in vielen Ländern erschreckend billig, aber die der Frauen eben noch billiger. Wo nicht gezielt darauf geachtet wird, dass Entwicklungshilfe Frauen unterstützt, kann sie Männer auf Kosten ihrer Familien unterstützen und patriarchale Strukturen weiter festigen. Frauen werden aus aller Welt unter Drohungen oder falschen Vorspiegelungen in die Bordelle Europas verschleppt.

    Und doch muss es auch etwas innerhalb des Feminismus selbst geben, das ihn derzeit so unbeliebt macht. Irgendein Spezifikum, das den Feminismus von anderen politischen Bewegungen und Einsichten unterscheidet, das es einem schwer macht, ihm ganzen Herzens anzuhängen, und das junge Frauen sagen lässt: "Ich bin keine Feministin! (Aber mein Mann müsste auf jeden Fall den Haushalt mitmachen, und bei der Arbeit will ich das gleiche Geld.)"

    Vielleicht liegt ein Problem des Feminismus darin, dass die Strukturen, die er analysiert und kritisiert, nicht "irgendwo da draußen" sind, sondern sich aufs Intimste und Vertrauteste erstrecken. Wir haben die Statistiken gesehen, die zeigen, wie weit verbreitet sexuelle Gewalt innerhalb von Partnerschaften und Familien ist. Wir haben über die Frau als das relative Wesen gesprochen - relativ, das heißt ja in diesem Fall immer auch: relativ zu ihrem Freund oder Mann. Ein Stück weit muss eine heterosexuelle Frau dieses Wissen vergessen, um mit ihrem Geliebten glücklich zu sein. Der Feminismus erinnert sie an das Vergessene - es ist ein ständiger Prozess von Vertrauen und Verdacht, von Nähe und Entfremdung. Frauen befänden sich in einer besonderen Form der Unterdrückung, schrieb Simone de Beauvoir.

    "Sie leben verstreut unter den Männern, durch Wohnung, Arbeit, wirtschaftliche Interessen, soziale Stellung mit einzelnen von ihnen - Mann oder Vater - enger verbunden als mit Frauen... Das Band, das sie an ihre Unterdrücker fesselt, kann mit keinem andern verglichen werden."

    Es sind ja nicht nur, vielleicht nicht einmal vor allem "die Männer", denen der Feminismus unangenehme Wahrheiten ins Stammbuch schreibt. Uns Frauen geht es da nicht besser.

    Als Studentinnen haben wir uns über die Bauarbeiter aufgeregt, die uns hinterher gepfiffen haben, beim Älterwerden fragen wir uns: Verdammt, nimmt mich eigentlich überhaupt noch jemand wahr? Eben haben wir uns mit einer Freundin über Erfahrungen mit Epiliergeräten ausgetauscht, jetzt sprechen wir über Charlotte Roche und körperlichen Normierungsdruck. Mit unserem Partner sind wir uns einig, dass wir uns den Haushalt teilen wollen, aber dann stellt er sich beim Kuchenbacken so ungeschickt an, und wir nehmen ihm die Backschüssel aus der Hand. Wenn wir dabei den Mund aufmachen, hören wir uns zetern wie einst unsere Mutter, das erschreckt uns; und doch ist die Kuchen backende Gemütlichkeit, die wir uns für unser eigenes Zuhause erträumen, eine, die in unserer Kindheit Ergebnis der stundenlangen Arbeit einer Nur-Hausfrau-und-Mutter war.

    Was also den Feminismus brisant, einleuchtend und attraktiv macht, ist genau das, was ihn auch wieder unattraktiv macht: Er ist so verdammt nah an uns dran, an uns selbst und an denen, die wir lieben. Geschlechterrollen, Sexualität, Vorstellungen von symbolischer Höher- oder Minderwertigkeit wurden verinnerlicht - sind, wie Bourdieu sagt, "ins Innerste der Körper eingeprägt".
    Und nicht nur in die Körper, auch in die Seele. Der Feminismus an den Universitäten hat sich in den neunziger Jahren mit lauten politischen Forderungen zurückgehalten, dafür aber in der Psychoanalyse, bei den französischen Denkern, in postmodernen Theorien nach Antworten gesucht - auf die Frage, wie wir zu denen geworden sind, die und wie wir sind: Frauen und Männer, Mütter, Lesben. Und ob wir, mit kleinen, fast unspektakulären Bewegungen, mehr Freiheit erwerben und anders werden können.

    Die Programmatik einer Carol Gould jedenfalls, dass man sich seine Geschlechterrolle frei wählen könne, ist kaum mehr nachzuvollziehen - wir können uns eben nicht frei entscheiden, dass wir "ganz anders" sein wollen. Auch der Idealismus der Selbsterfahrungszeiten liegt weit zurück: dass man sich durch Reflektion und Erinnerung und Kritik gleichsam neu erbauen könne, dass man die Spuren, die das Patriarchat in Körper und Seele hinterlassen haben, abwischen und zu einem freien Körper, einer freien Seele führen könne.

    Zu oft hat diese Aufforderung zur beständigen Reflektion nämlich nicht nur das Gefühl einer Befreiung, sondern auch das der Entfremdung bewirkt; wer den Blick zu stark auf die Deformationen richtet, die uns das Gestern angetan hat, der konzentriert seine Hoffnungen auf das Morgen - doch wir leben heute! Wir existieren jetzt. Und politische Imperative, die von uns fordern würden, das Leben ganz anders anzugehen, ganz anders zu sein und ganz anderes zu wünschen, wären unrealistisch oder gar brutal: Auch wenn eine Frau in ihren heterosexuellen Beziehungen immer wieder derselben ärgerlichen Arbeitsteilung, derselben latenten Hierarchie begegnet, sie sich doch selten vornehmen, von nun an Frauen zu begehren. Wenn sie sich unter Romantik vorstellt, von einem Mann in teure Restaurants ausgeführt zu werden, kann sie nicht einfach beschließen, erwerbslose Männer attraktiv zu finden - auch wenn sie sich ansonsten ungern von einem Mann "führen" lässt und wenn sie Wert darauf legt, dass sie selbst genug verdient.

    Der Feminismus gibt uns Einsichten darein, wie wir zu denen geworden sind, die wir sind; und er kann uns keinen Königsweg daraus weisen. Vielmehr beschert er uns Phänomene von bisweilen geradezu unerträglicher Gleichzeitigkeit. Das ist vielleicht nicht so viel, wie sich die ersten Frauenbewegten erhofften; aber wenig ist es auch nicht. Denn schließlich bewahrt uns nur das reiche, radikale Erbe der feministischen Theorie davor, uns zu schnell zufrieden zu geben, in allzu kleinen Veränderungen wie dem Kita-Kampf und oder dem Gerangel um Managementgehälter stecken zu bleiben. Wenn wir mehr wollen, brauchen wir dafür vielfältige und radikale Kategorien der Kritik; die enge Perspektive liberaler Selbstverwirklichung reicht dafür nicht, wir brauchen das komplette Bild.

    Es gibt eine schöne Analogie von der amerikanischen Philosophin Marilyn Frye, die die Situation der gesellschaftlichen Unterdrückung der Frauen mit dem Leben eines Kanarienvogels verglichen hat:

    Stellen Sie sich einen Vogelkäfig vor. Wenn man sich nur auf einen einzelnen Gitterstab genau konzentriert, sieht man die anderen Stäbe gar nicht mehr. Wenn man dann mit den Augen diesem einen Stab folgt, nach oben und unten ... fragt man sich schließlich: Warum fliegt der Vogel nicht einfach drum herum?