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Wie ein wildes Tier

"Wozzeck" an der La Monnaie in Brüssel bietet szenische Langeweile. Manchmal hatte man sogar den Eindruck, dass das Ohr überwältigt war, weil das Auge kein Futter bekam.

Von Christoph Schmitz |
    Wie ein wildes Tier lag das Orchester im Graben. Gereizt, nervös, angriffslustig, aggressiv. Ein Tier, das auf der Lauer liegt und plötzlich zum tödlichen Sprung ansetzt und seine scharfen Töne aus Stahl und Blech in die Nervenbahnen des Gehörs treibt. Ein Wesen, das sich auslebt im Schrei, in der Vernichtung, in der Anklage und im großen Gefühl, in der Sehnsucht nach einem gnädigen Gott, wenn die Hure Marie den Himmel um Erbarmen anfleht, oder im Gefühl mütterlicher Fürsorge, wenn Marie ihren Bastard in den Schlaf wiegt.

    Der Dirigent Mark Wigglesworth trieb seine Musiker zu höchster Expressivität, dass man sich förmlich bedrängt fühlte. Von der Verschrobenheit und Lächerlichkeit der Figuren ließ die Musik nichts mehr übrig. Der Hauptmann mit seiner Unsinnsphilosophie, der Doktor mit seiner Pseudowissenschaft, der Tambourmajor mit seiner spießigen Großtuerei, und wie sie allesamt mit dem armen kleinen Soldaten Wozzeck ihre Späße treiben - das alles hat nichts Komisches mehr, sondern ist reine Gewalt.

    Und im Folterton sangen auch die Täter: Douglas Nasrawi als Hauptmann zu Beginn, wenn Wozzeck ihn rasiert; bösartig durch und durch, vom Scheitel bis zum Stimmband, Jan-Hendrik Rootering als Doktor, wie er Wozzeck gegenüber doziert über Pillen und Pinkeln und in diesen hyperexpressiven Ton stimmten mit großem gesanglichen Können auch die Opfer ein.

    Der kristallklare Sopran, mit dem Claudia Barainsky ihre Marie ausstattete. Und der weiche Bariton des gepeinigten Wozzeck, wie ihn Dietrich Henschel sang.

    Doch bei Henschel und seiner schauspielerischen Deutung des getretenen Hundes beginnen die Probleme dieses "Wozzeck" in Brüssel. Um es gleich zu sagen: Es herrscht szenische Langeweile. Manchmal hatte man sogar den Eindruck, dass das Ohr so überwältigt war, weil das Auge kein Futter bekam. Henschel darf keinen gehetzten, getriebenen, gequälten Menschen spielen. Er geht nur leicht gebeugt, agiert aber nicht wie eine geschundene Kreatur, die in den Wahnsinn getrieben wird. Er soll normal bleiben, scheint ihm der Regisseur David Freeman gesagt zu haben. Von den Bösewichtern scheint er dagegen etwas anderes gewollt zu haben. Sie sollten ihre Rollen leicht karikieren, was aber nicht nur dem Normal-Opfer Wozzeck widersprach, sondern auch der extrem angeschärften musikalischen Deutung.

    Am wenigsten aber fanden Musik und Bühnenbild zu einander. Auf der Bühne war nämlich nichts. Nur schwarze Wände und auf dem angeschrägten Boden lose Erde. Mit Punktscheinwerfern wurden die Figuren ins Licht geholt. Es sollte wohl ein bisschen wie in Lars von Triers Film "Dogville" aussehen, wo auch alles schwarz ist und Straßen und Häuser mit Kreide auf den Boden gezeichnet sind. Doch in der Oper vermochte es die Leere nicht, sich mit der Fülle des Klangs aufzupumpen. Da nützte auch die leichte Historisierung durch die Kostüme aus der Büchner-Zeit, also um 1830, nichts. So hat die Inszenierung das musikalisch wilde Tier in einen Zoo gesteckt und domestiziert.