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Wie einst bei Newtons Apfel

Raumfahrt. - Die europäische Raumfahrtagentur Esa rückt der Erde wieder mal auf den Leib. Der Satellit GOCE soll das Schwerefeld unseres Planeten extrem genau vermessen. Der Start ist für Montag, 16. März, 15:21 Uhr MEZ, geplant.

Von Dirk Lorenzen |
    Der Legende nach war dem englischen Physiker Isaac Newton einst die geniale Idee der Schwerkraft gekommen, als er einen Apfel vom Baum fallen sah. Mehr als drei Jahrhunderte nach Newton sind die Schwerkraftforscher nicht viel weiter: Sie lassen immer noch fallen. Heute sind die Äpfel allerdings Hightech-Würfel aus einer kostbaren Platin-Legierung. Und diese Metallwürfel fallen nicht vom Baum, sondern sie schweben im Innern des Satelliten GOCE um die Erde herum, erklärt Reiner Rummel, Professor am Institut für Astronomische Geodäsie der TU München:

    "Da diese Testmassen im Satelliten etwas unterschiedliche Positionen einnehmen, so einen halben Meter Abstand etwa, werden sie durch die anziehenden Massen auf der Erde minimal unterschiedlich angezogen und diese Differenz machen wir uns zu Nutze."

    Während GOCE um die Erde kreist, spüren die vorne im Satelliten befindlichen Testkörper die Anziehungskraft etwas früher als die Körper weiter hinten. Der Effekt ist minimal, aber messbar, meinen Reiner Rummel und seine Kollegen. Mit dem sieben Meter langen und zwei Meter breiten Satelliten wollen sie nun die Anziehungskraft der Erde so präzise wie nie zuvor vermessen. Rummel:

    "Jede Veränderung in der Massenverteilung unseres Erdsystems ist in der Schwerkraft messbar. Also Berge und Täler, Ozeane, Meeresspiegelveränderungen, Eiskappen, die abschmelzen – und sogar das fallende Laub, wenn man sehr, sehr genau misst."

    Ob GOCE ein Gebirge überfliegt, eine Erdölblase oder eine Großstadt mit hohen Gebäuden: Die Bewegung der Testkörper an Bord verrät es. Der zu großen Teilen bei EADS Astrium in Friedrichshafen gebaute Satellit muss dafür höchste Anforderungen erfüllen. Manche Ingenieure räumen hinter vorgehaltener Hand ein, sie seien "fast wahnsinnig" geworden, welche Anforderungen bei GOCE zu erfüllen waren: Der Satellit besteht aus speziellen Kohlefasern, die sich praktisch nicht ausdehnen oder zusammenziehen, egal ob der Satellit im heißen Sonnenlicht fliegt oder im kalten Erdschatten. An Bord gibt es keine Motoren mit beweglichen Teilen. Jede Veränderung oder Erschütterung des Satelliten würde die Messungen unmöglich machen. Lohn der Mühe ist eine schier unglaubliche Präzision, freut sich Mark Drinkwater, GOCE-Projektwissenschaftler bei der Europäischen Raumfahrtagentur Esa:

    "Stellen Sie sich eine Schneeflocke vor, die auf einen Supertanker fällt. Dann spürt der Supertanker den ,Einschlag‘ der Schneeflocke und fährt hinterher etwas langsamer weiter. Natürlich ist dieser Effekt winzig klein. Aber die Instrumente, die wir für GOCE bauen, sind so empfindlich, dass sie das Auftreffen der Schneeflocke auf dem Tanker noch registrieren würden. Nur so bekommen wir wirklich ein umfassendes Bild des Schwerefeldes der Erde."

    Der Satellit ist gut eine Tonne schwer und fünf Meter lang. Die gesamte Mission kostet etwa 350 Millionen Euro und soll mindestens 20 Monate dauern. Der Start erfolgt mit einer Rockot-Rakete, einer frühere SS-19-Atomrakete, vom russischen Weltraumbahnhof Plesetsk aus. Der Satellit wird in nur etwa 250 Kilometern Höhe die Erde umkreisen, etwa 100 Kilometer niedriger als die Internationale Raumstation. Aber mit jedem Kilometer mehr an Höhe, verliert GOCE deutlich an Empfindlichkeit. Denn je näher der Satellit der Erde, desto anziehender empfindet er sie – und nur so lässt sich das Schwerefeld der Erde präzise genug vermessen.