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Wie fühlt sich ein Nachbeben an?

Wie sind die Bewohner Tokios mit der Erdbebenkatastrophe vor einem Jahr umgegangen? In einem Blog für das "SZ-Magazin" hat die japanische Werbefilmerin Yuko Ichimura ihre Erfahrungen und Beobachtungen gesammelt. Unter dem Titel "3/11 - Tagebuch nach Fukushima" sind die Texte und Illustrationen jetzt als Buch erschienen.

Von Dirk Schneider | 08.03.2012
    "Stündlich Nachbeben. Sofort ertönt der offizielle Notfall-Alarm: 'Diii-Dah, Diii-Dah', zweimal, wie ein kurzer Jingle. Die Tonfolge sticht mir direkt ins Herz. Es gibt gerade nichts, was mir mehr Angst macht."

    Tokio, 14. März 2011, drei Tage nach der Tsunami-Katastrophe und dem Störfall im Atomkraftwerk Fukushima. Yuko Ichimura, 34 Jahre, arbeitet in Tokio als Illustratorin und Werbefilmregisseurin. Sie liebt diese Stadt, die sich über Nacht so radikal verändert hat.

    "18:00 Uhr. Nur wenige Menschen sind auf der Akasaka-Hauptstraße. Ein Drittel der Leuchtanzeigen bleibt heute ausgeschaltet. Wer bitte hat Tokio zuvor mit so wenigen Lichtern gesehen?"

    Auch ein paar Hundert Kilometer südlich des Katastrophengebiets stehen die Menschen unter Schock. In diesen Tagen blicken sie noch einmal ganz neu auf ihr Leben. Der Berliner Journalist Tim Rittmann hat Yuko Ichimura vor Jahren in London kennengelernt und den Kontakt über Facebook gehalten.

    "Und dann kam das Beben und dann habe ich mir Sorgen gemacht und dachte: Was ist mit Yuko? (...) Und Yuko hat dann ziemlich schnell zurück geschrieben (...) und dann war ich auch sehr berührt von dem, was sie geschrieben hat. Ich glaube, sie hat sich da auch ein bisschen was von der Seele geschrieben."

    Yukos Berichte eröffnen Rittmann einen anderen Blick auf das Land als die Katastrophenmeldungen im deutschen Fernsehen:

    "Da ging es um den 'Kill Count' und da ging es um den drohenden Super-GAU."

    Und bei Yuko ging es darum, wie sich ein Nachbeben anfühlt. Wie verschiedene Arbeitgeber mit der Katastrophe umgehen. Welche Gespräche man mit Freunden führt. Kurz: Was moderne Menschen in einer modernen Großstadt aus einer solchen Situation machen.

    Die Texte und Zeichnungen, die daraus entstanden und jetzt unter dem Titel "3/11 - Tagebuch nach Fukushima" als Buch erschienen sind, erzählen von banalen Dingen wie dem Engpass von Toilettenpapier im Supermarkt, aber auch von den Schuldgefühlen gegenüber den Tausenden Todesopfern.

    "Natürlich bin ich betroffen. Aber vor allem fühle ich mich schuldig. Schuldig, nicht in der Lage zu sein, die Empfindungen der Menschen im Norden zu teilen."

    In Schwarz-Weiß-Zeichnungen hält Yuko das Erzählte noch einmal fest, Skizzen aus ihrem täglichen Leben, die manchmal so banal wirken wie der beschriebene Alltag; dann aber wieder eindringlich zeigen, wie verstörend diese Zeit gewesen sein muss. Etwa wenn wir Yuko als großäugiges Manga-Mädchen durch eine schwarze Menschenmenge im nächtlichen Tokio irren sehen.

    "Die Menschen sehen aus wie der Schatten eines riesigen Waldes in der Nacht."

    Einspieler Musik

    Yuko ist keine Heldin, und wer Spektakuläres von diesem Tagebuch erwartet, wird enttäuscht. Doch gerade das macht die Lektüre auch für uns interessant, sagt Tim Rittmann:

    "Es handelt davon, dass sie versucht, dass alle um sie herum versuchen, irgendwie weiterzumachen, weil das nicht anders geht, man muss irgendwie weitermachen."

    Und ähnlich würden wir wohl auch in Berlin oder Braunschweig eine Rückkehr zum Alltag versuchen. Allerdings haben die Japaner auch eine besondere Strategie, mit extremen Situationen umzugehen:

    "Wir müssen alle ein bisschen fukinshin sein. Das Wort lässt sich schwer übersetzen. Es steht für ein komplett unangemessenes Verhalten. Bei einer Beerdigung auf die schönen Beine der Witwe starren, das ist fukinshin."

    Bibliografie

    "3/11 - Tagebuch nach Fukushima" von Yuko Ichimura und Tim Rittmann ist bei Carlsen erschienen. Es hat 172 Seiten und kostet 12,90 Euro
    ISBN 978-3-551-79188-7