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"Wie man einen Bestseller bastelt" - Ein Radioessay

Der erste Harry-Potter-Band hatte gerade mal Platz 4 der New York Times-Bestenliste erreicht, als der Roman "The Indwelling" an der Spitze stand. Der vormals unbekannte Autor, Jerry B. Jenkins, erklärte seinen Erfolg auf verblüffend einfache Weise:

Elke Heinemann |
    Schreib-Software gekauft. 6 1/2 Seiten Entwurf geschrieben. Erster Verleger, der es sah, gab mir einen sechsstelligen Vorschuss.

    Über Nacht wird im Land der unbegrenzten Möglichkeiten der Tellerwäscher zum Bestseller. Und das ist eigentlich ganz easy, liest man in der New York Times. Man braucht nur die richtige Computer-Software, wie beispielsweise die des amerikanischen Schriftstellers, Verlegers und Lektors Sol Stein. Angeblich schwören mehr als 80.000 Erfolgsautoren auf seine Programme, für die das US-Fachblatt Writer's Digest wirbt:

    Sie merken Ihren Fortschritt sofort. Schon nach der zweiten Übung haben Sie eine runde Geschichte mit einem spannenden Plot, mit Durchschlagskraft und ohne Klischees!

    Außerdem können Sie mit dem "Dialog Doktor" kranke Zwiegespräche heilen und mit dem "BlahBlah-Editor" gnadenloses Kürzen üben - frei nach Steins Motto "Weg mit den überflüssigen Pfunden. Dichter und Denker schreiben dichte Texte." Ob junges Genie oder reifer Genius, ob Roman, Kurzgeschichte, Gedicht, Theaterstück oder Filmscript: Auf CD-Roms, aber auch in Handbüchern, die in deutschen Verlagen wie Zweitausendeins, Autorenhaus oder Campus erscheinen, finden alle Hilfe, die schreiben oder schreiben wollen. Denn Schreiben kann man ja angeblich lernen. Und das nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland, wo Creative-Writing-Kurse erstmals in den 70er Jahren angeboten wurden, als 0-Ton- und Arbeiterliteratur den Markt eroberten, als das Verfassen von Gedichten und Erzählungen nicht mehr Privileg einer vielfach begünstigten Elite zu sein schien. Mittlerweile gibt es hier jährlich fast 700 Seminare, Workshops, Anfänger- und Fortgeschrittenenlehrgänge, in denen rund 10 000 Adepten sich ins schriftstellerische Geschäft einüben - und dies oft unter Anleitung unbekannter, aber auch sehr bekannter Autoren wie Stephen King.

    Gelegentlich werde ich gefragt, ob Schreibseminare oder -Unterricht nützlich für angehende Belletristik-Autoren sind. Wer das fragt, sucht nur zu oft nach einer magischen Formel, einem Trick oder nach Dumbos Zauberfeder ... nach Dingen, die man nicht im Klassenzimmer oder auf Schreibwochenenden findet, wie überzeugend die Broschüren auch sein mögen. Ich für meinen Teil habe so meine Zweifel, was den Unterricht angeht, bin aber nicht kategorisch dagegen. In dem wunderbaren tragikomischen Roman "Der Samurai von Savannah" von T. Coraghessan Boyle ist von einer Schriftstellerkolonie im Wald die Rede, die mir vorkommt wie im Märchen. Jedes Mitglied verfügt über seine eigene kleine Hütte, in der tagsüber gearbeitet wird. Mittags bringt ein Angestellter des Haupthauses den angehenden Hemingways und Cathers Essen in einem Karton, den er auf die vordere Veranda des Häuschens stellt. Er setzt ihn ganz leise auf der Veranda ab, um den Bewohner nicht in seinem Schaffensfluss zu stören. Jede Hütte verfügt über zwei Räume. Einer ist das Arbeitszimmer, im anderen steht ein Bett für das äußerst wichtige Nickerchen am Nachmittag ... oder vielleicht für ein die Lebensgeister weckendes Schäferstündchen mit einem anderen Bewohner der Kolonie.

    Stephen King, Verfasser zahlreicher Horror-Bestseller, attestiert trotz aller Polemik Schreibseminaren zwei Vorteile: Zum einen wird dort jeder ernstgenommen, der Prosa oder Lyrik verfassen möchte - etwas, das im richtigen Leben nicht oft zu haben ist. Zum anderen gehören die Seminarleiter zur Masse unterbezahlter Dichter, die auf diese Weise ein wenig Geld verdienen. Gleichwohl offenbart ein Blick in die zahlreichen Handbücher für .Schriftsteller und solche, die es werden wollen, die Ambivalenz der schreibenden Zunft. Die Weiterbildung von Hobby-Autoren übernehmen im deutschsprachigen Raum rund 250 Volkshochschulen und private Institute, die auch Mal-, Musik- und Theaterkurse anbieten. Aber anders als Maler, Musiker und Schauspieler können Profi-Schriftsteller sich kaum an Fachhochschulen ausbilden. Nur in Leipzig, Wien und München gibt es Examensstudiengänge für Belletristik. Und an der Universität Hildesheim geht der Schriftsteller Hanns-Joseph Ortheil seit zehn Jahren der Frage nach, ob man Schreiben tatsächlich lernen kann. Sein Resümee:

    Das Handwerk besteht aus dem aus der Weltliteratur abrufbaren Wissen, wie man Charaktere aufbaut, einen fesselnden Plot erfindet, Erzählräume plastisch werden lässt oder lebendige Dialoge schreibt. Für jedes handwerkliche Problem werden Lösungen präsentiert, so dass Schreiben zu einem raffinierten Kalkül wird, einen Leser emotional zu steuern. Viele meiner Studenten blühten bei Erprobung solcher Programme regelrecht auf. Nicht im Traum hatten sie daran gedacht, dass Schreiben so übersichtlich und regeltreu geplant werden konnte. ... Die Texte wurden immer länger und wirkten auch immer gekonnter, allerdings ähnelten sie einander auch immer mehr. Das Effizienzprogramm des Schreibens tat seine Wirkung wie ein schönes, schleichendes Gift, das lauter gut geplante Erzählungen mit profilierten Kontrastfiguren und auf dramatische Höhepunkte hin ausgerichtete Plots bescherte.... Solche Trainingsprogramme sind gut für Anfänger; wenn man ernsthaft schreiben will, verderben sie einem aber den eigenen Ton, nörgelte schließlich mein Lieblingsstudent.

    Keine unberechtigte Kritik. Täuschen doch zahllose Schreiblehrbücher vor, das ganze Leben wäre programmierbar und somit auch die schriftstellerische Karriere. Allerdings berichten hier nicht bekannte Schriftsteller über ihre eigene Arbeit. Vielmehr spekulieren Verleger, Lektoren, Journalisten und Autoren für alles über das Schreiben von Romanen und Erzählungen. Nicht den persönlichen Ausdruck wollen sie mittels ihrer peniblen Regelwerke schulen, sondern das Handwerk, die Konstruktion von Plot, Figuren, Dialogen. Und doch bedingen Inhalt und Form einander, und doch kann das, was erzählt wird, nur auf eine individuelle Erzählweise mitgeteilt werden. Ihre Vermittlung ist offensichtlich so unmöglich wie eine eigene Art des Malens, Musizierens, Schauspielens. Oder lässt sich Authentizität etwa üben? Eine Frage, die sich manche Lehrbuchautoren ernsthaft stellen, wie beispielsweise aus dem Band "Schriftsteller werden" hervorgeht:

    Was ... große ... Schriftsteller auszeichnet, ist, dass sie sich immer davor gehütet haben, zu tun, was ihre jungen Imitatoren so bemüht versuchen. Jeder von ihnen hat seine eigene Weltanschauung und ist bestrebt, diese zu vermitteln. Die Werke sind von großer Direktheit und Kraft, so wie alles, was ohne Umschweife oder Verfremdung aus dem innersten Kern der Persönlichkeit kommt.

    In Büchern wie Dorothea Brandes "Schriftsteller werden" oder Julia Camerons "Der Weg des Künstlers" steht nicht der Text, sondern das Wesen des Dichters im Mittelpunkt. Hier findet man Anleitungen zu Meditationen und Ritualen, Empfehlungen zu Ernährung und Freundeskreis sowie Tipps und Tricks, das Unbewusste freizusetzen. Die Psyche des Schriftstellers wird als planbar ausgewiesen, so, wie sein Handwerk - und wie sein Erfolg. Helfen ihm doch zahlreiche Handbücher mit Adressenlisten und Experteninterviews dabei, sich im Dschungel literarischer Preise, Stipendien, Verlage, Zeitschriften und Agenturen zurechtzufinden. Wohl dem Autor, der auf diese Weise allmählich begreift, "Wie man einen Bestseller bastelt". Er gehört einer literaturproduzierenden Minderheit an, die reich und berühmt ist - wie Stephen King, der auch ein Buch über das Schreiben verfasst hat. Daher die Frage an den Meister: Kann man Schreiben am Ende doch lernen?

    Schreibseminare oder -Unterricht braucht man genauso wenig wie dieses Buch oder jedes andere übers Schreiben. Faulkner lernte sei Handwerk, während er auf dem Postamt von Oxford, Mississippi, arbeitete. Andere Autoren erlernten die Grundlagen beim Dienst in der Navy, bei der Arbeit im Stahlwerk oder hinter schwedischen Gardinen. Die wertvollsten Erfahrungen meines Arbeitslebens (besonders in kaufmännischer Hinsicht) machte ich bim Waschen von Bettbezügen aus Motels und Tischdecken aus Restaurants in der Wäscherei New Franklin in Bangor. Man lernt man meisten durch regelmäßiges Lesen und Schreiben, und die wertvollsten Lektionen sind die, die man sich selbst erteilt. Sie finden fast immer statt, wenn die Tür zum Arbeitszimmer geschlossen ist. Diskussionen in Schriftstellerseminaren können intellektuell anregen und großen Spaß machen, aber genauso oft schweifen sie viel zu weit vom handfesten Alltagsgeschäft des Schreibens ab. Dennoch glaube ich, dass auch Sie in so einer Art waldigen Kolonie wie in "Der Samurai von Savannah" enden könnten: in Ihrem von Kiefern umsäumten kleinen Landhaus, wo es an nichts fehlt...

    Buchtipps in Auswahl:

    Dorothea Brandes: Schriftsteller werden.
    Der Klassiker über das Schreiben und die Entwicklung zum Schriftsteller. Autorenhaus-Verlag,135 S., EUR 10,-

    Julia Cameron:
    Der Weg des Künstlers. Ein spiritueller Pfad zur Aktivierung unserer Kreativität. Knaur, 352 S., DM 17,90

    Uta Glaubitz:
    Jobs für Bücherwürmer und Leseratten. Machen Sie Ihre Leidenschaft zum Beruf. Campus, 180 S., DM 29,80

    Manfred Plinke:
    Handbuch für Erst-Autoren. Wie ich den richtigen Verlag finde. Verlage & Agenturen, Preise & Stipendien, Tipps und Checklisten. Autorenhaus-Verlag, 187 S., EUR 14,90

    Hadayatullah Hübsch:
    little mags. Unabhängige Literaturzeitschriften. Gründung, Redaktion, Herstellung, Vertrieb. Autorenhaus-Verlag, 134 S. EUR 14,90

    Dorothee Leidig/Jürgen Bacia (Hg.):
    Handbuch deutschsprachiger Literaturzeitschriften. AutorenVerlag Matern, 180 S..EUR 19,-

    Deutsches Jahrbuch für Autoren, Autorinnen 2000/2001. Schreiben und Veröffentlichen mit aktuellen Literatur- und Verlagsadressen. Autorenhaus-Verlag, 569 S., EUR 19,90

    Buch-Partner. Partner für Autoren & Verlage. Autorenhaus-Verlag, 170 S., DM 20,-

    Sylvia Englert:
    So finden Sie einen Verlag für Ihr Manuskript. Schritt für Schritt zur eigenen Veröffentlichung. Campus, 285 S., EUR 15,90

    Publishing on Demand. Vom Manuskript zum Selbstverlag. Wie Sie Ihr Buch herstellen und verkaufen: Internet, Buchhandel, Direktvertrieb. Autorenhaus-Verlag, 88 S., EUR 9,90 Britta Schwarz: So verkaufen Sie Ihr Buch! Erfolgsstrategien und Marketing für Autoren und Selbstverleger. Autorenhaus-Verlag, 129 S., EUR 14,90

    Sandra Uschtrin/Michael Joe Küspert:
    Handbuch für Autorinnen und Autoren. Adressen und Informationen aus dem deutschen Literatur-und Medienbetrieb. Uschtrin-Verlag, 631 S., EUR 35,-

    Imre Török (Hg.):
    VS-Handbuch. Ein Ratgeber für Autorinnen und Autoren, Übersetzerinnen und Übersetzer. Steidl, 476 S., EUR 12,50

    Ulrich Janetzki/Christina Böde:
    Preise und Stipendien. Handbuch für Autoren. Deutschland, Österreich, Schweiz. München. Quadriga, 244 S., DM 29,80

    Gerhild Tieger (Hg.):
    Literaturpreise und Autorenförderung. Über 1000 Literaturpreise, Arbeitsstipendien, Aufenthaltsstipendien und andere Förderungen. Autorenhaus-Verlag, 188 S., EUR 14,90

    Sol Stein:
    Aufzucht und Pflege eines Romans. Deutsch von Waltraud Götting und Sebastina Gavajda. Zweitausendeins, 260 S., DM33,- Sol Stein: Über das Schreiben. Deutsch von Waltraud Götting. Zweitausendeins, 350 S., DM 33 Otto Kruse: Kunst und Technik des Erzählens. Zweitausendeins, 325 S" DM 35,20 William Zinsser: Schreiben wie ein Schriftsteller. Fach- und Sachbuch, Biografie, Reisebericht, Kritik, Business, Wissenschaft und Technik. Aus dem Amerikanischen von Kirsten Richers. Autorenhaus-Verlag, 236 S., EUR 14,90

    Gerhild Tieger (Hg.):
    Kreatives Schreiben lernen an Universitäten, Instituten, Literaturbüros, Volkshochschulen und Schreibschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Autorenhaus-Verlag, 125 S., EUR 14,-

    Udo Zindel/WoIfgang Rein (Hg.):
    Das Radio-Feature. Ein Werkstattbuch inklusive CD mit Hörbeispielen. UVK 1997, 380 S., EUR 24,90

    Stefan Wachtel:
    Schreiben fürs Hören. Trainingstexte, Regeln und Methoden. UVK, 196 S., EUR 19,90