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Wiege der deutschen Biochemie

Biochemiker versuchen, chemische Gesetze zu entschlüsseln, nach denen Leben funktioniert. Sie bewegen sich dabei im Grenzbereich zwischen Chemie, Biologie und Medizin. Vor 50 Jahren startete an der Universität Tübingen deutschlandweit der erste Studiengang Biochemie – mit sieben Studenten.

Von Ulrike Mix |
    "Wir waren dann hinterher perfekte Feuerwerker."

    Einen Lehrplan gab es zwar, als die ersten sieben Studenten in ihr erstes Semester starteten, doch die genauen Abläufe standen nicht fest. Und so wurden die angehenden Biochemiker öfter in ein Labor gesteckt, in dem sie selbständig und nicht eben vorschriftsmäßig mit ihren Glaskolben unterwegs waren.

    "Zum Beispiel hatten wir uns längst abgewöhnt, große Lösungsmittel einzuengen am Rotationsverdampfer. Die haben wir einfach angezündet und haben es runter brennen lassen und dann den Deckel drauf, wenn das Volumen stimmte."

    Heute dagegen arbeiten die Studenten in den Labors unter strengen Sicherheitsvorschriften. Sie hantieren nicht mehr mit großen Glasgefäßen, in denen Flüssigkeiten brodeln, sondern pipettieren Kleinstmengen, die oft nicht einmal mit bloßem Auge sichtbar sind. Doch natürlich studierte 1962 niemand Biochemie nur, weil er es mal so richtig krachen lassen wollte, meint Leopold Flohé.

    "Man war neugierig. Das war eine Zeit, in der in der Biologie so einiges explodierte: Der genetische Code war geknackt und so und das war alles unheimlich interessant und weder in der Medizin noch in der Chemie konnte man sowas wirklich lernen."

    In der Biochemie dagegen schon. Sechs der sieben Anfänger wurden Professoren. Heute undenkbar, aber damals war das Fach neu und jeder Absolvent ein Spezialist. Man merke bis heute, dass die Wiege der deutschen Biochemie in Tübingen stand, meint Professor Jürgen Bernhagen, der in Tübingen studierte und heute an der Uni Aachen lehrt. Die Tübinger seien überall zu finden.

    "Alle weltweiten und bekannten auch deutschen Firmen, da sind Tübinger Biochemiker vertreten."

    Auch Leopold Flohé ging schließlich in die Pharmaindustrie, was damals noch eine Ausnahme war. Er entwickelte das Schmerzmittel Tramadol, das heute ein Standardmedikament ist.

    Im Laufe der Jahre wurde die Tübinger Biochemie nicht nur organisierter und verschulter, erzählt der heutige Technische Direktor des Instituts Dr. Klaus Möschel, die Abläufe beschleunigten sich auch. Früher ließ man sich in der Werkstatt des Instituts noch ausgeklügelte Geräte basteln – und das dauerte. Doch man hatte Zeit – denn das Land finanzierte alles und drängte nicht auf Ergebnisse.

    "Inzwischen sind wir hier im Institut 90 Prozent drittmittelfinanziert, das heißt die Profs müssen relativ schnell Ergebnisse bringen, relativ schnell publizieren, um sich da einen Namen zu machen und dann wieder neue Gelder einzuwerben und da ist es dann egal, ob ein Gerät 10.000 Euro oder 20.000 Euro kostet. Es ist viel wichtiger, dass es schnell da ist, als wenn die Werkstatt ein halbes Jahr ein Gerät zusammen baut."

    Es war eine andere Welt früher, bestätigt Jürgen Bernhagen. Das Fach habe sich rasant entwickelt. Von der Grundlagenforschung der ersten Jahre hin zu einem Fach mit hoch spezialisierten Einzelgebieten:

    "Damals sind wir in die Bibliothek gegangen und haben die neusten Artikel einmal pro Woche nachgelesen – und heute geht man in die public library of medicine und sieht zu seinem Gebiet jeden Tag hunderte neuer Arbeiten."

    Wegen der Fülle an Informationen erforscht man heute schon als Student ganz spezielle Krankheitsbilder oder die Funktionsweise eines bestimmten Zelltyps, sagt Berhagen.

    "Das ist spannend natürlich, weil Krankheiten interessieren uns alle, aber dadurch geht man als junger Student, Diplomand oder heute Masterstudent, Doktorand eben nicht mehr so in die Grundlagen rein."

    Chemisch kochen wie anno 1962 – Stoffe, mit denen man experimentiert selber herstellen – das können heute die wenigsten Biochemiker. Dafür gibt es fertige Experimentier-Sets. Die chemischen Grundlagen sind zu Gunsten der Spezialisierung auf der Strecke geblieben – und die Knalleffekte von einst sowieso.