In dieser, seiner berühmtesten Schrift Tractatus logico-philosophicus orientiert Wittgenstein die Philosophie an der Logik. Die Sprache ist in der Lage, die Wirklichkeit richtig auszudrücken, weil beiden, der Sprache wie der Wirklichkeit die Logik als Grundstruktur eigen ist. Daher können nur die Sätze der Naturwissenschaft die Wirklichkeit richtig wiedergeben. Wahre Sätze, so der frühe Wittgenstein, sind nur die exakten Sätze der Naturwissenschaft. Die Philosophie kann dagegen nur ihre Irrtümer bekennen. Wittgenstein beendet den Tractatus mit dem berühmten Satz: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen."
Doch schon im Tractatus ist ihm klar, das diese logische Übereinstimmung von Sprache und Wirklichkeit nicht bewiesen werden kann. Wenn man alles auf logisch exakte Sätze reduzierte, dann ließen sich die spannenden lebensweltlichen Fragen gar nicht mehr sagen. Wilhelm Vossenkuhl, der gerade in der Reihe Klassiker auslegen des Akademie-Verlages den Band über den Tractatus herausgibt und einleitet, betont dessen Bedeutung:
So gut wie alle Fragen, die er später stellt, tauchen da schon auf: Was hat Sprache mit Wirklichkeit zu tun? Bildet die Sprache die Wirklichkeit ab? Wie kann sie überhaupt Wirkliches ausdrücken? Welche Strukturen sind dafür notwendig? Was sind die Grundgegebenheiten, auf die wir sprachlich Bezug nehmen? Also der Tractatus ist ein Grundbaustein seines Denkens.
Ein bisher eher unbekanntes Werk Wittgensteins erscheint gerade als Band 11 der Wiener Ausgabe im Springer Verlag: The Big Typeskript . Es entstand im Übergang zwischen der Phase des Tractatus, als Wittgenstein noch primär an der Logik interessiert war, zur Phase, als er sich eher mit grammatischen Fragen zu beschäftigen begann. Insofern beginnt das Werk bereits mit dem Problem des Verstehens und der Bedeutung, kommt zum Thema Grammatik, aber endet noch mit der Logik und der Mathematik. Wilhelm Vossenkuhl über The Big Typeskript:
Das ist so Anfang der dreißiger entstanden, als er wieder nach Cambridge zurückgekehrt war. Er hat dann angefangen, sich von der Logikauffassung des Tractatus zu lösen, hat aber gemeint, er könnte noch ein systematisches Buch oder einen Text schreiben, der einen systematischen Aufbau hat. Aus dieser Grundidee entstand dann ein Konglomerat von Manuskripten, das man dann später Big Typescript nannte, weil es einfach maschinengeschrieben war und ein paar hundert Seiten Manuskripte umfaßte. Es ist ein sehr aufschlußreiches Konvolut, weil darin alle Themen, die dann später eine Rolle spielen, angesprochen werden. Also Sprache ist das große Thema.
Wittgenstein publizierte die meisten seiner Texte nicht mehr zu Lebzeiten, so das man häufig kaum von einer Endfassung sprechen kann. Die von Michael Nedo herausgegebene Wiener Ausgabe versucht dieser Schwierigkeit philologisch gerecht zu werden. Wilhelm Vossenkuhl:
Überhaupt ist die Veröffentlichungspraxis nach seinem Tode bis heute umstritten gewesen. Inzwischen gibt es ja eine Edition, die Herr Nedo besorgt und die sehr aufwendig ist und die alle Stufen der Werkentwicklung betreut, nachzeichnet. Wahrscheinlich ist das die einzige Möglichkeit um überhaupt an diese Gedankenentwicklung heranzukommen.
The Big Typescript versucht ähnlich wie der späte Wittgenstein sich den einzelnen Phänomenen der Sprache zu nähern. Denn es ist nicht so einfach über die Sprache zu sprechen. Man ist ja immer schon in der Sprache, wenn man sich ihr zu nähern versucht - eine Schwierigkeit, die Wittgensteins Werk durchzieht und die es so aphoristisch und unsystematisch erscheinen läßt. Denn man kann sich die Sprache nicht von außen zum Gegenstand, zum Objekt machen. Wilhelm Vossenkuhl bemerkt:
Es gibt also mehrere Passagen, wo er im Big Typeskript sagt: es gibt nichts außerhalb der Sprache. Es gibt nichts, was nichtsprachlich ist. Es gibt nichts, was wir verstehen können und was nicht selbst einen sprachlichen Charakter hätte. Also verstehen heißt Sprache verstehen. Das, glaube ich, ist die Grundidee.
So weist The Big Typeskript in die Fragestellung des Spätwerks, zu Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen. Sprache - das stellt Wittgenstein hier fest - hat keine festen Bedeutungen, die gerade eine exakte logische Sprache braucht. Bedeutungen von Worten und Sätzen ergeben sich aus dem Gebrauch, sind veränderlich und lassen sich nur an konkreten Beispielen erläutern, die Wittgenstein Sprachspiele nennt, vielleicht das berühmtes Wort seiner Philosophie. Da man unendlich viele Bedeutungen sprachlich ausdrücken kann, gibt es auch unendlich viele Sprachspiele. Wittgenstein schreibt in den Philosophischen Untersuchungen: "Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. Und die Bedeutung eines Namens erklärt man manchmal dadurch, das man auf seinen Träger zeigt."
Wegweisend für die Philosophie im 20. Jahrhundert ist denn auch dieses nicht begriffliche Denken Wittgensteins. Wilhelm Vossenkuhl betont:
Die Philosophischen Untersuchungen sind das wichtigste Werk, weil dort die Quintessenz der späten Themen versammelt ist. Die Auffassung, das Sprache nicht etwas ist, das man, wie er das am Anfang der Untersuchungen sagt à la Augustinus auffassen kann, so als wären nämlich die Worte kleine Täfelchen für die Dinge und das ist Sprache nicht. Und er entwickelt da in sehr sehr anschaulicher Form seine Auffassung von Sprache. Aber er hat keinen Sprachbegriff. Das ist das Enttäuschende. Man sucht als Philosoph immer nach Begriffen und denkt wo ist jetzt der Sprachbegriff. Den gibt es nicht, sondern es gibt eine Sprachauffassung. Es gibt Aspekte des Sprechens. Es gibt die Sprachpraxis. Aber es gibt nicht den Begriff der Sprache.