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Wieviel historische Wahrheit braucht die Kunst?

In Thüringen hat die Entscheidung der Landtagspräsidentin Dagmar Schipanski, eine Radierung des Malers Werner Tübke aus dem Landtag zu entfernen, für Unmut gesorgt. Das Bild zeigt den Ungarnaufstand von 1956 und trägt den Titel: "Faschistischer Terror in Ungarn" Das Bild war nach der Kritik der Thüringer Stasi-Beauftragten Hildigund Neubert aus der Ausstellung im Landtag entfernt worden, weil es nicht dem vom Parlament vertretenen Geschichtsbild entspreche.

Von Jörg Sobiella |
    "Faschistischer Terror in Ungarn" steht als Bildtitel unter einer kleinen Radierung von der Hand Werner Tübkes. Der Maler entwirft auf dem Blatt ein fast ornamentales Muster aus dichtgedrängten Menschenleibern und menschlichen Gliedmaßen. Die Grafik wurde aus einer Ausstellung von Werken des Künstlers im Thüringer Landtag entfernt.

    Die Landesbeauftragte für die Stasiunterlagen Hildigund Neubert und die Landtagspräsidentin Dagmar Schipanskis meinten, die Radierung nicht zeigen zu können. Was zum Beispiel würden ungarische Gäste denken, die man demnächst empfangen wird, wenn sie diese Verunglimpfung ihres Kampfes für Freiheit und Demokratie an einem Ort lesen müssten, der seinerseits die Demokratie und Freiheit der Gastgeber symbolisiert.

    Gegen die Ausstellung einer Radierung mit solcher Randbemerkung in den Wandelgängen eines Landesparlaments lässt sich in der Tat manches einwenden. Dagmar Schipanski hat als Hausherrin das formale Recht - und als Politikerin nimmt sie es sich - die Würde der Politik gegen die Würde der Kunst und des Künstlers durch Entfernung des inkriminierten Bildes zu verteidigen.

    Bitteschön, das ist Demokratie.

    Viele Menschen, darunter zahlreiche vom DDR- System und der Staatssicherheit Drangsalierte begrüßten die Entscheidung der Landtagspräsident.

    Dennoch ist die politisch korrekte Ausstellungsbegradigung inzwischen zum Fall geworden, zum Bilderstreit, weil es ebenso viele Bürger gibt, die die Freiheit der Kunst beschnitten sehen und sich selbst bevormundet fühlen.

    Besonders der missionarische Furor der Landesbeauftragten für die Stasiunterlagen Hildigund Neubert stößt auf Widerspruch. Der Frau passt die ganze Richtung nicht, sprich der ganze Tübke. Der war in ihren Augen ein von der Macht korrumpierter Staatskünstler. Ginge es nach ihr, würde sie dem Museum im nordthüringischen Bad Frankenhausen, das Tübkes grandioses Bauernkriegspanorama jährlich rund 120.000 Besuchern zeigt, die Subventionen streichen, wenn nicht gar schließen. Alles sozialistische Propagandakunst und das schlimmste daran, dass die Kunst die Ideologie bis heute auch noch perfide verstecke, so Frau Neubert. Sie schlägt den Sack und meint den Esel. Tübke gleich DDR. Die thüringische Stasiunterlagenhüterin kämpft für einen gesellschaftlichen Konsens, der das Erbe der DDR vergleichsweise einmütig ablehnt wie das geistige und moralische Erbe des Dritten Reiches.

    Werner Tübke ist vor zwei Jahren verstorben, er kann sich nicht mehr verteidigen – und wenn er es könnte, er fände es vermutlich unter seiner Würde, sich auf das pauschalisierende Niveau von Hildigund Neubert hinabzubegeben. Er wusste, was er sich und der Welt als genialer Künstler wert war. Ganz sicher hat Tübke seine Meinung über Ungarn 1956 in späteren Lebensjahren auch geändert, so wie viele Menschen im kommunistischen Ostblock, die mit gefilterten Nachrichten Wahrheiten abgespeist worden waren, anderen Sinnes wurden, nachdem sie die ganze Wahrheit erfahren hatten.

    Insofern kann man Tübkes Bildtitel auch als ein Dokument zur Geschichte der Manipulation im Sozialismus lesen. Wie Tübke tatsächlich über Opferrollen und Siegerposen, über Verdammte und Erlöste, über Schurken und Helden in der Geschichte dachte, das hat er uns in einem der fesselndsten Weltbilder des 20. Jahrhunderts hinterlassen. Der auf 2000 Quadratmetern Leinwand ausgebreitete, schier unerschöpfliche Kosmos seines Geschichtspanoramas in Bad Frankenhausen belehrt die Betrachter darüber, dass der Nektar jeglichen Fortschritts immer nur aus den Schädeln der Erschlagenen getrunken wurde, in der Hölle wie im Himmel so auf Erden.

    Und das Bild enthält auch eine Botschaft für alle Missionare der reinen Wahrheit, schon zu DDR-Zeiten und für die neuen: Es gibt sie nicht, weder in der Geschichte noch in der Kunst – diese eine reine, widerspruchslose Wahrheit.

    Nicht unter ihrem Diktat zu stehen sollte eine garantierte Grundvoraussetzung jeder pluralen Gesellschaft sein. Darauf hätte der Künstler Werner Tübke einen Anspruch gehabt – auch auf den Korridoren der Thüringer Volksvertreter.