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Wilhelm, der Manipulierte

Wieviel Macht besaß Kaiser Wilhelm der Zweite wirklich? Lange schon haben Historiker über diese Frage debattiert und über die Verantwortung von SM, von seiner Majestät, für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs gestritten. Christopher Clark, Historiker in Cambridge, hat die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers untersucht und glaubt, dieser war in vielen Fällen ein manipulierter Herrscher.

Von Niels Beintker |
    Im Sommer 1899 lieferten sich die Abgeordneten im Preußischen Landtag einen Grabenkampf im wortwörtlichen Sinn. Der Bau eines großen Kanals stand zur Debatte, von der Oder an den Rhein, angedacht von Kaiser Wilhelm dem Zweiten, auch im Sinne der ideellen Verbindung weit voneinander entfernt liegender Provinzen des Reiches. Das Binnenschifffahrtsprojekt stieß auf erbitterten Widerstand der mächtigen konservativen Fraktion im Parlament. Am 16. August wurde die sogenannte Kanalvorlage mit einer deutlichen Mehrheit im Landtag abgelehnt, mit 275 zu 134 Stimmen. Seine Majestät musste weitgehend hilflos zur Kenntnis nehmen, dass die Agrar-Barone aus den Gebieten östlich der Elbe so gar nichts von seinen innovationsfreudigen Verkehrsideen hielten. Weder die anschließende Amtsenthebung einiger besonders renitenter Staatsdiener noch eine Reihe weiterer Abstimmungen über das Projekt führten zum vom Kaiser gewünschten Ergebnis. Es blieb beim Nein der Volksvertreter. Für den Historiker Christopher Clark ein Indiz für die relative Machtlosigkeit des letzten deutschen Kaisers.

    "Das war ein Herrscher, der immer wieder zwischen seinen Untergebenen geleitet und gemanagt wurde. Die Entscheidungsprozesse wurden abgeschirmt gegen seinen Einfluss, regelrecht abgeschirmt. Seine Eingriffe verliefen deshalb sehr oft im Sand."

    Wilhelm, der Manipulierte, der ohnmächtig Mächtige - so ließe sich, etwas überspitzt, die These zusammenfassen, auf die das Buch des großen Preußen-Kenners Christopher Clark hinausläuft. Bereits als Jugendlicher wurde der Hoffnungsträger im Hause Hohenzollern politisch instrumentalisiert, gegen die liberalen und englandfreundlichen Eltern, für ein stock-konservatives und prorussisches Milieu. Später dann, als deutscher Kaiser, war Wilhelm eine Art Spielball, mit dem die angeblich mächtigen Reichskanzler ihre eigene Machtpolitik verwirklichen konnten. Die Tastsache, dass so kurz nach der Reichsgründung das Kaisertum noch immer eher symbolischen Wert denn konkrete Macht hatte, spielte ihnen dabei in die Hände. Christopher Clark vergleicht es mit einem Haus, in dem die meisten Zimmer noch gar nicht bewohnt gewesen seien.

    "Er musste dieses imperiale Amt über Improvisationen erfinden und gleichzeitig verwirklichen. Sein Großvater, der sehr lange regiert hatte, blieb eigentlich ein König Preußens. Er agierte in der Öffentlichkeit nicht als Kaiser Deutschlands. Diese Integrationsrolle überließ er Bismarck. Nachdem Bismarck weg war, musste Wilhelm aus diesem Amt ein Reichsamt machen. Auch bei einem begabten Menschen wäre das kein leichtes Unterfangen gewesen."

    Dabei versuchte Wilhelm der Zweite gerade in den 1890er Jahren mit einer Fülle von Ideen und Vorhaben an politischem Einfluss zu gewinnen, unter anderem mit einem weitreichenden Schulgesetzentwurf. Wilhelm, der Plötzliche nannte man ihn deshalb auch - doch trotz aller plötzlichen Einfälle blieb er stecken in einem politischen System, das Christopher Clark als unvollendeten Föderalismus beschreibt. Der Kanzler und das Kabinett, selbst der oftmals milde belächelte Reichstag, waren nach dieser Lesart viel mächtigere Instanzen als der erste Mann im Staat. Deshalb auch konnte ein Reichskanzler wie Bernhard von Bülow von sich behaupten, er sehe seine Aufgabe darin, Deutschland über das Regime Wilhelms des Zweiten hinwegzuhelfen. Von Bülow scheiterte. Wilhelm der Zweite - für Clark also der machtlose Kaiser. Folgerichtig ist der Historiker aus Cambridge davon überzeugt, dass auch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs unmöglich auf das politische Handeln des Regenten zurückzuführen ist.

    "Das Interessante an seiner Rolle im Vorfeld des Ausbruches des Ersten Weltkrieges ist, dass er immer wieder bremsend wirkt. Das haben auch die Zeitgenossen gesehen. Das war ein Mann, der immer, als es wirklich hart auf hart ging, zurückschreckte. Er hat zum Beispiel in den letzten Tagen der Juli-Krise versucht, Deutschland aus den Verpflichtungen gegenüber Wien wieder heraus zu führen, hat die Österreicher zur Vorsicht mahnen wollen."

    Erfreulicherweise verweigert sich Christopher Clark allen denkbaren psychologischen Deutungen der kaiserlichen Politik. Er beschreibt die Ära seiner Herrschaft vor allem mit Berichten von politischen Beobachtern - und findet so viele Belege für das Bild eines vergleichsweise zahmen Monarchen. Dabei aber gerät ihm ausgerechnet Wilhelms Machtverständnis aus dem Blick, so sprunghaft und widersprüchlich dessen politische Überlegungen auch gewesen sind. Der letzte deutsche Kaiser dachte und handelte absolut friderizianisch, mit anderen Worten: hilflos altmodisch - weshalb es zu einer so großen Diskrepanz zwischen seinem absolutistischen Anspruch einerseits und den vergleichsweise modernen Institutionen des Deutschen Reiches andererseits kam. Doch selbst während des Krieges konnte keine zentrale Entscheidung ohne das Plazet des Kaisers gefällt werden. So sperrte er sich etwa lange gegen das Auslaufen der Flotte und gegen den Beginn des uneingeschränkten U-Boot-Krieges. Das Ende der Monarchie hat Wilhelm der Zweite dennoch nicht aufhalten können. Wobei ihm ausgerechnet aus dem Generalstab des Heeres machtvolle Konkurrenz erwuchs.

    "Hindenburg ist dann als Ersatzkaiser in der deutschen Öffentlichkeit aufgetreten. Er hat sehr gezielt mit der Öffentlichkeit gearbeitet. Er hat gerade das gemacht, was der Kaiser und sein Stab hätten machen müssen: die Öffentlichkeit für sich einzunehmen. Hindenburgs Ersatzkaisertum oder Gegenkaisertum hat Wilhelm vollkommen in den Schatten gestellt."

    Der Glaube an die Alleinverantwortung des letzten deutschen Kaisers für den Ersten Weltkrieg ist lange schon entkräftet. Das bedeutet freilich nicht, dass Wilhelm der Zweite ein ausschließlich hilfloser und schwacher Regent gewesen sei, ein Getriebener. Wer ihn zu einer bloßen Symbolfigur verkleinert, übersieht leichtfertig, wie zentral die Position des Monarchen im Machtgefüge des Deutschen Reiches tatsächlich gewesen ist. Und auch, dass Wilhelm lange schon für einen Krieg plädierte, um die Vormachtstellung Deutschlands in Europa und der Welt zu erlangen. Die Zweifel an seiner Interpretation der Herrschaft Wilhelms des Zweiten kann Christopher Clark letzten Endes nicht zerstreuen. Die große Biographie von John Röhl ist in ihrem Urteil sehr viel deutlicher. Der Kaiser hat die deutsche Politik nicht alleine bestimmt. Aber er hat sie entschieden beeinflusst. Mit allen fatalen Konsequenzen.

    Christopher Clarks Buch "Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers” ist erschienen in der Deutschen Verlags-Anstalt München. 414 Seiten kosten 24,95 Euro.