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"Wir haben die nackte Not gesehen"

Viele Menschen in Syrien fühlen sich von der internationalen Staatengemeinschaft im Stich gelassen, sagt Valerie Ann Amos. Es fehle an Treibstoff, Strom und Wasser und auch an Lebensmitteln, berichtet die Nothilfekoordinatorin der Vereinten Nationen.

Valerie Ann Amos im Gespräch mit Christiane Kaess | 13.06.2013
    Christiane Kaess: Aus Syrien kommen seit Beginn des Bürgerkrieges keinerlei Meldungen, die irgendwie Hoffnung auf ein Ende des Konflikts geben würden. Zuletzt die Schlacht um Kusseir und momentan der Vormarsch der syrischen Regierungstruppen auf Aleppo lassen ein weiteres Blutvergießen befürchten. Mehr als 1,6 Millionen Flüchtlinge gibt es bereits und es werden immer mehr. – Ich habe vor der Sendung mit der Nothilfekoordinatorin der Vereinten Nationen, Valerie Amos, während Ihres Besuchs in Berlin gesprochen. Sie war mehrmals während des Krieges in Syrien. Ich habe sie zuerst gefragt, wie sie die aktuelle Lage im Land einschätzt.

    Valerie Ann Amos: Ich war das letzte Mal im Januar dort im Lande. Es ist also schon einige Zeit her. Seit damals hat sich die Situation verschlechtert. Nehmen Sie nur die heftigen Kämpfe in Kusseir, die erst vor kurzer Zeit stattgefunden haben. Dort konnten dann nicht einmal mehr die humanitären Organisationen einkehren und Hilfe leisten. Selbst das Internationale Rote Kreuz, eine wirklich unabhängige Organisation, hat keine Möglichkeit gesehen, in Kusseir zu helfen. Das heißt, vor Ort hat sich die Lage verschlimmert.

    Kaess: Entschuldigen Sie, wenn ich unterbreche. Warum konnten die humanitären Organisationen nicht nach Kusseir?

    Amos: Dort waren erbitterte Kämpfe und die Regierung hat erklärt, dass das Rote Kreuz erst dann wieder dort hingehen könnte, sobald die Feindseligkeiten beendet wären.

    Kaess: Als Sie in Syrien waren, wo genau waren Sie und was haben Sie gesehen?

    Amos: Ich bin in Damaskus gewesen, in Homs und auch in einigen anderen Gegenden, in denen sich Syrer, die aus anderen Gegenden vertrieben worden waren, wieder gefunden hatten, zusammen mit ihren Angehörigen, vor allem in Schulen und anderen Orten.

    Kaess: Was waren Ihre Eindrücke?

    Amos: Die Menschen sind verzweifelt. Sie sehnen das Ende der Kämpfe herbei. Das habe ich übrigens nicht nur in Syrien gesehen, sondern auch in der Türkei, im Libanon, in Jordanien. Oftmals hat sich die Situation so dargestellt. Viele Menschen kommen auf mich zu, sie sagen, wir haben den Eindruck, dass die Staatengemeinschaft uns Syrer vergessen hat. Sie sehen dieses nicht zustande kommen einer politischen Lösung als offenes Versagen, als Unfähigkeit der Staatengemeinschaft, zusammen mit der Regierung und mit oppositionellen Gruppen eine Lösung herbeizuführen – ein offenes Versagen.

    Kaess: Das ist das, was Ihnen die Menschen erzählt haben. Haben Sie auch den Eindruck, dass die internationale Gemeinschaft die Syrer im Stich gelassen hat?

    Amos: Nein. Ich meine nicht, dass die Staatengemeinschaft die Syrer im Stich gelassen hat. Wir von der humanitären Seite haben doch getan, was wir tun konnten, nicht nur in Syrien selbst, sondern auch in den benachbarten Ländern. Dennoch glaube ich, es lastet hier eine erhebliche Verantwortung auf allen Ländern, die einen Einfluss dort in der Region haben, die Lösung zum Besseren herbeizuführen, in der Zusammenarbeit mit der syrischen Regierung und den oppositionellen Gruppen. Eine politische Lösung ist gefragt. Wir auf der humanitären Seite tun, was wir können, und wir sehen doch, dass etwa ein Drittel der syrischen Bevölkerung wirklich dringendst Hilfe braucht.

    Wir sehen den Zusammenbruch der Wirtschaft. Wir sehen darüber hinaus den Zusammenbruch der Währung, einen Mangel an Treibstoff, an Strom, an Wasser. All das wirkt sich natürlich aus. Wir haben die nackte Not gesehen in den Augen der Vertriebenen und der Flüchtenden. Wir haben die Brutalität zu Gesicht bekommen, die vor allem Frauen und Kinder treffen kann, diese Gewalttätigkeit. All das bringt uns zur Überzeugung, dass eine erhebliche Verantwortung bei all jenen, die Einfluss haben, liegt. Wir brauchen einen Waffenstillstand. Und selbst wenn wir morgen schon den Waffenstillstand hätten, müssten wir den Menschen noch weiter helfen, weil ihre Lebensgrundlage zerstört ist, weil sie ihre Heimat verloren haben, weil sie in die Not getrieben worden sind.

    Kaess: Was könnte die internationale Gemeinschaft denn noch mehr tun?

    Amos: Nun, es gibt den Vorschlag einer Konferenz, die im Juli nach Genf einberufen werden soll, mit Vertretern von den Ländern des UNO-Sicherheitsrats und anderen. Ziel soll es sein, eine Übergangslösung im Gespräch mit Vertretern der Regierung und der Opposition auszuarbeiten.

    Wie kann man auf humanitärer Seite helfen? – Nun, wir brauchen natürlich erheblich mehr Mittel. Wir haben am Freitag erst einen dringenden Aufruf verkündet, wonach wir wesentlich mehr Mittel brauchen, 3,1 Milliarden US-Dollar, um den Menschen zu helfen innerhalb und außerhalb Syriens, von heute an bis zum Ende dieses Jahres. Wir brauchen natürlich auch Zugang zu allen Gegenden, und deshalb brauchen wir die Unterstützung der syrischen Regierung und der Opposition, um in alle Gegenden zu gelangen, wo unsere Hilfe nötig ist. Wir brauchen Hilfe und Unterstützung für die Menschen, aber auch für die Nachbarländer Libanon, Jordanien, die Türkei. Das sind ja Nachbarländer, die Flüchtlinge aufgenommen haben und die einen erheblichen Druck aufgrund dieser Tatsache auf ihrer eigenen Bevölkerung verspüren, auf ihre Mittel, auf ihre Bildungseinrichtungen. Das alles ist Teil unserer Verantwortung als humanitäre Gemeinschaft und als internationale Gemeinschaft.

    Kaess: Was genau erwarten Sie von Deutschland?

    Amos: Deutschland hat sich als eine ganz wesentliche unterstützende Kraft in der Reaktion auf die syrische Krise erwiesen. Dafür möchte ich der deutschen Regierung, den deutschen Parlamentariern und dem deutschen Volk danken. Derzeit laufen Diskussionen, ob Deutschland einen bestimmten Anteil der Vertriebenen und der Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen könnte. Meine Kollegen vom Flüchtlingswerk der UNO führen diese Verhandlungen. In den beiden Tagen, die ich hier in Deutschland verbracht habe, war es einer meiner Aufrufe, dass Deutschland prüfen sollte, ob es nicht andere Wege noch gäbe, mit denen es die Lage finanziell unterstützen könnte – nicht nur im Bereich humanitärer Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit, denn ich weiß, dass die Mittel dort unter Druck sind, sondern in anderen Weisen, durch Unterstützung für Länder wie Jordanien und Libanon, die so dringend jetzt auch Hilfe benötigen.

    Kaess: Die Informationen, die wir aus den Flüchtlingslagern zum Beispiel in Jordanien bekommen, beschreiben eine desaströse, sehr angespannte Lage. Was sind die Hauptprobleme?

    Amos: Die Lage ist wirklich gespannt. Stellen Sie sich vor: da sind Lager, die für fünf-, zehn- oder 20.000 Menschen ausgelegt sind, in denen drängen sich nun 100.000 Menschen. In einem solchen kleinen Lager entsteht nun eine richtige Stadt. Das ist schwierig, die Menschen finden keine Arbeit, sie finden keine Lebensgrundlage für ihre Angehörigen. Die Menschen sehnen sich danach, nachhause gehen zu können. Sie sind enttäuscht, zornig, durcheinander. Oft haben sie das Gefühl, dass nicht genug für sie getan werde. Es fehlt oft an ausreichend Nahrung, es fehlt an der Qualität der Gesundheitsversorgung. Gerade der Unterricht für die Kinder lässt sehr zu wünschen übrig. Ich habe die Lager besichtigt und die Lage dort ist wirklich schwierig. Viele Menschen, die mit der Aussicht ihre Heimat verließen, in drei, sechs oder neun Monaten zurückkehren zu können, sehen jetzt mit Erschrecken, dass dies schon länger als zwei Jahre sich so hinzieht.

    Kaess: Bisher konnte ja niemand den Konflikt lösen und es ist noch nicht einmal sicher, dass die internationale Konferenz zu Syrien, über die Sie sprachen, die die USA und Russland planen, ob diese überhaupt stattfinden wird und ob sie alle Gegner an einen Tisch bringen kann. Ist Syrien denn ein weiterer Beweis für das Versagen der internationalen Gemeinschaft und der Vereinten Nationen bei der Lösung solcher Konflikte?

    Amos: Die Vereinten Nationen bestehen ja aus den 193 Mitgliedsstaaten. Die Hauptlast ruht jetzt auf diesen Ländern, insbesondere auf den Mitgliedsländern des Sicherheitsrates und hier wiederum bei den fünf ständigen Mitgliedern. Sie müssen sich aufraffen, um eine Lösung herbeizuführen. Dafür gibt es auch erhebliche Unterstützung, für die Konferenz in Genf im Juli. Dennoch herrscht vielfach die Wahrnehmung, dass dieser Konflikt sich ja jetzt schon so lange hinziehe und dass dies letztlich ein Versagen der Staatengemeinschaft sei. Ich und meine Kollegen in den humanitären Organisationen haben einen Aufruf veröffentlicht, wonach wir ganz dringend zu einer politischen Lösung gelangen müssen. Uns ist klar, das ist keineswegs einfach. Die Wahrnehmung über die Situation in Syrien selbst ist ja doch sehr unterschiedlich. Dennoch dürfen wir bei all dem nicht vergessen: Je länger sich der Konflikt hinzieht, desto mehr leiden Frauen, Kinder, Männer, ganz normale Menschen von der Straße. Sie werden der Gewalttätigkeit ausgesetzt, sie müssen die Hauptlast dieses Konflikts tragen, ihnen wird schlimmstens zugesetzt durch diesen Konflikt. Deshalb sind wir alle aufgerufen, hier Entlastung zu schaffen. Wir dürfen nie vergessen: Diese Menschen leiden. Das dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Wir müssen ihnen helfen.

    Kaess: Valerie Amos, sie ist Nothilfekoordinatorin der Vereinten Nationen. Danke für das Gespräch.

    Amos: Dankeschön.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.