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"Wir haben ja noch die goldenen Zeiten miterlebt"

Die Wertigkeit von Musik sei furchtbar gesunken, sagen Kai und Thorsten Wingenfelder, die mit Fury In The Slaughterhouse bekannt wurden und die Band Wingenfelder gegründet haben. Heute gehe es nur noch ums Geldverdienen. Im Kammermusiksaal des Deutschlandfunks präsentieren sie ihre Songs in einem einmaligen DLF-Radiokonzert.

Mit Kerstin Janse |
    Kerstin Janse: Die Gruppe Wingenfelder formiert sich aus den ehemaligen Fury In The Slaughterhouse-Mitgliedern und Brüdern Kai und Thorsten Wingenfelder, zusammen mit ihrer neuen vierköpfigen Band. Mit Fury In The Slaughterhouse verkauften die Brüder in gut 20 Jahren Bandgeschichte über vier Millionen Platten.

    Auf die Trennung der Band 2008 folgte nach drei Jahren ihr erstes gemeinsames Album in deutscher Sprache. Gerade ist ihr zweites Album "Selbstauslöser" erschienen, dessen Songs sie im Kammermusiksaal des Deutschlandfunks in einem einmaligen DLF Radiokonzert präsentieren werden.

    Thorsten Wingenfelder: Wir erzählen Geschichten aus der eigenen Westentasche und Midlifecrisis – ich warte immer noch darauf, dass sie kommt, aber vielleicht war sie da und ich hab sie gar nicht bemerkt, das kann auch sein. Wenn du ein bisschen mehr über das Leben weißt, dann hast du manchmal auch so zweiflerische Gedanken oder in der Rückschau mischt sich auch so eine Melancholie rein. Aber das hatte ich auch schon mit 23, das ist nichts Neues.

    Janse: Aber keine Midlifecrisis gehabt zu haben, stelle ich mir schwierig vor - wenn ich mir die Texte genauer anschaue. Also Texte wie "Das Leben ist ein Schwein" und "Wir machen noch mal eine Klassenfahrt" – das sind doch alles so Gedanken, die man hat, wenn man älter wird – noch einmal so unbeschwert in der Jugendherberge, noch einmal so unbeschwert sich besaufen ...

    Kai Wingenfelder: Ja, aber nicht ganz so tragisch. Klassenfahrt - klar ist das so, aber der Song stammt nicht von uns, sondern diesen Song hat jemand geschrieben, der wesentlich jünger ist als wir, nämlich unser Gitarrist, der Benjamin in der Kapelle. Und selbst der mit seinen Anfang 30 erinnert sich gerne daran zurück, wie er auf Klassenfahrt unterschiedlichste Alkoholika gemischt hatte, ohne die Wirkung zu kennen. Das ist so ein Ding, ich glaube – wenn man die Schule irgendwann verlassen hat und in so einen Prozess von Arbeitsleben oder Stress in der Uni einsteigt, dann erinnert man sich immer gerne an die Dinge oder Zeiten zurück, selbst wenn sie gerade erst 15 Jahre vorbei sind – wo es noch alles etwas unbeschwerter war und die ersten Klassenfahrten waren noch total unbeschwert.

    Janse: Wenn Sie heute noch mal auf Klassenfahrt gehen könnten, wen würden Sie mitnehmen wollen?

    Thorsten Wingenfelder: Wir gehen ja auf Klassenfahrt. Wir gehen ja auf Tournee. Im Grunde ist das ja nichts anderes. Es ist, sage ich immer, die Klassenfahrt für erwachsene Männer mit vollkommen unerwachsenen Spaß. Also wenn wir mit den sechs Jungs, mit unserer Crew dann loslegen und dürfen dann sechs Wochen auf Tournee gehen, wenn wir alle gesund sind, dann macht das ultra Laune.

    Janse: Dürfen gehen – wer erlaubt es?

    Thorsten Wingenfelder: Der Endverbraucher letztendlich. Der ja auch was sagen kann, wie wir wissen.

    Kai Wingenfelder: Dieses Album ist entstanden nicht nur in irgendeinem Übungskeller oder bei mir oder bei meinem Bruder zu Hause, sondern wir sind gereist. Wir waren in Österreich und haben "Die Wand" und andere Songs geschrieben. Wir waren in der Bretagne, im finstersten Winter mit vier Jungs zusammen und haben auch "Das Leben ist kein Ponyhof" geschrieben oder "Der letzte Ricard von St. Malo" das hat einen beeinflusst. Und diese Zeit, die wir da verbracht haben, war halt so schön, weil man einfach den Kopf zu macht. Man fährt irgendwo hin und dann kann man einfach sein. Und das ist eigentlich im Grunde genommen diese gleiche Leichtigkeit, die man früher teilweise auch immer hatte.

    Thorsten Wingenfelder: Du musst natürlich in Anführungsstrichen irgendwann auch Songs schreiben. Wenn du dann nur auf die Berge guckst und sagst "oh toll hier"- wer hat den nächsten Wein? Dann ist es natürlich tödlich. Im Grunde sind wir aus jeder Woche mit drei bis fünf Songs nach Hause gegangen.

    Janse: Aber wie zwingt man da dann die Muse?

    Thorsten Wingenfelder: Man zwingt gar nicht, sie kommt.

    Kai Wingenfelder: Man ist sich darüber im Klaren, dass es schön wäre, mit einem Titel nach Hause zu gehen, weil das auch Geld kostet und das liegt ja nicht auf der Straße bekanntlich. Auf der anderen Seite ist es so, dass man mit der Erfahrung - die wir mittlerweile durch unsere Vorkapelle Fury In The Slaughterhouse haben - wissen, dass man diese Sachen nicht erzwingen kann. Wir haben mit Fury auch Phasen gehabt, in denen wir krampfhaft versucht haben, ein Album aufzunehmen und dann ging gar nichts. Das Schöne ist aber, dass hier alles geht. Weil wir einfach momentan das große Glück haben mit diesen vier "Kapalken", mit denen wir in Europa unterwegs sind, einfach so eine Leichtigkeit immer dahin mitzunehmen, wo wir sind.

    Aber ansonsten ist es so, dass wir eigentlich immer schon Fragmente mitnehmen, wenn wir losfahren – falls uns nichts einfällt – dann arbeiten wir an diesen Fragmenten weiter und machen diese Songs fertig. Ich habe ein kleines Ministudio, das ist ausreichend, um damit eine Platte aufzunehmen und das kann ich mobil einpacken und dann setzt man sich dahin und arbeitet Sachen ab, die schön werden, weil man halt zu viert zusammen wesentlich mehr in so einem Flow arbeiten kann, als wenn man alleine zu Hause ist und meine Kinder brüllen.

    Janse: Sie haben das Stichwort gerade selber geliefert. Fury In The Slaughterhouse – Was ist anders als 1986? Mit Fury ging es los, es ging lange. Es war eine lange und erfolgreiche Bandgeschichte und nun ein neues Projekt und Sie sagten gerade selber, es ist anders als damals.

    Kai Wingenfelder: Wir haben den Vorteil, dass wir da sind, wo Fury am Anfang ungefähr auch war. Erstens was die Zuschauerzahlen angeht und die Plattenverkäufe. Zweitens aber auch, was den Prozess angeht, wer – was zu sagen hat in der Kapelle. Das war bei Fury am Anfang relativ klar geregelt und zwar konnte immer derjenige, der in seinem Fachgebiet am weitesten war, die Dinge auch machen. Und da wurde auch nicht reingequatscht, da waren Konstellationen, die waren klar. Gegen Ende bekamen wir es dann zu tun mit einem schleichenden Demokratisierungsprozess, der für diese Band der Tod war und für die meisten anderen Bands auch. Und jetzt haben wir einfach für uns beide beschlossen, dem möchten wir aus dem Wege gehen. Deshalb heißt die Band jetzt Wingenfelder und da sind zwei Leute, nämlich Thorsten und Kai Wingenfelder, die entscheiden, wo es lang geht. Es ist ja großartig, dass wir schon so viele Fehler gemacht haben, weil dann kennt man sie nämlich.

    Janse: Was waren die schönsten Fehler, wo Sie heute sagen, toll – dass wir es gemacht haben? War die Amerikageschichte so ein Thema?

    Kai Wingenfelder: Nein, die Amerikageschichte prinzipiell war kein Thema. Es gab da Komponenten innerhalb dieser Erfahrungen, die man durchaus anders hätte machen können. Das Problem ist immer, man hätte das alles optimieren können, das hätte zu mehr Erfolg geführt. Ob das dazu geführt hätte, dass die Band noch so lange existiert hätte, weiß ich nicht. Also ich kann jetzt nicht beurteilen, wie es ist, wenn wir sechs "Kapalken" in Amerika groß geworden wären, also noch größer als wir waren. Wir waren ja schon Hörer Nummer Eins in New York und wir haben da sechsstellig Platten verkauft. Das war alles schon toll, aber wenn es da richtig gerumst hätte, dann kann es auch durchaus passieren, dass so eine Band einfach mal total abhebt und durchdreht oder einem Drogenwahnsinn zum Opfer fällt.

    Thorsten Wingenfelder: Aber wahrscheinlich - sitzen würden wir hier nicht!

    Kai Wingenfelder: Es gibt glaube ich nichts Schöneres auf der einen Seite zu spielen und auf der anderen Seite zu lernen und träumen. Wenn das irgendwann mal aufhört, dann ist für mich diese ganze Faszination und auch das Musikgeschäft flöten. Denn wenn ich das Musikgeschäft als das betrachten würde, das es nüchtern ist, dann müsste ich damit aufhören.

    Janse: Was ist es denn - nüchtern betrachtet, das Musikgeschäft?

    Kai Wingenfelder: Es ist ein Haifischbecken, was zu 90 Prozent aus Fehlentscheidungen Großindustrieller besteht, wo einfach Musik unter dem Teppich gekehrt wird, mit dem möchte ich eigentlich theoretisch nicht so viel zu tun haben. Auf der anderen Seite ist Musik halt irgendwas, das unser Leben prägt.

    Janse: Sehen Sie das genauso? Ist das Musikgeschäft ein einziges Haifischbecken?

    Thorsten Wingenfelder: Das kann man vielleicht am besten daran festmachen, wie wir es betreiben. Wir machen alles selbst. Dadurch, dass du Chancen hast über virales Marketing über das Internet als junge Band eigentlich komplett dich selbst zu "marketingen". Wir blenden also das Alter aus und erschaffen mit unseren Mitteln das Neue neu. Das machen die jungen Leute auch so. Dieses Musikgeschäft, wie wir es kennen, ist ein Drama samt der Medienszene, aber das ist ein Thema, das kennen wir alle, das brauchen wir heute nicht auswalzen.

    Janse: Das Musikgeschäft hat sich ganz klar geändert, durch die sozialen Netzwerke, durch Aufnahmemöglichkeiten, davon hätte man wahrscheinlich früher geträumt, dass man so ein portables Studio dabei haben kann, um irgendwas aufzunehmen. Tut es Ihnen manchmal leid, dass Sie diese Chancen damals nicht gehabt haben, weil Sie noch gar nicht da waren?

    Thorsten Wingenfelder: Nein, andersrum. Mir tut es manchmal leid, dass die jungen Bands heute die Chancen nicht hatten, die wir damals hatten. Wir haben ja noch die goldenen Zeiten miterlebt.

    Kai Wingenfelder: Für einen Musiker war die Zeit früher etwas einfacher. Früher konnte man eine Band gründen und dann konnte man sich Gigs suchen, konnte spielen, hatte man die Chance, einen Plattenvertrag zu bekommen, der einem auch noch mal die Möglichkeit gegeben hatte, damit zu leben. Das ist heute extrem schwer. Wir haben zwar heute soziale Netzwerke wie Facebook und YouTube und alles Mögliche, das gab es früher nicht. Ich wage aber mal in den Ring zu schmeißen, dass es vielleicht einfacher war mit vier Fernsehstationen und einem Musiksender, als es heute ist.

    Weil damals gab es Musiksender, die haben sogar noch Videos gespielt und nicht einfach die ganze Zeit nur schlechte Serien. Und da hat es sich gelohnt, welche zu machen und man musste damals 250.000 Alben verkaufen, um eine Goldene zu bekommen. Heute ist das bei 100 und bald werden sie das wahrscheinlich senken. Das sagt eigentlich schon alles. Damals haben die Menschen einfach noch Musik gekauft. Musik hatte einen Wert, den sie heute gar nicht mehr hat. Damals war es so, da hat man mit Musik eine Gesinnung ausgedrückt teilweise. Die Wertigkeit von Musik ist leider Gottes furchtbar gesunken.

    Janse: Und woran liegt’s, haben wir die Wertigkeit der Musik auf dem Altar der sozialen Netzwerke der technischen Möglichkeiten geopfert?

    Kai Wingenfelder: Nein, die spielen zwar ihren Teil dazu glaube ich, weil sie das ermöglicht haben, aber im Endeffekt ist es eine rein kommerzielle Geschichte. Es geht eigentlich nur noch ums Geldverdienen und das ist einfach schade. Das hat sehr viel mit Medien zu tun, obwohl früher - wie Brüderchen schon sagte, ich eigentlich keine große Medienschelte ablaufen lassen möchte. Aber am Ende des Tages geht’s ja nicht mehr darum, ich mache gute Musik, sondern ich werde ein Popstar. Dieser ganze Castingquatsch von vorne bis hinten, alles, was dadurch passiert ist. Wie überhaupt Musik in den Medien präsentiert wird, gerade im TV-Bereich ist es extrem, führt im Endeffekt dazu, dass es überhaupt nichts mehr mit dem zu tun hat, was Musik eigentlich ist.

    Und es hat auch nichts mehr viel mit einer künstlerischen Tätigkeit zu tun sondern das Marketing und die Vermarktung ist wesentlich mehr in den Vordergrund getreten als das künstlerische und das, was es emotional bewegt. Und das ist halt ein ganz großes Problem und damit verliert diese Wertigkeit für mich auch.

    Janse: Was wäre zu tun, um der Jugend da vielleicht noch Türen aufstoßen zu können. Kann da nur die große Revolution uns weiterhelfen?

    Thorsten Wingenfelder: Die Jugend macht das hoffentlich selbst und das ist der große Vorteil der Jugend. Da können wir in unserem Alter eigentlich nur weisheitlich hier und da mal einen Ratschlag geben. Manchmal ist es ja auch so, dass man uns einlädt, zu den Dingen was zu sagen. Aber ich glaube nicht, dass das große Auswirkungen hat. Ein toller Song, irgendeine kleine Revolte, ich weiß nicht, was der neue Punk wird und ob es den wirklich gibt. Ich habe keine Ahnung, und wenn er kommt, ist er vielleicht sogar schon da, aber wir haben ihn noch nicht bemerkt. Aber das muss die Jugend – glaube ich – selber machen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

    Veranstaltungshinweis:
    Im Rahmen des diesjährigen Campus-Radio-Tages am 9. November 2013 gibt die Band Wingenfelder ab 20:30 Uhr ein exklusives Radiokonzert im Kammermusiksaal des Deutschlandfunks.

    Eintrittspreis: 15,50 Euro
    Karten sind erhältlich bei KölnTicket
    (Tel.: 02 21 / 28 01), allen angeschlossen Vorverkaufsstellen und an der Abendkasse.