Dienstag, 16. April 2024

Archiv


"Wir wollen hier kein Etepetete-Programm machen"

Der Geschäftsführer der "Ruhr 2010", Fritz Pleitgen, setzt auf Inhalt und starke Bilder anstelle von reiner Hochkultur. Das Ruhrgebiet habe mehr zu bieten als Industriebrachen, schlechte Luft und eine vergiftete Landschaft. Beispielsweise sei kaum bekannt, dass das Ruhrgebiet die höchste Dichte an Burgen und Schlössern habe.

Fritz Pleitgen im Gespräch mit Christoph Heinemann | 07.01.2010
    Christoph Heinemann: RUHR.2010, das Kulturhauptstadtjahr im Ruhrgebiet beginnt an diesem Wochenende. Auftakt übermorgen auf dem Gelände des Weltkulturerbes Zeche Zollverein in Essen mit einem Festakt im Beisein des Bundespräsidenten, des EU-Kommissionspräsidenten und des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten. Zur Eröffnung gehört außerdem ein zweitägiges Kulturfest, "Glückauf 2010", mit Tanz, Theater, Musik und Kunst. Die Bochumer Symphoniker werden spielen und Herbert Grönemeyer, gerade gehört, wird die neue Hymne auf das Ruhrgebiet – die heißt "Komm zur Ruhr" – ertönen lassen. Hoffentlich frieren die Musiker nicht und hoffentlich nehmen die Instrumente keinen Schaden, möchte man hoffen. Am Abend und am Sonntag ist eine Party für alle geplant samt Uraufführung eines neuen ARD-Tatort, außerdem Theater und Musik von Klassik bis Rock, und das wie gesagt alles nur der Auftakt zum Kulturjahr im Pott. – Fritz Pleitgen ist der Vorsitzende der Geschäftsführung der "Ruhr 2010", ehemaliger Intendant des Westdeutschen Rundfunks, vormals Fernsehjournalist und Auslandskorrespondent. Guten Morgen!

    Fritz Pleitgen: Guten Morgen!

    Heinemann: Herr Pleitgen, die Eröffnungsveranstaltung wird voraussichtlich eindrucksvoll, sie wird mit Sicherheit eiskalt. Benötigen die Besucher, unter ihnen immerhin der Bundespräsident und der Präsident der EU-Kommission, Mütze und Handschuhe?

    Pleitgen: Davon gehe ich aus. Ich würde jedenfalls dazu raten und auch zu einigen Lagen Unterwäsche, und dann kann man solchen Witterungsverhältnissen schon trotzen. Ich kenne das ja aus meiner Zeit als ehemaliger Korrespondent in der ehemaligen Sowjetunion. Das ist auszuhalten. Es darf und sollte nach Möglichkeit nur kein Schneesturm in die Veranstaltung hineinrauschen.

    Heinemann: Sie schrecken solche Temperaturen nicht?

    Pleitgen: Nein, keinesfalls. Das hat auch etwas mit unserem Programm zu tun. Wir wollen hier kein Etepetete-Programm machen, die Kulturhauptstadt findet bei uns nicht nur im gediegenen Theater und Konzerthaus statt, sondern sie findet auch draußen statt, wo die Probleme sind, wo die Menschen sind, wo auch die Zukunft liegt, und wir wollen mit dem ersten Bild deutlich machen, wofür wir stehen, nämlich für Wandel durch Kultur. Also erzählen wir in einem zarten Bühnenprogramm die Geschichte vom Wandel im Ruhrgebiet.

    Heinemann: Stichwort Zeche Zollverein. Welche Rolle spielt die Kohle – ich meine jetzt nicht das Geld, sondern den Energieträger – bei der "Ruhr 2010"?

    Pleitgen: Wir gehen vom Mythos Ruhr aus und der basiert ja auf Kohle und Stahl. Die Menschen, die damals in schwerer Arbeit zueinandergestanden haben, haben etwas vorgelebt, was heute noch existiert, nämlich Solidarität und Toleranz anderen gegenüber. Dieses spielt in unserem Programm eine große Rolle. Wir wollen auch Modelle entwickeln für das Miteinander von Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher Kulturen und Nationalitäten. Das Programm "Stadt der Kulturen" ist ein Kernelement unseres Gesamtprogramms.

    Heinemann: Können Sie ein Beispiel nennen für diese Modelle des miteinander Lebens?

    Pleitgen: Ja. In Meles – das heißt Mischling – gibt es viele dieser Programme, wo wir Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammenbringen. Unser Stichwort ist nicht Multikulturalität, sondern Interkulturalität, dass sich also die verschiedenen Kulturen gegenseitig etwas geben, und das passiert dann in wissenschaftlichen Programmen ebenso und vor allen Dingen wie in künstlerischen Programmen, im Tanz, in der Musik und auch im Theater.

    Heinemann: Herr Pleitgen, "Ruhr 2010", das bedeutet Veranstaltungen auf 4000 Quadratkilometern in rund 53 Städten. Wie wollen Sie gewährleisten, dass das Gesamtkunstwerk erhalten, ein roter Faden erkennbar wird, das Ganze nicht zerfasert?

    Pleitgen: Wir haben ja ein eindeutiges Leitmotiv, das heißt "Wandel durch Kultur" und das durchzieht alle großen Projekte. Es hat hier viel stattgefunden schon in den Köpfen. Beispielsweise hat es früher nie gegeben, dass die Theater so eng zusammenarbeiten, wie das jetzt in diesem Jahr der Fall sein wird und hoffentlich auch in der Zukunft. Beispielsweise interpretieren bei dem Projekt "Odyssey Europa" sechs Theater auf zeitgenössische Art und Weise die Odyssey Homers, sechs Theater, sechs Interpretationen, aber ein Programm. Oder die 20 Ruhrkunstmuseen, die ihre Programme aufeinander abstimmen, die gemeinsame Aktionen starten und auch einen gemeinsamen Katalog herausbringen wollen. Das hat es früher auch stadtübergreifend nicht gegeben und erst recht nicht bei der Präsentation des Lebenswerks von Hans Werner Henze, wo 45 Musikeinrichtungen beteiligt sind aus nahezu ebenso vielen Städten. Der rote Faden ist also eindeutig erkennbar. Worauf wir setzen, ist Inhalt und das sind starke Bilder.

    Heinemann: Das heißt, Sie hoffen auch darauf, dass sie die Kulturstädte, die sich sonst eher voneinander abgrenzen, zusammenbringen können?

    Pleitgen: Ja, das haben wir eindeutig festgestellt. Das ist eine dieser angenehmen Überraschungen, die ich hier jetzt erlebt habe. Es hat wenig Reibereien gegeben untereinander, sondern man war immer bestrebt, zusammenzuarbeiten, und das soll auch die Grundlage für die Zukunft bilden. Also jeder soll seine eigene Identität wahren, aber die Bereitschaft zur Zusammenarbeit soll wie selbstverständlich da sein. Im internationalen Wettbewerb kann man eigentlich nur bestehen, wenn man gemeinsam in großen Projekten auftritt, aber man sollte darüber nicht vergessen, seine eigene Identität zu pflegen. Das ist dann das Salz in der Suppe.

    Heinemann: Stichwort "internationaler Wettbewerb". Richtet sich die "Ruhr 2010" eher an die Bewohner des Ruhrgebietes, oder haben Sie für Kulturtouristen geplant?

    Pleitgen: Wir sind ja kein Festival, was so auf einen Monat begrenzt ist. Unsere Aufgabe ist weiter auslanden. Wir sind schon eine sehr wirtschaftliche, vor allen Dingen aber auch eine politische, kulturpolitische Angelegenheit. Wir richten uns an die Bürgerinnen und Bürger des Ruhrgebiets. Wir wollen auch ihnen vermitteln, dass das Ruhrgebiet eine reiche Kulturregion ist, die kaum ihresgleichen in Europa findet, und wir wollen natürlich darauf aufmerksam machen, was das Ruhrgebiet alles zu bieten hat, denn es leidet unter einer grotesken Unterschätzung. Immer noch hat man das Bild der 60er-Jahre vor Augen, also niedergegangene Industrieregionen, schlechte Luft und eine vergiftete Landschaft. Das Ruhrgebiet hat sehr, sehr viel mehr zu bieten, auch sogar idyllische Ecken. Es ist kaum bekannt, dass das Ruhrgebiet die höchste Dichte an Burgen und Schlössern hat, die wir im Übrigen auch in unserem Kulturprogramm einsetzen. Das wollen wir deutlich machen. Aber wir wollen auch nicht unter den Teppich kehren, dass es bei uns große infrastrukturelle Probleme gibt, soziale Probleme, wirtschaftliche Probleme gibt. Vor allen Dingen wollen wir die jungen Menschen auch erreichen, die es nicht so leicht haben, Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen, die in Stadtteilen mit hoher Arbeitslosigkeit und auch zum Teil erschreckender Kriminalität leben. Auch diese Menschen wollen wir erreichen.

    Heinemann: Mit welchem Angebot?

    Pleitgen: Wir haben dort Theaterangebote, wir haben aus dem Programm "Stadt der Kulturen" Angebote, Street-Dance, Hip-Hop und dergleichen mehr, um die Menschen erst mal anzulocken, sich mit Kultur auseinanderzusetzen und dann ihre Fähigkeiten auch auszuspielen.

    Heinemann: Herr Pleitgen, was bleibt, wenn alles vorbei ist, außer einigen Immobilien?

    Pleitgen: Ich habe ja vorhin schon erwähnt, dass dort große Veränderungen im Verhalten eingetreten sind, dass man sich nicht nur oder überhaupt oder kaum noch in herzhafter Rivalität gegenübersteht oder gegeneinandersteht ...

    Heinemann: Die Städte untereinander meinen Sie?

    Pleitgen: Ja, die Städte untereinander, sondern dass man vieles gemeinsam macht. Von daher wird da einiges in Gang gesetzt werden. Außerdem: Die erwähnten Immobilien sind ja mit Leben gefüllt. Die werden Nachfolgeinvestitionen nach sich ziehen. Vor allen Dingen im Bereich der Kreativwirtschaft wird sich eine Menge tun. Das ist jedenfalls unsere Absicht. Dafür haben wir die Vorleistungen dann erbracht und alles Weitere hängt natürlich vom Willen derjenigen ab, die die Verantwortung dafür tragen.

    Heinemann: Herr Pleitgen, Sie sind Landeskind, in Duisburg geboren. Worauf freuen Sie sich vor allem?

    Pleitgen: Erst einmal freue ich mich auf die Eröffnung. Ich zittere ihr, aber innerlich nur, auch ein wenig entgegen und hoffe, dass die nun nicht durch einen Blizzard auseinandergeblasen wird. Aber die ist schon von der Vorbereitung etwas, worauf man sich sehr freuen kann, zumal sich dann ein Kulturfest anschließt. Aber natürlich freue ich mich auch auf die "Odyssey Europa" oder die wunderbare Ausstellung "Das schönste Museum der Welt" im neuen Folkwang-Museum ab März, oder auch auf den "Day of Song", wo alle Menschen zum Singen gebracht werden, oder auch auf die "Mahlers VIII." mit nahezu 2000 Mitwirkenden in der großen Kraftzentrale in Duisburg, oder "Das große Ding auf der Autobahn", wo wir einen langen Tisch aufstellen über 60 Kilometer und alle Bürgerinnen und Bürger des Ruhrgebiets dorthin einladen, damit sie ihre Vorstellung von Kunst und Kultur selbst ausspielen können, oder so kleine zarte Dinge wie das Pantomimentheater aus Nischni Nowgorod, wo taubstumme Kinder ihre Vorstellung von Kunst und Kultur darstellen und sich vermitteln. Das ist es ja, dass wir dazu beitragen, dass die Menschen mehr Verständnis füreinander zeigen, und hier wird das auf eine besonders eindrucksvolle Weise gezeigt, nämlich man beherrscht die Sprache nicht, man hat das Handicap, dass man nicht hören und sprechen kann, und trotzdem macht man sich verständlich, weil man darauf bauen muss, dass die anderen darauf eingehen. So stelle ich mir ein gutes Zusammenleben vor.

    Heinemann: Fritz Pleitgen, der Vorsitzende der Geschäftsführung der "Ruhr 2010". Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Pleitgen: Auf Wiederhören!


    Links auf dradio.de:
    Ruhrgebiet - die Kulturhauptstadt Europas

    Betriebsausflug nach Bochum