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"Wir wollen keine Steuersenkung auf Pump"

Das Steuerkonzept der Grünen entlaste diejenigen, die weniger als 60.000 Euro im Jahr verdienen, erklärt der Grünen-Spitzenkandidat für die Bundestagswahl 2013, Jürgen Trittin. Das sei die Mehrheit der Bevölkerung. Das Konzept müsse solide gegenfinanziert werden, betont er.

Jürgen Trittin im Gespräch mit Peter Kapern | 29.04.2013
    Peter Kapern: Die Realos haben eingelenkt – kurz vor dem Parteitag hatten sie noch Front gemacht gegen überzogene Pläne für Steuererhöhungen, auf dem Parteitag selbst stimmten sie dann zu, auch der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann:

    Kretschmann: "Wir täuschen nicht einfach irgendeine Geschlossenheit vor, sondern wir streiten und stellen sie dann her!"

    Kapern: Die Steuererhöhungspläne der Grünen – wir sprechen gleich darüber mit dem Vorsitzenden der grünen Bundestagsfraktion, Jürgen Trittin.

    Kapern: Am Wochenende haben die Grünen also ihr Wahlprogramm verabschiedet, in großer Einmütigkeit. Winfried Kretschmann, der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, hatte vor dem Parteitag noch Front gemacht gegen die steuerpolitischen Vorhaben, weil er eine zu starke Belastung der Wirtschaft fürchtete. Das brachte ihm den Vorwurf des parteischädigenden Verhaltens ein. Der Rüffel wirkte, der Parteitag folgte den Steuererhöhungsplänen der Parteispitze. Und das könnte durchaus teuer werden für viele Wähler, wie Matthias Zahn berichtet.

    Beitrag in Informationen am Morgen, Deutschlandfunk (MP3-Audio) Beitrag von Matthias Zahn

    Jürgen Trittin: So weit der kurze Beitrag von Matthias Zahn. Und bei uns am Telefon ist jetzt der grüne Spitzenkandidat Jürgen Trittin. Guten Morgen!

    Trittin: Guten Morgen!

    Kapern: Herr Trittin, wenn es klappt mit dem Regierungswechsel, dann haben Sie ja als Finanzminister die Chance, als größter Steuererhöher in die Geschichte des Landes einzugehen. Ist das reizvoll?

    Trittin: Erst mal gehe ich in diese Auseinandersetzung mit der klaren Ansage, dass wir bei der Einkommenssteuer 90 Prozent der deutschen Einkommenszahler entlasten werden. Man muss mal aufhören, alles zu glauben, wo Leute aus Gehaltsgruppen berichten und deren Belastung als die Belastung der normalen Menschen darstellen, die mit der Normalität der Menschen in diesem Lande nichts zu tun haben. Wir entlasten alle Bürgerinnen und Bürger, die weniger als 60.000 Euro im Jahr verdienen. Ich will darauf hinweisen, dass die zu versteuernden Haushaltseinkommen, die Hälfte von denen liegt bei knapp 30.000. Das heißt, wir sind in der Tat angetreten und wir treten an, einen Großteil der Bevölkerung bei Steuern, und es kommt für diejenigen noch hinzu, wichtiger, bei den Sozialversicherungsbeiträgen, bei den Beiträgen für die Krankenkassen, das belastet die viel mehr als die Steuern, zu entlasten. Das ist eine sehr starke Entlastungsbotschaft. Allerdings sagen wir auch hier, wir können so etwas nicht tun, ohne neue Schulden zu machen. Wir wollen keine Steuersenkung auf Pump – dafür stehen andere – wir müssen dieses solide gegenfinanzieren. Das ist der Kern des Konzeptes, aber ich lasse mir nicht einreden, wenn ich 90 Prozent der Bevölkerung entlaste, dass die Grünen eine Belastungspartei seien. Sie sind es nicht. Sie entlasten die große Mehrheit der Bevölkerung.

    Kapern: Zu den übrigen zehn Prozent, die Sie nicht entlasten, da gehören, das haben wir gerade in dem Beispiel gehört, schon Ehepaare mit zwei Kindern und einem Bruttoeinkommen von 5151 Euro. Sind das Superreiche, die belastet werden können und müssen?

    Trittin: Ich habe überhaupt nicht von Superreichen gesprochen. Auch diese werden trotz des Ehegattensplittings weiterhin einen Splittingvorteil haben. Wir haben das Splitting ja nicht abgeschafft, sondern wir …

    Kapern: Aber sie müssen mehr zahlen als jetzt …

    Trittin: … Aufwuchs gedeckelt. Und wir haben an dieser Stelle gesagt, dass wir diese Einnahmen nehmen müssen, um – was für Eltern von zentraler Bedeutung ist, endlich dahinzukommen, ordentliche Ganztagsschulen zu haben, ordentliche Kindergartenplätze. All dieses ist das, was zurzeit das größte Hindernis ist für Menschen, insbesondere für Frauen, die erwerbstätig sein wollen, aber es nicht können. Und dann sind wir genau bei dem Kern des Problems, dass in dem Moment, wo diese Menschen wieder erwerbstätig sein können, entfällt auch die ganze Frage über die Frage, Splitting und Ähnlichem. Splitting entsteht ja nur dort, wo die eine daran gehindert wird, ihrem Wunsch nach Berufstätigkeit nachzugehen, während der andere viel Geld verdient, nur dann entsteht ein Splittingvorteil.

    Kapern: Sie sehen mir das nach, Herr Trittin, wenn ich jetzt noch mal nachfrage: ein Familienvater mit Ehefrau …

    Trittin: Dafür machen wir ja dieses Interview.

    Kapern: Genau. Ein Familienvater mit Ehefrau und zwei Kindern, der 5151 Euro brutto verdient, hat der wirklich so viel in der Tasche, dass Sie ihn stärker belasten können?

    Trittin: Noch mal: Wir entlasten alle unter 60.000, das sind 90 Prozent …

    Kapern: Aber wir haben ja gerade diese Beispielrechnung gehört!

    Trittin: Bleiben wir doch mal dabei, bei den Fakten. 90 Prozent der Bevölkerung verdient dieses nicht. Die meisten verdienen nicht einmal die Hälfte davon. Das sind diejenigen, die von den Grünen profitieren. Und dann gibt es Fälle, wo aufgrund einer ungleichen Verteilung der Einkommen – weil einer arbeitet und der andere nicht, die eine aber in der Regel aber gerne arbeiten möchte, das aber nicht kann …

    Kapern: Aber vielleicht auch nicht. Aber vielleicht möchte sie auch nicht arbeiten, Herr Trittin.

    Trittin: Das ist ihre Entscheidung.

    Kapern: Eben.

    Trittin: Und deswegen sage ich: Wer dann daran gehindert wird, der bekommt durch uns endlich die Möglichkeit, dieses zu tun, was im Ergebnis …

    Kapern: Aber vielleicht wird der auch gezwungen zu arbeiten, derjenige, der es gar nicht möchte.

    Trittin: Was im Ergebnis dazu führt, dass dieses Ehepaar sehr viel mehr netto in der Tasche hat als zuvor. Damit kommen wir übrigens einem Wunsch nach, den viele, viele Menschen immer wieder äußern. Wir wollen nicht zu lange aus dem Arbeitsleben ausgeschlossen werden, und das, was sie davon ausschließt, sind mangelnde Investitionen in Infrastruktur, ist die Unmöglichkeit, sein Kind, was in die Schule geht, tagsüber gut betreut zu wissen. All dieses führt dazu, dass Menschen zu Hause bleiben müssen, in der Regel Frauen, und es führt dazu, dass diese Frauen am Ende ihres Lebens abhängig sind von der Altersversorgung ihres Mannes oder eben in die Altersarmut gehen. Das sind Dinge, die man nicht auf Dauer akzeptieren kann, das ist der Grund, warum wir sagen, steuerrechtlich muss man das Zusammenleben mit Kindern, aber nicht den Status des Verheiratetseins begünstigen, und dem tragen wir umfassend Rechnung.

    Kapern: Also ein grüner Eingriff in einen selbst gewählten Lebensentwurf. Auch das könnte es ja sein.

    Trittin: Nein, das ist kein Eingriff in einen selbst gewählten Lebensentwurf, das ist die Ermöglichung der Wahlfreiheit.

    Kapern: Oder der Zwang zur Wahlfreiheit.

    Trittin: Nein, nein, das hat überhaupt nichts mit Zwang zu tun. Steuern sind nicht dazu da, die einen oder anderen Lebensformen zu bevorzugen. Sie müssen Wahlfreiheit ermöglichen, und der Wunsch der meisten Menschen ist, neben dem Leben mit Kindern, gemeinsam Kinder aufzuziehen, auch berufstätig zu sein. Die meisten wollen nicht auf eine berufliche Tätigkeit, Teilhabe am Berufsleben verzichten und dafür sich nur um Kinder kümmern. Das ermöglicht das grüne Steuermodell.

    Kapern: Herr Trittin, die grüne Wahlklientel gehört ja allen Untersuchungen zufolge nicht gerade zum Prekariat. Was macht sie eigentlich so sicher, dass Ihre Anhängerschaft zum Beispiel auf dem Prenzlauer Berg nicht rechnen kann?

    Trittin: Die können hervorragend rechnen und die wissen, dass die Zukunft dieser Gesellschaft von einer gut funktionierenden Infrastruktur, von vernünftigen Bedingungen für das Leben mit Kindern, gerade übrigens auf dem Prenzlauer Berg, abhängig ist. Und dass es in einer Gesellschaft dauerhaft nur dann funktioniert, wenn es in ihr gerechter zugeht. Und deswegen ist der Umstand, dass wir Millionen entlasten und dieses tatsächlich von Menschen, die mehr haben, ein Stück gegenfinanzieren, das halten die für richtig.

    Kapern: Bei Tagesschau.de, Herr Trittin, da läuft eine Onlinebefragung unter den Usern, daran haben bis gestern Abend mehr als 17.000 Menschen teilgenommen, und davon sind 52 Prozent der Meinung, dass die Grünen mit ihrer Steuerpolitik ihre eigene Klientel vergraulen.

    Trittin: Das wird sich bei Wahlen zeigen. Wir vertreten das schon seit einer geraumen Weile und haben in letzter Zeit gut zugelegt. Solche Klickereien sind ja amüsant, aber sie gehören für mich nicht in die Sphäre seriöser Politik, sondern von Spielen. Genauso, wie große Fernsehsender oder auch kleine Fernsehsender regelmäßig Umfragen über alles Mögliche machen, wo man in der Regel schon bei der Fragestellung das Ergebnis vorhersagen kann.

    Kapern: Nun gibt es ja Beispiele in der Geschichte für das Scheitern mit ambitionierten Reformprogrammen, Beispiel Angela Merkel 2005, die wollte nun wirklich umfassend die deutsche Wirtschaft reformieren und hat damit eine Bauchlandung erlitten. Ist das keine Warnung für die Grünen?

    Trittin: Das ist eigentlich nur der Hinweis darauf, dass es in dieser Gesellschaft nicht ganz einfach ist, gegen sehr mächtige Interessenlobbys, nämlich die Lobbys, die von den bisherigen Zuständen profitieren, Veränderungen durchzusetzen. Es zeigt sich allerdings, dass die Grünen immer diejenigen waren, die den Mut hatten, diese Veränderungen anzugehen, und vor einigen Jahren galten wir als die letzten Deppen, die der Auffassung wären, dass man Strom auch ohne Atom erzeugen könnte, heute ist das ein Allparteienkonsens. Insofern ist das keine neue Erfahrung für uns.

    Kapern: Die Steuereinnahmen des Staates sind so hoch wie nie zuvor, über 600 Milliarden dieses Jahr. Können die Grünen nicht doch mal sparen?

    Trittin: Ja, wir sparen. Wir schlagen zum Beispiel vor, das Ausmaß der Bundeswasserstraßenverwaltung einzudämmen, wir fragen uns ein Betreuungsgeld, das kostet zwei Milliarden. Wir hören auch nicht auf damit, zu sparen. Wir wollen schädliche Subventionen abbauen. Wir sehen es nicht ein, dass in Deutschland für jeden größeren Geländewagen, der angeschafft wird, 15.000 Euro aus Steuermitteln hinzugegeben werden. Wir sind der Auffassung, dass ökologisch schädliche Subventionen abgebaut werden müssen. Wir sind dagegen, dass zum Beispiel Unternehmenssteuern benachteiligt werden gegenüber Gewinnen am Kapitalmarkt. Darauf kann man sich die Abgeltungssteuer sparen. Wir sind dafür, den Dschungel jener Mehrwertsteuersubventionen zu lichten, die die FDP angerichtet hat. Allein all dieses macht ein Vielfaches von dem aus, was die moderaten Einnahmeverbesserungen der Grünen im Einkommenssteuerrecht erbringen.

    Kapern: Und trotzdem findet sich in der "Frankfurter Rundschau" heute der Satz: "Wenn es für die Grünen schlecht läuft, erweist sich ihr Programm als selbstmörderisch."

    Trittin: Ach, das finde ich immer sehr interessant, in diesem Lande werden ganz oft Dinge kritisiert in dem Moment, wo die Dinge geändert werden sollen, sagen alle, es bleibt vielleicht doch besser, wie es war. Das Problem bleibt, wir haben in Deutschland einen Investitionsstau allein in den deutschen Kommunen für über 100 Milliarden Euro. Die deutschen Kommunen machen trotz der großen Steuereinnahmen, die man hat, in diesem Jahr 50 Milliarden Defizit zur Erreichung und Erbringung von gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen. Wir sind in einer Situation, wo wir mittlerweile Schlusslicht bei den Investitionen in Infrastruktur bei den Industrieländern sind. Wir haben einen massiven Nachholbedarf im Bereich der Investitionen in Forschung und Bildung. Jeder merkt das doch jeden Tag, unsere Schulen bis hin zu den Schulklos verfallen. Und in dieser Situation tut man so, als könnte man so weitermachen wie bisher. Immer mehr Schulden aufnehmen, das tun wir nämlich, und nicht Reformen durch das zu finanzieren, was notwendig ist, nämlich durch einen Mix an Ausgabenkürzungen, Subventionsstreichungen und moderaten Einnahmeverbesserungen, das ist unvernünftig.

    Kapern: Der grüne Spitzenkandidat Jürgen Trittin heute Morgen im Deutschlandfunk. Herr Trittin, danke für das Gespräch. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag!

    Trittin: Danke, Herr Kapern!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.