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Wirecard-Insolvenz
Wie ein Skandal Politik und Finanzwesen entlarvt

Die Insolvenz von Wirecard zählt zu den größten Pleiten der letzten zehn Jahre. Spektakulär sind auch die Begleitumstände: Der bayerische Zahlungsabwickler soll Bilanzen gefälscht haben. Wie es so weit kommen konnte, erklärt der Handelsblatt-Journalist Felix Holtermann in seinem Buch "Geniale Betrüger".

Von Katja Scherer | 12.04.2021
Felix Holtermanns Buch über Wirecard. Im Hintergrund ist die Zentrale des Wirecard Konzerns in Aschheim bei München zu sehen. Die Logos des insolventen Unternehmens wurden inzwischen abmontiert.
Felix Holtermann zeichnet nach, wie der Wirecard-Skandal passieren konnte - und macht zehn Vorschläge, wie so etwas künftig zu verhindern wäre (Buchcover: Westend Verlag, Hintergrund: IMAGO / Alexander Pohl)
Augenscheinlich bestochene Bankbeamte auf den Philippinen, verschollene Milliarden und ein Ex-Vorstand mit mutmaßlichen Geheimdienstkontakten: Dass der Fall Wirecard mit jedem Wirtschaftsroman mithalten kann, ist bekannt. Für den Journalisten und Buchautor Felix Holtermann ist aber klar: Der rasante Absturz der Wirecard AG ist mehr als ein Verbrechen einer einzelnen kriminellen Bande. Er ist auch das Ergebnis grober Systemfehler:
"Wirecard ist kein Kriminalfall aus dem Aschheimer Gewerbegebiet, wo zwischen Bahngleisen und Autokino eine Gangsterbande ihr Unwesen trieb. Der größte Betrugsfall der Nachkriegszeit steht für mehr: Wirecards Absturz legt pars pro toto die Abgründe unseres Wirtschaftssystems offen, rüttelt an den Grundfesten des Finanzkapitalismus und entlarvt vermeintliche deutsche Gewissheiten als Selbstbetrug."
Der Wirtschaftsjournalist Felix Holtermann begleitet den Fall Wirecard für die Zeitung "Handelsblatt" seit mehreren Jahren. In seinem Buch "Geniale Betrüger" geht er der Frage nach, wie es zu dem Milliardenbetrug kommen konnte – und warum dieser so lange unentdeckt blieb. Im ersten Teil des Buches geht es um den Aufstieg des Zahlungsdienstleisters zum vermeintlichen Vorzeigekonzern.

Image-Berater hielten den Schein aufrecht

Holtermann macht deutlich, wie sehr die Wirecard AG von Anfang an in dubiose Geschäfte verstrickt gewesen sei – sich aber immer wieder als Opfer übler Nachrede herausredete:
"Wie interne E-Mails und Honoraraufstellungen nach dem Untergang belegten, arbeitete eine ganze Armada an Beratern und Kanzleien im Auftrag des Konzerns daran, Kritiker anzuschwärzen und Wirecard in ein besseres Licht zu stellen."
Neu ist das nicht. Die Journalisten Melanie Bergermann und Volker ter Haseborg haben die gleichen Vorwürfe bereits im vergangenen Jahr in ihrem Buch "Die Wirecard-Story" aufgeschrieben. Was Felix Holtermann aber gut gelingt, ist, Ordnung in das verworrene Geschäftsmodell des Konzerns zu bringen. Demnach bestand dessen Geschäft aus drei Säulen: dem legalen Teil mit namhaften Kunden wie Aldi und Ikea, dem illegalen Teil mit verbotenen Glücksspiel- und betrügerischen Onlineportalen. Und einem großen erfundenen Geschäftsbereich:
"Wie ernst die Situation tatsächlich war, zeigt Ende August 2020 der Insolvenzbericht […]. Demnach war für 2018, dem letzten von EY als einwandfrei testierten Jahr, knapp die Hälfte des ausgewiesenen Konzernumsatzes von rund zwei Milliarden Euro auf das zu großen Teilen gefälschte Drittpartnergeschäft zurückzuführen."

Konkrete Recherchen zum Betrug

Für Holtermann ist klar: Der Vorstand der Wirecard AG hat nicht nur unzählige Kleinanleger um ihre Ersparnisse betrogen. Er habe zudem mit den illegalen Glücksspielgeschäften in großem Umfang Geldwäsche betrieben. Gleichzeitig hätten sich führende Top-Manager des Konzerns – darunter vor allem der ehemalige Asien-Vorstand Jan Marsalek – gezielt auf Kosten des Unternehmens bereichert:
"Dabei kommen hauptsächlich drei Methoden zum Einsatz. Nummer eins sind überteuerte Firmenkäufe […]. Nummer zwei sind Kredite an die Drittpartner in Asien, die nie zurückgezahlt werden […]. Nummer drei sind Zahlungen über mehr als 125 Millionen Euro an Firmen, die angeblich Beratung und andere Dienste für Wirecard erbringen, für die sich oft jedoch nicht mal ein Vertrag findet."
Vor allem aber legt Holtermann den Fokus auf die Frage, warum der Betrug Banken, Wirtschaftsprüfern, Aufsichtsräten, Medien und Politik so lange nicht auffiel. Er beschreibt, wie sehr sich Wirecard um gute Verbindungen bis in die Bundesregierung hinein bemühte. Er zeigt auf, wie der Wirtschaftsprüfer EY ein um‘s andere Mal die Bilanz des Konzerns absegnete – obwohl die Aufseher sogar selbst Warnungen von Whistleblowern bekamen. Und er kritisiert, dass die Bundesfinanzaufsicht Bafin Jahr um Jahr weitgehend untätig zuschaute – während einige Bafin-Angestellte privat mit Wirecard-Papieren zockten:
"Dass der Konzern knapp 20 Jahre auf der Erfolgsspur bleibt, ist kein Zufall. Es ist das Ergebnis eines multiplen Versagens, wie die vergangenen Kapitel gezeigt haben. Wirecards Milliardenbetrug hatte System. Und das System Wirecard wäre ohne die Unterstützung des Systems Deutschland nicht möglich geworden."

Finanzkontrolle muss gestärkt werden

Dass der Autor sich schon lange mit dem Unternehmen beschäftigt, ist dem Buch anzumerken. Er nennt konkrete Beispiele für den Betrug, erklärt detailliert die komplexen Zusammenhänge und zeigt schonungslos Fehler der Kontrollorgane auf. Das kombiniert er mit persönlichen Anekdoten. Den geheimnisvollen und flüchtigen Ex-Asien-Vorstand, Jan Marsalek, traf er noch im Frühjahr 2020 persönlich:
"Marsalek wirkt undurchsichtig, nicht authentisch. Ihn als unsympathisch zu beschreiben, als unangenehm, wäre jedoch falsch. […] Schlussendlich bleibt Marsalek trotz eines viele Stunden dauernden Austausches im Bayerischen Hof rätselhaft."
Das Buch endet mit einem klaren Appell: Damit sich ein Fall wie Wirecard nicht wiederholt, müsse die Bundesregierung die Finanzkontrolle stärken, fordert Holtermann. Dafür schlägt er zehn Maßnahmen vor. Unter anderem sollten kritische Investoren und Whistleblower besser geschützt werden. Wirtschaftsprüfung und Unternehmensberatung sollten klar getrennt werden, und die Geldwäschebekämpfung in Deutschland solle einer spezialisierten Schwerpunktstaatsanwaltschaft übertragen werden, schreibt er:
"Die Liste der vorgeschlagenen Änderungen mag lang erscheinen. Die Maßnahmen sind jedoch keineswegs utopischer Natur, sondern durchaus gangbar. Viele wurden in anderen Ländern bereits erprobt und sind innerhalb eines überschaubaren Zeitraums umzusetzen."
Felix Holtermanns These, dass es sich beim Fall Wirecard auch um systemisches Versagen handelt, ist nicht neu – aber sie ist gut aufgeschrieben und sachkundig belegt. Dass seine Vorschläge alle umgesetzt werden, darf bezweifelt werden. Die Reaktion der Regierung auf den Skandal wirkt bisher zahnlos – auch wenn ihr der eingesetzte Untersuchungsausschuss Druck macht. Wünschenswert wären radikale Maßnahmen allemal.
Felix Holtermann: "Geniale Betrüger. Wie Wirecard Politik und Finanzsystem bloßstellt"
Westend Verlag, Frankfurt am Main. 320 Seiten, 22 Euro.