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Wladimir Kaminer: Militärmusik

Wladimir Kaminer hat mit seinem Erstlingswerk "Russendisko" einen Überraschungserfolg auf dem deutschen Buchmarkt landen konnte. "Militärmusik" ist der Titel seines zweiten Buches, und die unter dieser etwas irreführenden Überschrift vereinten Erzählungen sind Geschichten aus dem sowjetischen Alltag der 70er und 80er Jahre - Erinnerungen an den surreal existierenden Sozialismus der Breschnew-Ära.

Jürgen Balitzki |
    Der Moskauer Wladimir Kaminer lebt seit 1990 in Berlin. Vermutlich von den ziemlich haarsträubenden Erlebnissen angestachelt, die das Umsiedeln heutzutage mit sich bringt, besann sich der studierte Dramaturg auf sein Fabuliertalent, fand schnell Kontakt zur Berliner Medienwelt und ist seit Veröffentlichung der "Russendisko", wo er Geschichten über die Berliner Nachwendezeit bündelt, ein gefragter Mann in diversen Talkshows. Nur ein Jahr nach dem ersten ist sein zweites Buch erschienen. Es heißt "Militärmusik" und soll angeblich ein Roman sein. Zumindest prangt diese Genrebezeichnung unter dem Titel seines neuen Buches.

    Der Roman, das hat der Verlag auch dazu geschrieben. Für mich ist das eine sehr große Geschichte. Ich schreibe eigentlich nur Geschichten. Sollen sie nun Romane heißen oder Erzählungen oder Sagen, Essays, das ist eigentlich nicht besonders wichtig. Für mich ist Geschichten-Erzählen der Ursprung der Literatur.

    Unbeeindruckt von der Literaturgeschichte, die es natürlich besser weiß, könnte man sagen, Kaminer habe das zweite Buch vor dem ersten geschrieben. Zur Erinnerung: "Russendisko" erzählt aberwitzige Geschichten über das Berlin der Nachwende-Ära. "Militärmusik" behandelt die Zeit davor, schwadroniert über die Spanne vom 50. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, als Wladimir geboren wurde, bis zur Reise nach Deutschland. Man könnte nun leichtfertig folgern, dem Schriftsteller Kaminer sei das Nachdenken über Deutschland leichter gefallen als über die Sowjetunion.

    Diese Geschichten habe ich immer schon in mir getragen. Ich war mir nur nie sicher, ob das auch die Anderen interessieren wird. Das ist ein heikles Thema: Sowjetunion - 80er Jahre. Mein Gott, aber, nachdem ich "Russendisko" geschrieben habe, wurde mir klar, was mein Thema eigentlich ist. Diese Welt, die ich erlebt habe als Zeuge, als Mitmacher und die nicht mehr existiert, zu Papier zu bringen. Das ist eine große Ehre, denke ich, für einen Schreibenden, über Dinge zu schreiben, die er gut kannte, die aber nicht mehr zu sehen sind.

    Nähmen Literaturtheoretiker Kaminers neues Buch tatsächlich mit der Genrebezeichnung Roman erst, würden sie wahrscheinlich über ihn herfallen. Wenn überhaupt, wäre Schelmenroman eher am Platze, denn Kaminer bleibt sich treu und erzählt witzig pointiert ungeheuer viele, komplikationslos miteinander verbundene Episoden aus Kindheit, Armeezeit, Studium, Theaterarbeit und höchst seltsamen Reisen, zum Beispiel über einem Rindertransport von Lettland nach Usbekistan, den er zu bewachen hatte. Er tut dies generell respektlos, selbstironisch. Ein Beispiel:

    1982 fand in meinem Land ein Machtwechsel statt. Der neue Generalsekretär erklärte den Kampf gegen das Schmarotzertum zum Programm und brachte damit in mein ohnehin nicht leichtes Leben und in das Leben meiner Freunde noch mehr Schwierigkeiten. Wir waren jung und steckten voller Ideen, richtig zu arbeiten hatte niemand Lust. Aufgewachsen in einer sozialistischen Gesellschaft, wo jeder, der keine politischen Ansprüche hatte und das System nicht bekämpfen wollte, auch ohne Arbeit immer auf seine Kosten gekommen war, konnten wir einer achtstündigen täglichen Maloche nichts abgewinnen.

    Und eine andere Episode bei der Armee - Kaminer überwachte den Luftraum über Moskau gerade zu der Zeit, als Matthias Rust auf dem Roten Platz landete - diente er mit einem vermeintlichen Tadshiken, der kein Wort Russisch sprach. Es stellte sich heraus, dass dieser Mann aus Afghanistan stammte und von einem reichen Tadshiken für zehn Lämmer ausgeliehen worden war, um dem eigenen Sohn die Qual zweier opfervoller Jahre Friedenswacht zu ersparen. Aus diesem Schrot und Korn sind Kaminers Rückblicke. Indes: Was an Kaminers Geschichten wahr oder frei erfunden ist, spielt auch in diesem Buch keine Rolle. Möglicherweise aber regt sich Widerspruch bei seinen Landsleuten, die ihrer alten Heimat beileibe nicht so viel Spaß abgewinnen können.

    Das war aber wirklich ein lustiges Land. Obwohl, so ist wahrscheinlich das menschliche Gedächtnis aufgebaut, dass man alles Schlechte, alles Negative vergisst und alles Gute dann für sich behält. Als meine Mutter "Militärmusik" gelesen hatte sagte sie auch, also Wladimir, als du damals von der Armee zurück warst, hast du gar nicht so freudig erzählt. Aber man vergisst eben alles Schlechte und alles Gute wird dann zum Kult. Das ist nicht ausgewogen und kritisch, das ist ganz subjektiv nur eine Geschichte. Ich habe mir die Freiheit genommen eben so darüber zu schreiben, wie ich das in meiner Erinnerung behalten habe. Das ist die Freiheit der Literatur. Ich hatte nie den Anspruch die ganze Wahrheit, die ganze damalige Realität aufzuschreiben. Die ganze Wahrheit - das kriegt sowieso niemand hin.

    Über die selbe Geschichte könne man nicht zweimal weinen, sagt Kaminer. Als Erläuterung dieser alten Spruchweisheit erzählt er von seinem Onkel, der für zwanzig Jahre nach Kasachstan verbannt worden war. Unter Militärbewachung musste er als Ingenieur arbeiten und in einem Erdloch hausen. Später aber habe er gesagt, es sei eine schöne Zeit gewesen. Klar war das eine schöne Zeit, meint der Autor, er hatte ja keine andere. Am Ende des Buches sitzt der Ich-Erzähler im Zug Richtung Westen. Er zitiert Solschenizyn mit den Worten: "Der alte Gefangene, der schon seit über zwanzig Jahren hinter Gittern verbracht hatte, klärte die neue Generation der Häftlinge über drei Dinge auf, die man im Lager nie tun dürfte: Du darfst niemals irgendwelche Erwartungen, Ängste oder Fragen haben. Nur dann überlebst du, sagte er. Kaminer hat im letzten Absatz kein Problem damit, diese drei Regeln reziprok auf seine ungewisse Zukunft zu projizieren.

    Ich schaute aus dem Fester, die weiß-russischen Wälder erstreckten sich bis dicht an die Eisenbahnlinie. Je tiefer der Wald, desto dicker die Partisanen, sagte man bei uns in der Armee. Zum ersten Mal stand ich kurz davor die Grenzen meiner Heimat zu überschreiten. Der Weisheit des alten Gefangenen konnte ich beim besten Willen nicht folgen. Ich hatte große Erwartungen, viele Fragen und auch ein wenig Angst. Ich fühlte mich dabei aber großartig; Ich schaute nach unten. Die internationale Konferenz in unserem Abteil zum Thema "Frau und verschiedene Kontinente" verwandelte sich langsam in ein Besäufnis. Wir näherten uns Brest-Litowsk.

    Wladimir Kaminer ist omnipräsent. Er schreibt Artikel für die taz, ist im Rundfunk zu hören, im Fernsehen zu sehen, er hat eine Anthologie mit jungen Berliner Autoren herausgegeben, betreibt nebenbei noch die Russen-Disco in einer sorgfältig restaurierten Ost-Kneipe von Berlin-Mitte und arbeitet für eine russischsprachige Berliner Zeitung. Und er hat schon wieder etwas Neues vor

    Ich arbeite jetzt an einem neuen Roman. Dort geht es um verschiedene Reisen, die ich immer schon machen wollte, sehr langfristig plante, die aber nie zustande kamen - über das Nichtreisen eher ein Roman. Mehr möchte ich dazu nicht erzählen, weil dieses Werk noch nicht fertig ist und das auch viel zu früh ist.

    Wladimir Kaminer: Militärmusik. Das Buch ist 240 Seiten stark und im Goldmann Verlag München erschienen. Preis: 36,- DM.