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Wo Barthel den Most holt

Im Frühling bieten die weißen Kronen tausender Birnbäume auf dem Grün der Hügel in Niederösterreich einen betörenden Anblick. Zum Fest des Heiligen Bartholomäus am 24. August - daher der Name Barthel - sind die Birnen schon geerntet. Es gibt 140 verschiedene Birnensorten, von der Schweizer Wasserbirne bis zur Grünen Pichelbirne. Birnenmost ist ein beliebtes Getränk.

Von Steffi Mehlhorn und Joachim Dresdner |
    Ein Land "mit Wiesen, Weiden, Wäldern, Gebäuden, Gewässern und Wasserläufen, mit Jagden, Bienenweiden, Fischwässern und Mühlen" einfach zu verschenken, für dieses selbstlose Handeln mag, vor mehr als tausend Jahren, Kaiser Otto der Dritte seine Gründe gehabt haben. Auf jeden Fall hat es sich gelohnt - bis heute:

    "Jetzt ist es ein stolzes Viertel. Jeder sagt, er kommt nicht von 'zwischen Wien und Linz', sondern er kommt aus dem Mostviertel!"

    "Wir haben uns viel vom Weinbau abgeschaut, ja, und jetzt kann man sagen, der Wein kommt eigentlich schon sehr nah' an die Qualität des Mostes!"

    "Jeder freut sich immer der Baumblüte im Frühjahr und das sollte man auch nützen über das ganze Jahr und bis in den Herbst herein, wo die Jungmoste kommen."

    Es ist die Zeit der hellen Farben und der heiteren Töne. Von Wien und um Wien herum auf der Autobahn Richtung Linz, lenken wir am Stift Melk vorbei und biegen bei Amstetten ab, denn unser Ziel ist die Moststraße. Im Frühling, wenn das Gras auf den hügligen Wiesen in frischem Grün leuchtet, tragen die vielen Birnbäume blütenweiße Mäntel.

    Im Landhotel "Gafringwirt" in Euratsfeld serviert die Familie Hochholzer regionaltypisches Essen, darauf abgestimmten Most, oder Birnensekt. Mit Elfriede und Michael Pernkopf, David Kammstätter und Hannes Distelberger bilden wir einen Musikantenstammtisch. Sie spielen unermüdlich mit großer Freude zum niederösterreichischen Dorftanz. Etwas zu feiern gibt es immer, sind sich die Vier einig. Und wie sind die Mostviertler, fragen wir.
    "Nicht sehr tanzfreudig, am Anfang! Ja, also ich glaube, die Mostviertler sitzen ganz gerne bei ihrem Glaserl Most und bei einem Speckbrot und ja, genießen zwar, ja, sie genießen. Das ist ja ganz wichtig, denke ich mir. Aber wenn es mal zum Tanzen kommt, sieht es sich schon sehr lustig an."

    Die Musik haben wir im Ohr, als wir vom "Gafringwirt" zu den Birnenmosten fahren, zu garantiert reinen Naturprodukten, kalorienarm, reich an Vitamin C und durstlöschend, über Amstetten, dem Verwaltungs- und Wirtschaftszentrum der Region Mostviertel. Vorbei an Streuobstwiesen mit haushohen Birnbäumen. Das größte zusammenhängende Mostbirnbaumgebiet Europas. Zur Baumblüte beeindrucken die weißen Kronen tausender Birnbäume auf dem Grün der Hügel, ein betörender Anblick.

    Im kleinen Amstettener Vorort Gschirm treffen wir die Familie Zarl. Deren Hof liegt - unweit der Autobahn - auf einer Anhöhe, umgeben von mächtigen alten Birnbäumen. Im Bauernhof werden nicht nur Säfte und Most hergestellt, der kleine Hofladen bietet auch frische Eier und selbstgebackenes Bauernbrot an. Die Abfüllanlage läuft, etwas stimmt nicht, Hektik kommt auf und wir stehen im Weg. Da kommt uns, freundlich lächelnd, die Bäuerin entgegen, mit Kind und Hund.

    Johannes Zarl vom Lieglhof ist "der Saftspezialist" unter den Kennern, den Mostbaronen. Apfel, Birne, Holunder, Quitte und natürlich auch verschiedene Sorten Moste, dafür wurde der Hof mehrfach ausgezeichnet. Wir probieren den Birnensaft: fruchtig, leicht aromatisch, ein unverfälschtes Naturprodukt, nur in der Region zu haben.

    "Das ist ein reiner Direktsaft. kein Zucker, keine Aromastoffe, keine Zitronensäure."

    Im Birnenanbaugebiet gibt es auch Apfelmost. Der ist alkoholreicher, hat mehr Säure und gilt als "männerschüttelnd". Bei allzu reichem Genuss soll er zum "Mostdudl", dem berüchtigten "Mostrausch" führen. In einem alten Protokoll wurde darüber geklagt,

    "dass die Holzapfelmöste so beschaffen seyndt, daß sye die Mäuler zusamben ziechn, als ob man den grimmigen Tod pfeiffen wollte".

    Birnenmost ist einfach bekömmlicher!

    "Wir haben auch 'Weiberleitmost' für manche Kundschaften, die starke Restsüße wollen und die einmal gesagt haben: Most haben sie getrunken vor 20 Jahren, seitdem trinken sie nicht mehr Most, weil der so sauer schmeckt. Diesen schmeckt dieser 'Weiberleitmost' besonders gut. Mosttrinker bevorzugen eher reinsortige Moste, leicht milde bis trockene Moste. Und Damen vor allem mögen eher das Süße, Liebliche. Und da wäre speziell dieser 'Weiberleitmost' sehr gefragt."

    Die Mostbirnen sind klein und zum Verzehr nicht geeignet, werden händisch geerntet, aufgeklaubt dann gewaschen, anschließend gemahlen und gepresst. Keine leichte Arbeit, berichtet Monika Zarl, und früher sei sie noch schwerer gewesen:

    "Zuerst händisch eingeschaufelt in den Korb, dann haben wir eine Backpresse gehabt, wo drei Leute ständig mit Tüchern gearbeitet haben, frühmorgens bis spätabends, und jetzt haben wir eine moderne Siebbandpresse, wo ein Mann schön arbeiten kann."

    Als Familienbetrieb haben sie Anfang der 1990er Jahre begonnen. Fünf Kinder: der große Sohn hat schon die Obst- und Weinbauschule besucht. Er ist in den elterlichen Betrieb mit eingestiegen, das kleinste Kind noch auf Mutters Arm, haben sie es nun geschafft: Zarl liefert ab Hof, in die Umgebung zwischen Wien, dem Waldviertel, Salzburg und Tirol. Die Moste haben einen Alkoholwert von vier bis acht Prozent, sie werden wie Wein verarbeitet.

    Einen Steinwurf entfernt, unterhalb, der nächste Familienbetrieb: Eine klassische Schnapsbrennerei, die auch Most, Säfte und Marmeladen produziert. Auch hier wird alles ab Hof verkauft und nicht an den Handel geliefert.

    Karl Hauer heißt der Mostbaron. Seine Frau ist Schnapsbrennmeisterin.
    Wir stehen vor einem imposanten Hof, den Wiesen und Obstbäume umgeben. Ein typischer Vierkanthof. Das Symbol der Mostviertler Kulturlandschaft: Die Wirtschafts- und Wohngebäude des bäuerlichen Betriebes sind rechteckig und unter einem Dach um einen Innenhof angeordnet.
    "Diese Häuser hat der Most gebaut."

    Der Spruch geht zurück auf den einst florierenden Mosthandel im 19. Jahrhundert, dem diese Höfe ihre stolze Größe verdanken. Die Arkaden geben dem weiträumigen Hof ein südländisches Aussehen, im Boden sind große dunkle Granitplatten eingelassen. Familie Hauer hat diesen Hof seit 1690 im Familienbesitz.

    "Die Maria Theresia, die hat ja, so 1780 veranlasst, dass alle Landesstraßen mit Bäumen bepflanzt werden. Und im Mostviertel hat man hier die Birnenbäume gepflanzt, und die hat man damals gepflanzt, ungefähr so sechs Meter von der Straßenmitte."

    Zur "Beförderung der Obstkultur" wurden Streuobstpflanzungen bis ins 20. Jahrhundert von öffentlicher Hand gefördert und betreut. 1930 gab es in Niederösterreich 223 ehrenamtliche Baumwärter. In den 50er und 60er Jahren wurde abgeholzt, erinnert sich Karl Hauer:

    "Die Landesstraßen sind ja erweitert worden, und die sind alle dann im Weg gestanden damals. Mit den Straßen hat man sehr viele Birnenbäume, und das waren riesige Mengen, einfach gekillt. Das zweite war, in der Landwirtschaft sind die Traktoren größer geworden, und die Birnenbäume sind quasi im Weg gestanden."

    2007 hat die Industrie für die Birnen aus den Streuobstwiesen einen Preis bezahlt, den sie in den letzten 20 Jahren nie bezahlt hatte. Jetzt herrsche Aufbruchstimmung, freut sich Mostbaron Hauer:

    "Ich habe vor 25 Jahren schon eine Baumzeile neben der Straße gepflanzt. Damals habe ich sie eigentlich nur gepflanzt wegen einer Allee, natürlich mit Birnen, das habe ich schon sehr wohl gewusst. Und jetzt haben wir heuer, also von diesen 60 Bäumen, die wir gepflanzt haben, cirka 4.000 Kilogramm geerntet. Wir sind sehr glücklich darüber. Das sind ja noch, im Verhältnis, ganz kleine Bäume. Da muss man weit über Generationen denken."

    Von St. Pölten bis Valentin, von Ertl bis Krain und im Raum Amstetten sind im letzten Jahrzehnt rund 100.000 Birnbäume zu den anderen, inzwischen 100 bis 300 Jahre alten, hinzu gepflanzt worden.

    "Ich freue mich immer besonders, wenn die Birnenblüte kommt, das sind ja prächtige Silhouetten von Bäumen, alle weiß, schneeweiß. Es ist oft, als ob sie beschneit wären. Und wenn das in einer Landschaft ist wie im Mostviertel, wo sehr viel Grün dahinter liegt, dann ist das ein erhebendes Gefühl. Wenn dann die weißen Blüten herunter fallen, das ist wunderbar. Sie fliegen fast wie Federn auf den Straßen dahin. Das ist ein schönes Erlebnis."

    Zu den Baumblütentagen, in der zweiten Aprilhälfte, zum Tag des Mostes in Österreich, öffnen die Höfe ihre Heurigentüren. Karl Hauer hat in den Familienbetrieb viel investiert und bei der Umgestaltung der Gebäude selbst Hand angelegt. Aus dem Vierkanthof ist ein typischer Mostheuriger entstanden mit Bewirtschaftung und Verkauf. In der Schaubrennerei steht ein neuer Destillator. Den alten Mostkeller hat er restauriert. In dem Gewölbe können Spezialitäten wie Edelbrände, Moste, Ochsenschinken und andere regionale Produkte verkostet werden.

    Nun sind wir im Mostbirnhaus verabredet. Ein Kulturverein aus Ardagger hatte die Idee, aus einem alten Stall dieses Erlebnis- und Genusszentrum zu errichten. Mit einem Regionalentwicklungskonzept und Mitteln der EU konnte im April 2007 die Eröffnung gefeiert werden.

    Tauchen wir nun ein, in die Erlebniswelt. Eine Art Panoramashow bietet alles über die Birne und den Most, Land und Leute, die Vierkanthöfe mit den Dörrhäusern für die Früchte, den Glauben und die Tradition im Mostviertel. In der Galerie können die Säfte, Moste, Schokoladen, Marmeladen, Edelbrände gekostet und gekauft werden, original vom Erzeuger und ohne chemische Zusätze. Soviel Most war nicht immer, erfahren wir von Andreas Ennser, dem Geschäftsführer des Obstbauverbandes:

    "Die Hochkonjunktur des Mostviertels war eigentlich nach dem Krieg. Da war Most das Getränk, das man als Bauer bei der Arbeit, überall, getrunken hat auf den bäuerlichen Betrieben. Es ist aber dann leider vom Bier abgelöst worden. Bier ist billiger geworden, und dann ist eigentlich ein schlechter Ruf über den Most gekommen: dass das das 'Arme-Leute-Getränk' ist. Dann ist es dazu gekommen, dass Rohdeprämien gezahlt worden sind, von öffentlichen Stellen, dass die Bäume wegkommen. Deren Logik verstehe ich bis heute nicht, warum man so etwas machen kann. Das einzige, was vom Mostviertel geblieben ist, war der Name in der Landkarte."
    Mit dem Rückgang des Mostkonsums in den 60er Jahren fielen unzählige Birnbäume der Motorsäge zum Opfer. Doch seit zwei Jahrzehnten ist der Most kein Armeleutetrank mehr, sind dank Qualitätsproduktion und Vermarktung die vielen Geschmacksvarianten wieder begehrt:

    "Als Einsteigermost ist sicher die Schweizer Wasserbirne und die Speckbirne typisch. Beide geben einen tollen, hervorragenden Birnensaft. Und kräftige, von der Frucht her sehr wuchtige, intensive Moste wären die Rote Pichelbirne und die Dorschbirne, eine sehr säurebetonte Birne, die so leichte Holunderblütentöne hervorbringt, und die Grüne Pichelbirne. Das sind dann die kräftigen Vertreter von Birnen. Die grüne Winawitzbirne hat auch so ein leichtes Beerenaroma. Also, das sind ganz viele.""

    140 verschiedene Birnensorten! Die Bäume tragen erst nach Jahren. Die Ernte ist mühsam. Einfach und schnell, einmal eben so den Most holen, so geht der Birnenobstanbau nicht. Und hier holt nun der Barthel den Most. Aber aufgepasst: Zum Fest des Heiligen Bartholomäus, am 24. August - daher der Name Barthel - sind die Birnen schon geerntet, der erste Most schon gepresst, und der ist noch ziemlich sauer. Erst im "Mostherbst", ab Mitte November, wird der spritzig-süffige Jungmost, auch Jungspund genannt, präsentiert und dann verkostet - bis Weihnachten.

    Begonnen hat alles in uralter Zeit. Wäre es nicht aufgeschrieben worden, wüssten wir nicht, dass Neuhofen in Niederösterreich die Wiege des Landes Österreich ist. Damals gehörte der Ort zu Bayern. Am Flüsschen Ybbs, im Mostviertel, wurde der Name Ostarrichi erstmals schriftlich überliefert. Im Jahr 996 in einer Schenkungsurkunde, deren Kopie uns Andrea Dörsieb in Neuhofen im "Kulturhof" zeigt :

    "Man hat eine besondere Zierschrift verwendet, für den Text der Ostarrichi-Urkunde, die diplomatische Menuskelschrift. Es schaut sehr fein säuberlich geschrieben aus. Es ist nicht einfach zu lesen."

    "All unsere Getreuen mögen wissen, dass wir Besitzungen in der Gegend, die in der Volkssprache Ostarrichi heißt, in der Mark und Grafschaft des Grafen Heinrich an dem Ort, der Neuhofen genannt wird, das heißt diesen Hof und in seiner Umgebung liegende Ländereien, mit Wiesen, Weiden, Wäldern, Gebäuden, Gewässern und Wasserläufen, mit Jagden, Bienenweiden, Fischwässern und Mühlen, und mit allem, was zu diesen Hufen gehört, dem Schoße der Freisinger Kirche, zum ewigem Gebrauch überlassen und durch unsere kaiserliche Macht fest übergeben haben."

    "Damals hat eben der Kaiser Otto III. dem Bistum Freising ein Stück Land geschenkt. Auf diesem Stück Land hat sich ein Königshof, ein neuer Hof befunden. Und dieser Hof war in der Region Ostarricchi, somit war in einem Satz der Königshof, der Neuhof, auch Niowanhofe genannt, erwähnt worden, zusammen mit der Region Ostarrichi. Und das ist dann die wesentliche, die Kernaussage."
    Kaiser Otto der Dritte und der Getreue Gottschalk, ehrwürdiger Bischof von Freising, waren befreundet. Mit der Schenkung war die Absicht verbunden, dass sich in dem fruchtbaren Landstrich fleißige Menschen ansiedeln, die im Notfall auch zu Wehr und Waffen greifen würden, um einfallende Horden aus dem Osten abzuwehren.

    "Und es kam dann der wirtschaftliche Aufschwung dazu, auch der kulturelle Aufschwung, weil es sind ja andere Klöster in dieser Gegend auch entstanden, Stift Melk, Seitenstetten zum Beispiel."

    Vor tausend Jahren schon gab es hier zwischen der Enns und den Strengbergen im dichten Mischwald auch Fruchthölzer. Während der Kolonisation wurden die wilden Obstbäume von Mönchen und von Pomologen, den Obstbaukundlichen an den Herrschaftssitzen, herausgepflanzt und veredelt. Die Landschaft hat sich im Mostviertel über die Jahrhunderte kaum verändert. Sie gleiche noch immer einem riesigen Garten, freut sich Andrea Dörsieb:

    "Das Mostviertel schaut jetzt noch genauso aus: Die Wiesen, Weiden, Wälder, die sind vorhanden. Die sanft-hügelige Landschaft und was noch dazu kommt, die Baumblüte und natürlich die Mostobsternte ist einmalig hier. Es gibt einen guten Honig bei uns, es gibt genauso auch Fischgewässer. Und man könnte fast meinen, vor tausend Jahren hat man das Land so beschrieben wie es heute ist."

    Nicht nur die Ostarrichi-Urkunde belegt, dass das Mostviertel die Wiege Österreichs ist, auch die rot-weiß-rote Landesfahne und das Siegel haben ihren Ursprung in Niederösterreich. Darauf weist das Siegel einer Urkunde hin, die im Zisterzienserstift zu Lilienfeld, südlich von Sankt Pölten, aufbewahrt wird.

    Es ist der älteste Abdruck des Staatswappens eines kleinen Gebietes, denn lange Zeit gehörte das benachbarte Bundesland Oberösterreich zu Bayern, gab es die Grafschaft Tirol, war Salzburg ein Hochstift und das Burgenland bei Ungarn. Erst 1921 wurde Österreich zu dem, was es heute ist - mit dem Mostviertel in seiner Mitte.