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Wo das Cello drückt

34 Jahre lang hielt sich die Legende um den "Cello-Hoden", eine angeblich um eine Hautreizung des Scrotums verursacht durch intensives Cellospielen. Jetzt wurde die "Krankheit" als Witz entlarvt - von der Erfinderin des Leidens selbst.

Von Burkhard Müller-Ullrich |
    Journalismus und Medizin haben eins gemeinsam, nämlich dass die allermeisten Dinge nicht stimmen. Zum Glück gibt es die Briten, um uns dies zu lehren; die Briten mit ihrem großen Faible für Hoaxes, für Fälschungen, mit ihrer besonderen Freude an öffentlichem Schabernack und mit ihrer Sensationspresse, die weltweit alles, was auf Zeitungspapier gedruckt wird, in den Schatten stellt.

    Die Briten haben uns nicht nur das Ungeheuer von Loch Ness, den Piltdown-Menschen und zahlreiche Kornkreise geschenkt, sondern auch den Cello-Hoden, jenes medizinische Symptom, das erstmals 1974 im British Medical Journal beschrieben wurde.

    Demzufolge handelt es sich beim Cello-Hoden um eine Hautreizung des Scrotums, die Cellisten befällt, wenn sie ihr Instrument zu fest an ihr Gemächte drücken.

    Glücklicherweise hat die Furcht vor diesem Leiden in den letzten 34 Jahren nicht zu erkennbarem Nachwuchsmangel bei Cello-Spielern geführt, denn in der Tat hat keiner jemals auch nur die zarteste Berührung zwischen Instrument und Scrotum in normaler Sitzhaltung zuwege gebracht. Trotzdem wurde 34 Jahre lang das Phänomen des Cello-Hodens immer wieder in der Fachliteratur zitiert, bis Elaine Murphy, eine inzwischen zur Baronin erhobene Londoner Psychiaterin, soeben gestand, sie habe sich mit ihrem Mann bei der damaligen Einsendung der Krankheitsbeschreibung an das British Medical Journal bloß einen Jux gemacht.

    Es macht vielen Menschen einen Riesenspaß, an den Informationskanälen unserer Gesellschaft herumzuspielen. Wie Kinder, die von einer Brücke Papierschnipsel in einen Bach werfen und sich daran erfreuen, wie sie auf der anderen Seite herauskommen, so besteht der eigentliche Jux der Hoaxer darin, die Ausbreitung ihrer Ausgeburten in den Medien zu verfolgen.

    Die Folgen dieses Juxes oder genauer: seiner Aufdeckung sind pädagogischer Natur. Mit jedem Hoax kommen heilsame Zweifel in die Welt, die freilich auch ungesunde Proportionen annehmen können. Plötzlich treiben den kritischen Beobachter Fragen um wie: Wer steckt hinter Elaine Murphy? Gibt es überhaupt ein British Medical Journal? Spielen Cellisten wirklich Cello oder tun sie nur so? Vor allem im medizinischen Bereich tun sich Abgründe von Fraglichkeit auf: Welche von den vielen Krankheiten, die an uns schon diagnostiziert wurden, gibt es alle auch nicht? Noch schlimmer ergeht es bloß jenen Patienten, die - man soll in der Medizin ja niemals etwas völlig ausschließen - möglicherweise wirklich "Cello-Hoden" haben. Die sitzen jetzt ganz dumm da.