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Wo der Tag zur Nacht wird

Es ist ein schmaler Strich auf dem Globus, nah beim 180 Längengrad, es ist dies die Datumsgrenze der Grad, der das Heute vom Morgen trennt. Die Datumsgrenze liegt im Pazifischen Ozean. Die Zeitzonen direkt östlich und westlich des 180. Längengrads sind 24 Stunden voneinander entfernt. Wie lebt sich lebt westlich und östlich der Datumsgrenze?

Von Andreas Stummer |
    Der Aufstieg auf den Hakepa-Hügel ist der Gipfel. Frustrierend. Selbst die Schafe sind schneller. Bei jedem Tritt rutscht die schwarze, körnige Erde unter den Schuhen weg. Um nicht abzustürzen muss man sich an Sträuchern und Farnen festhalten. Die Einheimischen auf Pitt Island nennen den 231 Meter hohen Hakepa "Walk´em up", weil er so steil ist, dass man nur zu Fuß rauf kommt. Doch die Aussicht von oben ist einmalig.

    Ein eiskalter Seewind biegt die wenigen Bäume der Insel fast waagrecht. Dunkle Wolken treiben über die verlassenen Buchten und schroffen Klippen, die wie gewaltige, steinerne Vorhänge ins Meer fallen. Schafherden grasen ungerührt auf den spinatgrünen, hügeligen Weiden. Pitt Island ist nicht das Ende der Welt, aber man kann es von hier aus sehen. Am Horizont verläuft, unsichtbar im Meer, die internationale Datumsgrenze. Links davon ist heute, rechts ist gestern. Hier beginnt weltweit jedes neue Jahr zuerst.

    "Wenn ich ehrlich bin ist der Jahreswechsel nichts besonderes für mich, nur ein weiterer, neuer Morgen", gesteht Eva Lanauze, die Insel-Älteste, "Denn wir sehen jeden Tag beim Frühstücken die Sonne als erste auf der ganzen Welt aufgehen. Das war schon immer so."

    Jeden Morgen geht um viertel vor fünf Ortszeit vor Pitt Island die Sonne auf. Früher als an irgendeinem anderen bewohnten Flecken der Erde. Das Eiland, 17 Kilometer lang und zehn Kilometer breit, ist eine der abgelegensten Inseln der Welt. Einwohnerzahl: 58. Die neun Familien, die hier auf halbem Weg zwischen Äquator und Südpol leben, sind Farmer oder Fischer. Der Preis den sie für das Privileg der ersten Sonnenstrahlen jedes Tages zahlen sind Sturm, Regen, Kälte - und Einsamkeit.

    "Wir gehören auch zu Neuseeland aber das wird dort meist vergessen. Aus den Augen aus dem Sinn", meint Ken Lanauze, Evas Mann. "Auf Ersatzteile oder Bestellungen warten wir oft Monate. Und wenn du etwas reparieren, bauen oder deine Schafe scheren musst, dann bist du auf dich alleine gestellt."

    Fremde sind auf Pitt nicht besonders gern gesehen, denn Fremde kamen immer nur zum Plündern. Erst waren es Walfänger und Robbenjäger, später die Maoris, die die Ureinwohner der Insel versklavten. Auf der Pitt Insel gibt es keine Straßen und nur sechs Geländewagen, keinen Laden, kein Hotel, keine Kneipe, keine Polizei und keinen Arzt. Telefone, Fax, Computer und Satelliten-Fernsehen sind erst seit 15 Jahren auf der Insel. Touristen kommen nur zu Silvester. Um selbst einmal die ersten Sonnenstrahlen eines neuen Jahres zu sehen.

    "Wir Einheimischen treffen uns immer zum Tanz in einem Wollschuppen und am Neujahrstag gibt es ein Picknick", sagt Ken Lanauze. Seine Frau Eva aber hält nichts vom langen Feiern: "Dafür haben wir keine Zeit", sagt sie, "Wir haben jede Menge Arbeit."

    Zeit ist kostbar auf Pitt Island, denn Strom ist knapp. Wird es dunkel dann kann nicht mehr gearbeitet werden. Wenn auf Pitt ein Tag zu Ende geht, dann hat er in der Südsee, auf der anderen Seite der Datumsgrenze, gerade erst begonnen. Der Inselstaat Samoa hinkt der übrigen Welt zeitlich fast einen ganzen Tag hinterher. Mit Folgen.

    Sie sind die einzigen, die in Samoa immer pünktlich sind. Jeden Tag marschiert das Polizei-Orchester durch die Hauptstadt Apia und hißt genau um acht Uhr morgens die National-Flagge. Im übrigen Samoa aber gehen die Uhren anders.

    "Hier ist alles entspannt und sehr, sehr langsam - nicht wie in Sydney oder New York, wo alles zack, zack geht", glaubt Hotelier Fred Grey, "niemand achtet auf Termine. Und wer sich nicht daran gewöhnt, der hat Probleme."

    Türkisfarbenes Meer, dichter, grüner Regenwald und Strände, so weiß das Auge reicht: Samoa ist eine Insel in Zeitlupe. Hektik, Streß oder Stau sind Fremdwörter. Die Einheimischen leben im Rythmus am Boden schleifender Badeschlappen. Zu Verabredungen kommen sie grundsätzlich zu spät. Samoaner sind nicht unhöflich, aber Warten ist Teil der Kultur.

    "Wir Samoaner haben überhaupt kein Zeitgefühl. Das ist zwar schlecht für´s Geschäfte machen aber gut für die Freizeit", erklärt Mary Jane Tofala. "Wir sind immer zu spät, weil nichts auf Samoa unser Leben stört."

    Falealupo, ein 2000 Einwohner-Ort an der Nordwest-Spitze Samoas. Jeden Abend wiederholt sich dort das gleiche Ritual. Auf knatternden Mofas oder zu Fuß kommen die Einheimischen hinunter zum Strand, um von dort aus den Sonnenuntergang über dem Meer zu sehen.

    Die Kinder planschen im badewannenwarmen Wasser, die Erwachsenen lassen von algenbewachsenen Bootsstegen aus ihre Füße ins Meer baumeln. Einige beten, die anderen beobachten das Farbenspiel am Himmel. Die Wolken verfärben sich langsam von einem grellen Orange in ein kräftiges glutrot. Die Menschen der neuseeländischen Pitt Insel begrüßen jeden Morgen die Sonne als erste, die Einwohner von Falealupo auf Samoa sind weltweit die Letzten, die sie verabschieden. Und untergehen sehen.

    "Wir Samoaner glauben, dass die Sonne alle Menschen verbindet. Sie scheint für jeden - egal welcher Religion, Hautfarbe oder Gesinnung", erzählt Mofo Uafe, der Dorf-Heiler, "Wir wünschen der Sonne eine gute Reise, wenn sie bei uns untergeht. Damit sie auf der anderen Seit der Datumsgrenze bei Sonnenaufgang der Welt einen guten, neuen Tag bereitet."

    Auf der Pitt Insel wie in Falealupo auf Samoa ist der Zeitgeist ein Schreckgespenst. Die Menschen auf der einen und der anderen Seite des Datums sind so verschieden wie Tag und Nacht. Doch sie leben, abgeschieden von der übrigen Welt, nach ihrem eigenen Tempo. An Orten, in denen man die Zeit buchstäblich vergessen kann.