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Wo es mehr Flinten als Einwohner gibt

Die Einfahrt in den 45-50 Kilometer breiten, sich vom Eismeer nach Osten 100 Kilometer in die Insel Spitzbergen einschneidenden Eisfjord kontrolliert auf der Nordseite das Alkhorn, ein Bergkegel in der markanten Form eines aufrecht sitzenden Alks. Spitze, verschneite Gipfel wie Zuckerstöcke, umgeben den mächtigen, seenartigen Fjord, abwechselnd mit den plattgedrückten Plateauketten. In den Tälern schieben sich von den ungefähr tausend Meter hohen Bergen enorme blauglitzernde Gletscher mit stark zerklüfteter Oberfläche kilometerlang und oft kilometerbreit in den Fjord hinab.

Von Marc-Christoph Wagner | 19.02.2005
    Mit ihren Ablagerungen in allen Farbnuancen sind die Berge wahre Kunstwerke. Man fühlt sich in antike Tempel versetzt, man ist umgeben von Säulenhallen, in geometrischer Genauigkeit aus Stein gehauen. Hier hat die Natur im Übergang von der Eiszeit freigebig Säulen und Kapitelle in die Berge eingemeißelt. Vor der Größe des Polarlandes stehen wir andachtsvoll auf Deck und betrachten diese Landschaft – ein Ebenbild dessen, wie unser Europa vor Jahrmillonen ausgesehen hat.

    Zwei Drittel des Svalbard-Archipels liegen permanent unter Eis und Schnee. Spitzbergen ist nicht unbedingt ein Hort nordischer Idylle. Hier gibt es mehr Flinten als Einwohner. Und an allen Ecken und Enden Warnschilder, die vor den Eisbären warnen. Es ist die erste und wichtigste Regel auf Spitzbergen, sagt Geir Arne Måne: Verlasse die Stadt nie ohne eine Waffe.

    Das ist ein altes Morser-Gewehr, noch aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges – ein sehr verlässliches und stabiles Gewehr, das selbst Wasser und Feuchtigkeit aushält. Die 44er Pistole, die viele Bewohner hier auf Spitzbergen bei sich tragen, ist nur eine Zusatzwaffe. Ich verwende meine 44er nur, wenn ich alleine unterwegs bin. Wenn ich aber auch für andere die Verantwortung trage, dann nehme ich immer das Gewehr. Mit der Pistole ist es sehr viel schwerer, zu treffen – man muss viel näher ran ans Ziel. Beim Gewehr ist die Treffsicherheit deutlich höher.

    Geir Arne Måne kam vor sieben Jahren nach Spitzbergen. Damals wollte er einen guten Freund eine Woche lang besuchen. Dann wurde er – wie so viele hier – vom so genannten Spitzbergen-Bazillus gepackt. Und arbeitet seither als Touristen- und Naturführer auf den Inseln. Kein ganz ungefährlicher Job, erzählt der im Süden Norwegens großgewordene 33-Jährige. Denn auf Spitzbergen steht nicht der Mensch, sondern der Eisbär an der Spitze der Nahrungskette. "König der Arktis" wird er hier auch genannt.

    1995 gingen zwei junge Studentinnen auf diesen Berg dort – ohne Waffen! Heute weist man überall darauf hin, die Stadt nie ohne Schusswaffe zu verlassen, aber damals war das noch kein so großes Thema. Dort oben auf dem Bergplateau sahen sie ein Tier und dachten, es sei ein Rentier, aber es war ein junger, ausgehungerter und daher sehr aggressiver Eisbär, der die beiden direkt angriff.

    Das eine Mädchen starb sofort, das andere stürzte den Berg hinunter, und sie überlebte nur mit viel Glück. Normalerweise aber ist ein Eisbär weder an Touristen noch ihren Führern interessiert. Er ernährt sich von Robben und die findet er dort draußen auf dem Eis.


    Langsam geht es den Berg hinauf. Unten im Tal liegt Longyearbyen, die Hauptstadt Spitzbergens mit ihren etwa 1800 Einwohnern. Draußen inmitten der Bucht liegt ein einzelnes Schiff vor Anker. Am Berghang auf der gegenüberliegenden Talseite sind die Eingänge zu alten Minenschächten zu erkennen.

    Geir Arne Måne geht voran. Das Gewehr hängt über seiner linken Schulter. Die schwarze Mütze hat er tief im Gesicht. Spitzbergen, erzählt er, ist eine kleine Gesellschaft – mit engen Banden zwischen den hier lebenden Menschen. Und wer Geirs Spitzbergener Abenteuern lange genug lauscht, merkt, dass selbst der Eisbär aus dem Leben hier nicht wegzudenken ist:
    Also paddelte ich hinüber. Und da stellte sich heraus, dass der Bär 90 Prozent der Hütte demoliert und teilweise ganz zerstört hatte. Er war eingebrochen, um Nahrung zu finden, und dabei ging ein Großteil der Einrichtung zu Bruch – zerschlagene Fenster, geknickte Skier, rausgerissene Schubladen, was einem netten Eisbären eben so ein- und in den Weg fällt. Das Problem an der Sache ist nur, dass der Bär immer und immer wiederkehrt, wenn er erst einmal gelernt hat, dass er in Hütten Fressen finden kann.

    Seit 1973 ist es verboten, Eisbären zu schießen – es sei denn, es geht ums eigene Leben. Jäger haben das Tierreich auf Spitzbergen in den vergangenen Jahrhunderten systematisch ausgebeutet. Vor allem englische und niederländische Expeditionen töteten bis Anfang des 19. Jahrhunderts so viele Grönland-Wale, dass der Bestand bis heute fast ausgerottet ist. Russen und Norweger taten es ihnen später nach.

    Jagd gemacht wurde auch auf Walrösser, Füchse, Rentiere, Polarbären und zahlreiche Vogelarten. Statt die Tiere zu töten, entdeckten die Nationen später ihr wissenschaftliches Interesse an Spitzbergen: Forscherteams aus aller Welt reisen bis heute an, um Fauna und Flora, Land und Wasser unter die Lupe zu nehmen.