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Wo wird Demokratie eingeübt?

"Man muss ja auch Mut beweisen", sagt die zehnjährige Julia, wenn sie von ihrer Tätigkeit im Kinderparlament spricht. Mit acht Jahren wurde sie dort hinein gewählt. Kinder in der Politik - geht denn das? Wissenschaftliche Untersuchungen in Mannheim und München zeigen, dass die politische Sozialisation bereits im Vorschulalter beginnt. Zum Beispiel, wenn Kinder in der Familie an wichtigen Entscheidungen beteiligt werden. Was hier versäumt wird, ist später nur schwer auszugleichen. Grundschulen sollten deshalb gezielt mit der Erziehung zum Staatsbürger beginnen - durch gelebte Demokratie.

Von Hannegret Biesenbaum |
    " Letztens, da hab' ich also Fernsehen geguckt, Kindernachrichten. Da hat die Angela Merkel also für arme Kinder eine Obhut gefunden, ... da können die halt Musik machen und Fernsehen gucken und malen ... anstatt zuhause, da sind die ja manchmal auch richtig arm, dann sind die da in einer Wohnung, kriegen nur abends was zu essen und morgens, ja. Und die Angela Merkel ist auch ne ziemlich gute Bundeskanzlerin, ... die macht halt so sehr gute Sachen also für die armen Leute, das find ich halt toll. "

    Till, neun Jahre alt. Schon früh zeigen Kinder ein Interesse an Politik, entwickeln Werturteile und soziale Einstellungen. Die politische Prägung beginnt - da sind sich die meisten Bildungsexperten einig - bereits im Vorschulalter. Trotzdem wurde die politische Entwicklung jüngerer Kinder in den letzten Jahrzehnten kaum erforscht. Diese Lücke will jetzt das Projekt "Demokratie leben lernen" schließen, das das Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung unter der Leitung von Jan van Deth durchführt. "Wir wollen wissen", sagt Projektmitarbeiterin Simone Abendschön, "welches politische Verständnis bringen die Kinder zum Zeitpunkt der Einschulung mit, und wie sieht ihre Grundeinstellung zur Demokratie aus." Im Mittelpunkt steht die Frage: Welche Rolle spielen Familie und Schule bei der politischen Sozialisation von Kindern? Rund 800 Mannheimer Grundschüler im Alter von Sechs bis Sieben haben die Wissenschaftler zu deren demokratischen Einstellungen und Verhaltensweisen befragt.

    " Wir befragen unsere Kinder am Anfang ihres Schuleintritts, am Anfang ihrer Schulkarriere, wo sozusagen der Ernst des Lebens für sie beginnt, und wir befragen die Kinder dann erneut, ein zweites Mal eben am Ende ihres ersten Schuljahres, um dann eben festzustellen, was hat sich in diesem Schuljahr unter dem Einfluss der Schule, der Klassenkameraden, der Lehrerinnen und Lehrer eben bei den Kindern getan in dieser Hinsicht. "

    Fragebögen für die Eltern und Klassenlehrerinnen geben zusätzlich Aufschluss über die Wirkung des sozialen Umfelds. Die Schulen liegen teils in so genannten privilegierten Stadtteilen mit niedrigen Arbeitslosen- und Sozialhilfequoten, teils in Stadtteilen mit einer ärmeren Bevölkerung. Das Problem war, erzählt Simone Abendschön, für Kinder aus so verschiedenen Wohngebieten mit stark voneinander abweichenden sozio-ökonomischen Bedingungen eine gemeinsame Sprache zu finden. Die Wissenschaftler haben deshalb zunächst Einzelgespräche mit 25 Kindern geführt, um sich in deren unterschiedliche Vorstellungs- und Sprachwelten einzufühlen. Den Hauptfragebogen haben sie dann der kindlichen Vorstellungswelt und den kindlichen Begriffen angepasst.

    " So dass die Kinder wirklich auch während der Befragung wussten, um was es geht, und sie eben was mit den Fragen anfangen konnten, weil das kann man sich sicher vorstellen, dass es nicht so einfach ist, eben für sechs- bis siebenjährige Kinder so ohne weiteres über Politik und gesellschaftliche Themen zu sprechen. "

    Eine weitere Schwierigkeit: Sechs- bis siebenjährige Kinder können kaum lesen und schreiben. Die Wissenschaftler arbeiten deshalb mit Bildern, Farben und Symbolen wie lachenden und weinenden Gesichtern. Zum Beispiel zeigt der Fragebogen ein Photo des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Wer ihn kannte, malte das lachende Gesicht aus, wer nicht, das weinende. Ein anderes Beispiel: Fragen zur Gleichberechtigung der Geschlechter. Hier haben die Forscher den Kindern Bilder von verschiedenen Tätigkeiten gezeigt.

    " Also Kochen, Autofahren, Arbeiten gehen usw. und haben dann eben die Kinder gefragt, soll das lieber ein Mann machen oder lieber eine Frau, und haben dann eben abgebildet, ein Männlein, ein Weiblein sozusagen, oder sollen das beide machen, eurer Meinung nach und haben dann eben Mann und Frau nebeneinander dargestellt in dem Heft und dann konnten die Kinder das auch wiederum anmalen, welches eben ihrer Einstellung entspricht. "

    Die Kinder wurden unter anderem gefragt, was sie über das politische System in Deutschland wissen, was sie sich unter einer Wahl vorstellen, ob sie die Europafahne und die europäische Währung kennen, welche Themen sie besonders spannend finden, wie ihre Einstellungen zur Arbeitslosigkeit und zur Umweltverschmutzung sind - Fragen also, die sich auf politisches Wissen, auf soziale Werte und Normen beziehen. Bei der Auswertung der Fragebögen erkennen die Wissenschaftler zum Teil klare Unterschiede zwischen der Wertorientierung von Kindern aus privilegierten und denen aus weniger privilegierten Familien. Das ist insofern wichtig, als Wertorientierungen politisches Handeln beeinflussen. Einig sind sich alle Kinder darin, dass es Regeln geben muss, die auch befolgt werden.

    Doch die Kinder aus sozio-ökonomisch schwachen Familien bewerten "harte Arbeit",

    Fleiß, Disziplin und Gehorsam deutlich höher als Kinder wohlhabender Familien. Das legt den Schluss nahe, dass privilegierte Eltern ihre Kinder zu einem eher freien und selbstständigen Denken erziehen. Ob die Vermutung stimmt, wird die Auswertung der Elternfragebögen zeigen, die noch aussteht. Auch in Bezug auf geschlechtsspezifische Einstellungen neigen die Kinder armer Eltern entschieden mehr zu einem traditionellen Denken. Für die Kinder wohlhabender Eltern dagegen gehört die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau bereits zum Alltag. Abendschön:

    " Diese Kinder sind wahrscheinlich von zuhause aus auch schon mit einem ganz anderen Rollenmodell womöglich groß geworden und sehen, dass ihre Mütter eben auch arbeiten gehen oder dass eben bestimmte Tätigkeiten gleich verteilt sind zuhause und drücken das auch ganz selbstverständlich in dem Fragebogen aus. Während eben Kinder aus Stadtteilen mit eben höherer Arbeitslosenquote usw. nicht so ein emanzipiertes Rollenbild vertreten. "

    Die zweite Befragung am Ende des Schuljahres zeigt allerdings, dass auch die Kinder wenig begünstigter Familien Fortschritte in Richtung Emanzipation gemacht haben. Sie sind jetzt bemüht, die Tätigkeiten in Haushalt und Alltag gerechter zwischen Frau und Mann zu verteilen. Mit einer Ausnahme:

    " Im Gegensatz zu diesen Kindern machen die türkischen Kinder auch keinen positiven Schub im ersten Schuljahr, sondern bleiben bei ihrem traditionellen Rollenbild ... Deutsche Kinder und auch Kinder aus anderen Ländern haben viel stärkere Fortschritte in der ersten Klasse gemacht. "

    Für die Wissenschaftler stellt sich nun die Frage, welche Rolle die Schule bei der politischen Sozialisation der Kinder gespielt hat, und warum es ihr nicht gelungen ist, Unterschiede zwischen deutschen und türkischen Kindern auszugleichen.

    " Und das werden wir eben auch mit unseren Lehrerfragebogen dann genau untersuchen können, weil wir unsere Lehrer natürlich auch fragen, wie macht ihr denn das in der Schule. Also macht ihr Frontalunterricht oder bezieht ihr die Kinder mit ein und auf welche Art und Weise. "

    Zwar wollen die Mannheimer Wissenschaftler Grundlagenforschung betreiben und keine Handlungsanweisungen geben. Doch ihre Untersuchung legt die Folgerung nahe, dass die Grundschule sich mehr für die demokratische Erziehung aller Kinder - auch und gerade der türkischen - einsetzen müsste als bisher geschehen.

    Die Vermutung wird bestärkt durch Forschungen des Deutschen Jugendinstituts in München. In ihrem "Kinderpanel", einer auf mehrere Jahre angelegten Längsschnittstudie, untersuchen Projektleiter Christian Alt und seine Mitarbeiter, welche Einstellung Eltern zu ihren Kindern haben. Nehmen sie sie ernst? Geben sie ihnen Möglichkeiten der Partizipation? Das heißt, können Kinder in der Familie mitentscheiden, wenn es um Bereiche geht, die sie selbst betreffen? Wie zum Beispiel Daniel und Guiseppe, Lucas, Maximilian und Tobias, fünf Grundschüler aus Dippmannsdorf, einem kleinen Ort nahe Berlin.

    " - Zuhause im Garten darf ich auch manchmal mitbestimmen, was gepflanzt wird.
    - Wenn wir manchmal Bäume pflanzen, dann darf ich auch sagen, wo es am besten aussieht, wo man die pflanzen kann.
    - Ich hab' mir gewünscht, ein blaues Zimmer zu bekommen, weil das ist so ein Nordseeblau, das finde ich richtig toll. Ich finde Wasser schön.
    - Ich darf mitbestimmen, wie zum Beispiel die Wohnung gestrichen wird und dann die Bäume gepflanzt werden.
    - Und ich darf manchmal mitbestimmen, wo wir im Sommer oder so hinfahren. "

    Beteiligung in der Familie ist ein wichtiger Schritt zur politischen Sozialisation. Denn hier lernen Kinder ihre eigenen Bedürfnisse zu formulieren, ihren Standpunkt argumentativ zu vertreten, aber auch die Interessen anderer zu achten. Auffällig ist, sagt Christian Alt zum Ergebnis seiner Längsschnittstudie, dass Eltern heute ihren Kindern vor allem da Mitspracherechte einräumen, wo es um deren nächstliegende Belange geht: in der Wahl der Kleidung, der Einrichtung des Kinderzimmers, dem Kontakt zu Freunden. Wenn es allerdings um Entscheidungen geht, die die ganze Familie betreffen, stellt die Studie schichtspezifische Unterschiede fest.

    " Wann wird Urlaub gemacht, wo wird Urlaub gemacht, wann wird gefahren, wen nehmen wir alles mit, nehmen wir auch einen Freund mit oder nicht. Das sind Geschichten, bei denen die Kinder tatsächlich aus höheren Schichten deutlich mehr Mitspracherecht eingeräumt bekommen als aus niedrigeren Schichten. "

    Die Folgen liegen auf der Hand:

    " Wir können feststellen, Kinder, die in familialen Kontexten viel Trainingseinheiten haben, die haben auch hinterher die Möglichkeiten, zum Beispiel in Schülerforen, als Klassensprecher, als Redakteur einer Schülerzeitung aufzutreten, und dort kompetent, sozial mit anderen Kindern umzugehen. "

    Als ihre Schule einen Natur- und Erlebnispfad einrichten will, sind Daniel und Guiseppe, Lucas, Maximilian und Tobias auch dabei. Mit ihrer Lehrerin Ina Utermark führen sie ein Planungsgespräch.

    " Tobias, du hast eine Idee? - Mhm. Dass wir uns Balancierbäume besorgen, also wo man balancieren kann für Kinder, dass sie da ihre Geschicklichkeit auch zeigen können. - Ich würde an dem Naturlehrpfad Sitzmöglichkeiten für Kinder aufbauen lassen, und da würde ich dann meinen Techniklehrer fragen, ob der vielleicht mit uns die Sitzmöglichkeiten da bauen kann. - Also ich könnte ja mal meinen Papa fragen, der arbeitet ja auch in der Forst, vielleicht weiß er ja einen schönen Baum, wo man dann die Jahresringe zählen kann und erkennen kann, wie alt der Baum ist. "

    Was die fünf Jungen zuhause gelernt haben, setzen sie auch in der Schule ein: ihre Wünsche frei zu äußern, Vorschläge zu machen, ihre Ideen klar zu formulieren. In der Sprache der Forscher: Sie haben in der Familie soziale Kompetenzen trainiert, die sie auch in anderen Kontexten einsetzen können.

    Kinder aus wenig privilegierten Schichten sind ihnen gegenüber deutlich im Nachteil, haben Christian Alt und seine Mitarbeiter herausgefunden. Denn Eltern mit einem sozio-ökonomisch schwachen Hintergrund gestehen ihren Kindern kaum Mitspracherechte zu, wenn es um familiale Entscheidungen geht. Jungen können ihre Defizite - wenigstens teilweise - ausgleichen, weil ihnen die Eltern mehr Freiräume zugestehen als Mädchen.

    " Typisches Beispiel: Auch bei Unterschichtsleuten ist es ganz normal, dass der Junge mit dem Surfbrett oder dem Inlineskater oder sonst irgendwas auf die Straße geht, seinen Fußball nimmt und aktiv ist. Unter bestimmten Bedingungen wird Mädchen das verwehrt. Das heißt, die Mädchen verbringen dann ihre Freizeit möglicherweise allein vor dem Fernseher. Die Jungs haben dann soziale Kontakte und haben damit auch ein soziales Umfeld, in dem sie soziale Kompetenzen lernen können. "

    Besonders hart trifft es also die Mädchen. Sie haben es in den unteren Schichten am schwersten, partizipativ sein zu können. Mit langfristigen Konsequenzen.

    " Das, was das Mädchen in der Familie nicht gelernt hat, kann es auch in der Schule nicht anwenden, sprich, wir können feststellen, dass Mädchen aus Unterschichten kaum mal Funktionen haben im Kontext Schüler- oder Klassensprecher oder Reporter für eine Schülerzeitung zu sein oder in irgendwelchen Theateraufführungen mit zu machen oder in irgendeiner Funktion tätig zu werden, die soziale Kompetenzen, sprich Auseinandersetzung mit anderen voraussetzt ... Wenn wir das ein Stückchen weiter ausspinnen, dann stellen wir fest, dass sie auch in der Jugendphase Defizite aufweisen, weil sie dann auch nicht in soziale Gremien gehen, auch nicht sozusagen politische Verantwortung übernehmen, ... die werden auch als Mütter letztendlich nicht in der Lage sein, diese politischen und sozialen Fähigkeiten an ihre Kinder weiterzugeben ... Und damit haben wir dann wieder eine Generation, die sich dann eher als Außenseiter verstehen muss. "

    Diese Gefahr besteht gerade für Kinder aus Migrantenfamilien. Migration allein, so die Studie des Deutschen Jugendinstituts, erklärt aber nicht die Defizite in der politischen Sozialisation. Entscheidend sei vielmehr, sagt Christian Alt, dass viele Zuwanderer zu den am meisten von Armut betroffenen Schichten gehören.

    Demokratie sollte in der Schule nicht nur gelehrt, sondern auch gelebt werden, fordern schon seit langem die Schülervertretungen in Deutschland. Nach den Untersuchungen in Mannheim und München gilt diese Forderung erst recht für die Grundschulen. Damit Jungen und Mädchen frühzeitig kompensieren können, was die Familie versäumt.

    Wie wichtig praktische Erfahrungen für die politische Sozialisation von Kindern sind, zeigt die Begeisterung der zehnjährigen Mädchen Julia und Nadine. Mit acht Jahren wurden sie zum ersten Mal in das Kinderparlament der sächsischen Stadt Freiberg gewählt.

    " Am Anfang da hat man so gedacht, na ja, die werden einen dann eben nicht so richtig wahrnehmen, weil man dann eben noch ziemlich klein war, ... aber jetzt wissen wir, das ist richtig schön, dass wenn wir was sagen, dass die versuchen, das umzusetzen ... Also da fühlt man sich stolz irgendwie, das ist toll, dass die da uns richtig ernst nehmen, ... man muss ja auch dort Mut beweisen, wenn man jetzt ne Frage hat, die muss man vor allen vorlesen am Mikrophon, ich denk', da lernt man auch bisschen, wie Lesen, so Reden einfach, das in seine eigenen Worte fassen ... ohne Hilfe vielleicht von andern. "