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Wolfgang Hardtwig: Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit

Nach dem Ersten Weltkrieg gewannen überall in Europa Utopien an Bedeutung, vor allem solche vom neuen Menschen. Mit ihnen mobilisierten die Bolschewisten ihre Anhängerschaft, sie waren aber auch Bestandteil der faschistischen und nationalsozialistischen Rede von der "Volksgemeinschaft". Mitunter kam es sogar zu Überschneidungen. So entwarf Ernst Jünger zum Beispiel in der 1932 erschienenen Schrift "Der Arbeiter" seine Vision vom totalitär-faschistoiden Staat, bei der Stalins mörderische Industriealisierungspolitik Pate gestanden haben dürfte. Das Historische Kolleg in München hat Historiker zu einem Kolloquium versammelt, um über "Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit" zu debattieren. Wolfgang Hartwig hat die Referate unter eben diesem Titel im Oldenbourg Verlag herausgebracht. Ob dabei mehr als eine Phänomenologie des Utopischen herausgekommen ist, sagt Ihnen Wolf Oschlies.

Eine Rezension von Wolf Oschlies |
    Wem die Verhältnisse, Strukturen, Tendenzen und Zwänge seiner Zeit nicht zusagen, der flüchtet gern in eine andere Zeit, in der alles anders und besser ist – wobei der Grad der besseren Andersartigkeit vom Maß der Unzufriedenheit mit aktuellen Realitäten bestimmt wird. Seit fast 500 Jahren firmieren solche literarischen, philosophischen, politischen Konstrukte unter dem Rubrum Utopie, also die im Nirgendwo angesiedelten Wolkenkuckucksheime, in die sich die von ihrer Gegenwart abgestoßenen en zu allen Zeiten hineinträumten. So kennt man es aus den Werken von Morus, Campanella, Bacon und anderen. Aber was hat die Flucht ins Utopische mit dem scheinbar geistig so rationalen, technisch so innovativen und politisch so gewalttätigen 20. Jahrhundert zu tun? Viel, wenn nicht alles – sagt Herausgeber Wolfgang Hardtwig, wobei er den Utopie-Begriff deutlich anders und weiter fasst:

    Die immer wieder begegnende Unterscheidung von klassischer Raumutopie und moderner Zeitutopie liegt jeder Anwendung des Utopiebegriffs auf Phänomene des 20. Jahrhunderts zugrunde, doch sollte sie nicht absolut gesetzt werden. Denn jede Autarkievorstellung speist sich auch aus der Vorstellung, einen gegen die Außenwelt abgegrenzten Raum innerer Wohlfahrt und Harmonie und –idealiter – Konfliktfreiheit schaffen zu können. Das Spezifikum der modernen Utopie aber ist die Verzeitlichung der Idealvorstellungen und die mehr oder weniger radikale Verkürzung des Zeithorizonts, in dem diese als realisierbar gedacht werden.

    Eine neue Chiffre zur Deutung der jüngsten Vergangenheit wurde gefunden, die von der logozentrischen Historiographie fort und zu anderen Phänomenen hinführt. Konkret:

    Auf ein Nothandeln in den Druck- und Zugverhältnissen grandioser geschichtlicher Verwerfungen. Ihre Namen sind: Panik, Hysterie, Halluzination, Politik der kurzen Prozesse, Flucht nach vorn, Wirklichkeitsverweigerung, Machterhaltung um jeden Preis – durch kumulative Radikalisierung, Selbstisolation und Selbstzerstörung.

    So der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel, einer der 18 en des Sammelbandes. Ihre Beiträge kann man in zwei Gruppen teilen – solche, die Utopien in der jüngsten Geschichte generell diskutieren oder Stalins Kommunismus und Hitlers Nationalsozialismus als ideologisch-politische Utopien deuten, und solche, die Utopisches in materieller Konkretisierung analysieren, vorwiegend im Bereich Architektur und Stadtplanung.

    Utopien wurden nicht mehr als die literarischen Produkte einzelner verstanden. Utopien spielten eine reale historische Rolle, weil der Glaube an sie Menschen erfassen und in ihrem politischen Handeln bestimmen konnte.

    So definiert es der Berliner Rüdiger Graf. Der britische Hitler-Biograph Ian Kershaw benenne Wirtschaftsdepression, Kulturpessimismus, Dekadenz und das Gefühl nationaler Erniedrigung als die spezifisch deutschen Symptome, die den kollektiven Weg ins Utopische begünstigten:

    Das schuf den Nährboden für die spätere Akzeptanz eines charismatischen Führers, der die Errettung der Nation verhieß. Die restlose Vernichtung der Gegner der nationalen Erneuerung gehörte zu dieser Botschaft und wurde auch von der immer größer werdenden Anhängerschaft des Nationalsozialismus weitgehend in Kauf genommen.

    Mehrere Autoren – Thomas Rohkrämer, Doris Kaufmann, Lutz Raphael – analysieren Genese und Entwicklung der nationalsozialistischen Utopie: Ihr Zukunftsziel lag in grauer Vergangenheit, als die angeblich heile, ländlich-bäuerliche Welt des nordischen Menschen noch nicht von Rassenmischung, Verstädterung und Industrialisierung bedroht war; ihre operativen Nahziele hießen Aufnordung der Gesellschaft, Ausmerzung von Minderrassen (wie Slawen) und der Gegenrasse der Juden, Homogenisierung der Gesellschaft in einer konfliktfreien Gemeinschaft. Und ihre Technologien besorgte sie sich bei der Wissenschaft, wobei eine wechselseitige Dynamisierung ablief: Je radikaler und gewaltsamer die politischen Zukunftsvorstellungen ausfielen, desto größer der zuarbeitende Eifer der Eugeniker, Rassehygieniker, Raumplaner und Demographen.

    Im Gegensatz zum rückwärtsgewandten Nationalsozialismus gab sich Lenins und Stalins Sozialismus zukunftssicher: Er verfügte über ein kugelsicheres System historischer Gesetzmäßigkeiten, das auf keine perfekte Ordnung jenseits von Zeit und Raum zielte, sondern ein konkretes Projekt war, das in vorgegebenen Schritten und Etappen abgearbeitet werden musste, um bald strahlende Realität zu sein. So partiell ironisch erläutert es der Tübinger Dietrich Beyrau, um dann akribisch auszuführen, warum nichts daraus wurde, nichts werden konnte: Weil sich die Protagonisten über die direktive Geltung ihrer Entwürfe in die Haare kriegten, weil die Exekutivschwäche selbst des Stalinismus die Reichweite zentraler Vorgaben einschränkte, weil Steuerung der Wirtschaft und Egalisierung der Gesellschaft nicht funktionierten, weil immer neue Mängel durch immer neue Unterwerfungsrituale, Bürokratien, Säuberungen und Feindmarkierungen nicht beseitigt wurden und weil das ganze Projekt als sozusagen weltlich-terroristischer Gottesstaat endete:

    Moskau als rotes Mekka einer neuen Völkergemeinschaft, die sich durch heilige Grenzen gegen eine finstere Umwelt mit ihren inneren Handlangern abgrenzte. Auffällig ist die Gleichzeitigkeit von Sakralisierung der Binnenwelt und von Dämonisierung des inneren und äußeren Feindes.

    Diese gewissermaßen Basisstudien werden von Detailanalysen umkränzt, die eine attraktive Fülle von divergierenden Utopiefeldern behandeln: Pädagogische Utopien von Rousseaus "Emile" bis zu Hitlers "Schulung", Mussolinis Utopie einer Ruralisierung italienischer Städte, der Moskauer Metrobau als Schmiede des neuen Menschen, Palästina in den 1920-er Jahren als Spielwiese utopischer Realisten, reich illustrierte Studien über Stadtplanung in Stalins Russland und Architektutopien in Hitlers Deutschland. Und anderes mehr, was sich alles höchst gut und gewinnreich lesen lässt. Ein anregendes und leserfreundliches Buch, wie man es von deutschen Geisteswissenschaftlern nicht alle Tage geboten bekommt.

    Wolf Oschlies über den Band "Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit". Er wird herausgegeben von Wolfgang Hardtwig im Münchener Oldenbourg Verlag, umfasst 356 Seiten und kostet 59,80 Euro.