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Wolfrum, Edgar: Geschichte als Waffe

Entsetzt verfolgte die Öffentlichkeit unlängst die Zerstörung der Buddha-Statuen durch die afghanischen Taliban. Es gab einen weltweiten Aufschrei. Aber mancher erinnerte sich auch daran, dass es solcherlei Bilderstürmerei - wenngleich in anderer Form - auch in der abendländischen Vergangenheit gab. Stets sorgten Herrscher und Ideologen für einen ihnen genehmen Blick in die Geschichte. Was dabei störte, musste weichen. Auch in Deutschland wurde und wird um Zeugnisse der Vergangenheit gerungen - zum Beispiel wenn es um den Abriss des "Palastes der Republik" oder um den Wiederaufbau des Berliner Schlosses geht. Wer bei solchen Diskussionen die Geschichte hinter sich weiß, hat stets die besseren Argumente, meint der Historiker Edgar Wolfrum. "Geschichte als Waffe" hat er deshalb sein jüngstes Buch überschrieben, das in diesen Tagen ausgeliefert wird. Tillmann Bendikowski rezensiert:

Tillmann Bendikowski |
    "Historia magistra vitae" - die Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens? Nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts überwiegen die Zweifel, dass die Geschichte Rezepte für das vermeintlich richtige Handeln der Gegenwart liefern kann. Und doch: Das Vertrauen in historische Argumente scheint so verbreitet zu sein wie eh und je. Da ist es naheliegend anzunehmen, dass Geschichte immer schon für politische Zwecke vereinnahmt wurde - und wird. Als "Geschichtspolitik" bezeichnet dies seit einigen Jahren der Münchener Historiker Edgar Wolfrum:

    Geschichte - oder die Konstruktion von Vergangenheit - ist offenbar eine geeignete Mobilisierungsressource im politischen Kampf um Einfluss und Macht. Sie kann als Bindemittel dienen, um nationale, soziale oder andere Gruppen zu integrieren. Sie kann ausgrenzen, Gegner diffamieren und gleichzeitig das eigene Handeln legitimieren.

    Wie eine solche "Geschichtspolitik" in der Praxis funktioniert, untersucht der Autor in seinem Streifzug durch die deutsche Geschichte seit der Reichsgründung von 1871: Dem Sieg über Frankreich folgte die Stilisierung eines preußisch-protestantischen Sendungsbewusstseins, nach und nach durchdrang ein historisch eingefärbter Mythos der Nation breite Schichten des Kaiserreichs. Die Kyffhäuser-Legende, nach der der im Kyffhäuser schlafende Kaiser Friedrich Barbarossa einst wieder aufwachen wird, nahm darin eine herausragende Position ein, ebenso der Germanenkult, der eng mit der sogenannten "Ostmission" verknüpft war und Grundlage der Germanisierungspolitik im Osten wurde. Allen voran schwelgte Wilhelm II. in historischen Vorstellungen; in ihm brach sich ein Bedürfnis Bahn, jedwede politische Handlung durch Rückgriff auf historische Beispiele zu rechtfertigen. Dieser Mechanismus hat nach Wolfrums Einschätzung auch bei Deutschlands Weg in den Ersten Weltkrieg eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt. Angesichts der ständigen Erinnerung an erfolgreiche Kriege lasse sich sogar von einem spezifisch "bellizistischem Gedächtnis" - also von einem kriegstreiberischen Gedächtnis - sprechen:

    Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen hatten sich demzufolge historische Bilder und kriegerische Schlüsseldaten wie 1870, 1803 und 1756 so fest eingeschrieben und waren in so starkem Maße von Generation zu Generation weitergegeben worden, dass sie von den politischen Eliten abgerufen werden konnten. Der Effekt war durchschlagend: Die Geschichte senkte die Hemmschwelle für den Krieg und suggerierte eine Unvermeidbarkeit von Kriegen überhaupt.

    Die Niederlage von 1918 stellte solche Geschichtsbilder radikal in Frage. Jetzt wurde die Vergangenheit zu einer drückenden Last für die Gestaltung der Gegenwart. Nur wenigen war an einer wirklichen Aufklärung über die deutsche Mitschuld an der Katastrophe gelegen; die meisten nutzten jetzt die Geschichte für ihre politische Sicht der Dinge. Eine solchermaßen verklärte Vergangenheit - gegen deren Rezeption die Geschichtswissenschaft zuweilen heute noch ankämpft - bildete die Grundlage für geschichtspolitische Argumente im Kampf gegen die Weimarer Republik:

    Durch die unterlassene 'Vergangenheitsbewältigung' wurde ein Geschichtsbild festgezurrt, wonach die Kriegsschuld eine Lüge der Siegermächte und Versailles ein unverdientes Strafgericht waren. Die Kriegsunschuld-Legende verband sich mit der Dolchstoßlegende, und diese beiden Zwillingslegenden wurden in den Händen der Republikgegner zu einer gefährlichen Waffe gegen die Demokratie.

    Solche und ähnliche Geschichtsbilder ebneten auch den Weg in das "Dritte Reich". Vor allem der Bismarck-Mythos trug maßgeblich zu Hitlers Erfolg bei, da dieser es dem national-bürgerlichen Lager erleichterte, im selbsternannten "Führer" den Vollender Bismarckscher Politik und somit den Retter der deutschen Nation zu sehen. Die NS-Propaganda bemühte weitere historische Vorbilder und suggerierte eine Kontinuität von Hermann dem Cherusker über Barbarossa, Luther und Friedrich den Großen bis hin zu Adolf Hitler.

    Solche Vorstellungen waren nach 1945 selbstredend unbrauchbar geworden, wieder einmal musste in Deutschland Geschichte gründlich revidiert werden. Deutschland-West und Deutschland-Ost traten dabei in einem geschichtspolitischen Konkurrenzkampf gegeneinander an. Sie suchten historische Sinnstiftung für ihre jeweilige Gesellschaftsform: Die DDR sonnte sich in einer vermeintlichen Tradition des Antifaschismus an der Seite der Sowjetunion, während die Bundesrepublik die Rückkehr in die europäische Geschichte feierte und dabei auf die Idee des christlichen Abendlandes zurückgriff:

    'Abendland' als Signum der freien Welt stieß auf so breite Resonanz, weil hier eine Chiffre gefunden worden war, mit der man sich klar vom kommunistischen Osteuropa abgrenzen und die Bundesrepublik als eine Art karolingisches Missionszentrum am Rhein beschreiben konnte, deren wichtigste Aufgabe der Kampf gegen das antichristliche Asien sei, das sich hinter der Elbe, im SED-Regime, etabliert habe.

    Zu Recht verweist der Autor darauf, dass solche Geschichtsbilder äußerst zählebig sein können. Und so herrschen im staatlich vereinten Deutschland heute deutliche Asymmetrien bei individuellen wie kollektiven Erinnerungen-Ost und -West. Vielleicht liegt es gerade an diesen Differenzen, dass die Gegenwart selten so vergangenheitsbezogen erschien wie seit 1989. Edgar Wolfrums Buch kommt da gerade recht. Er hat eine intelligente Skizze der Vereinnahmung von Vergangenheit vorgelegt und damit "Geschichtspolitik" als durchgängiges Prinzip politischen Handelns beschrieben. Doch das eigentliche Verdienst seiner Studie ist deren subversive Kraft: Sie sät nämlich prinzipiellen Zweifel an herrschenden Geschichtsbildern und nährt Misstrauen gegenüber all jenen, die so gern von den vermeintlichen Lehren der Geschichte und der "historischen Wahrheit" schwadronieren - und doch nur ihre eigene Politik und Ideologie im Sinn haben.

    So weit die Rezension von Tillmann Bendikowski. Es ging um das Buch von Edgar Wolfrum: Geschichte als Waffe. Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. Göttingen 2001. 176 Seiten. 27 Mark 80.

    Das war's für heute: Fünf Neuerscheinungen aus dem Bereich der Politischen Literatur. Vielleicht war ja die eine oder andere Anregung für Sie dabei. Gleich - nach den Acht-Uhr-Nachrichten und den aktuellen Börsen-Daten geht es weiter hier im Deutschlandfunk mit dem Musikjournal in unserer Studiozeit. Am Mikrofon verabschiedet sich Gode Japs: Danke für Ihr Interesse, guten Abend und auf Wiederhören.