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Wunden in der Seele

Wladimir Putin hat Staatsoberhäupter und Regierungschefs aus aller Welt zum 9. Mai nach Moskau eingeladen, um den 60. Jahrestag des Kriegsendes zu feiern. Doch den Balten steht nach Freudenfesten nicht der Sinn; sie führte die Befreiung vom Nationalsozialismus übergangslos in die stalinistische Diktatur.

Von Alexander Budde | 14.04.2005
    Auf das Kriegsende folgten Jahrzehnte der sowjetischen Okkupation, Mord und Vertreibung nahmen kein Ende. 350 000 seiner Landsleute seien von der Sowjetmacht ermordet, verhaftet oder in Straflager verschleppt worden, so begründete Litauens Staatspräsident Valdas Adamkus seine Weigerung, sich an der Siegesfeier in Moskau zu beteiligen.

    In der Diskussion um das angemessene Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges geht es nicht nur um historische Deutungen: Viele Litauer glauben, dass noch immer in Moskau über die Geschicke ihres Landes entschieden wird. Bis heute hält sich die Furcht vor dem unberechenbaren Nachbarn. Alexander Budde mit einem Stimmungsbild aus Vilnius.

    Über kaum ein Thema können die Litauer so leidenschaftlich streiten, wie über die dunklen Jahrzehnte unter der Herrschaft der Sowjetmacht. Es genügt, die zum 9. Mai in Moskau geplanten Feiern zum Kriegsende anzusprechen, schon schimpft die Rentnerin Violetta so laut, dass die Passanten auf dem Gediminas Prospekt in Vilnius erschrocken stehen bleiben.

    "Freiheit ist ein schönes Wort! Leider haben die Russen vergessen, wieder abzuziehen. Meinen Vater haben sie nach Sibirien deportiert. Er ist dann irgendwann zurückgekommen, aber lange gelebt hat er nicht mehr. Und genauso erging es der Tante von meiner Freundin hier – die ist auch deportiert worden. "

    Moskau habe noch immer großen Einfluss und sei an stabilen Verhältnissen beim NATO-Mitglied Litauen nicht interessiert, das glauben auch solche Litauer, die gewöhnlich nicht für Verschwörungstheorien empfänglich sind. Sie finden es merkwürdig, dass hin und wieder Dokumente auftauchen, die eine Verwicklung litauischer Politiker in das frühere Netzwerk des russischen Geheimdienstes KGB nahelegen. Schließlich wurden die meisten Akten schon vor langer Zeit nach Moskau gebracht.

    Sitzungswoche im litauischen Parlament, dem Sejmas. Petras Gražulis ist in diesen Tagen etwas blass um die Nase. Der Christdemokrat ist in den Hungerstreik getreten, um den Rücktritt von früheren KGB-Mitarbeitern zu erzwingen, die im unabhängigen Litauen steile Karrieren gemacht haben.

    "Ich habe in der Sowjetzeit gehungert, als ich deportiert war und im Lager saß. Und jetzt muss ich es wieder tun, denn diese Schergen sind an die Macht zurückgekehrt. Wie Putin sagt: Dem KGB ist man ewig treu, dem kann man nicht abschwören. "

    Gražulis wird wohl noch ein Weilchen hungern, denn immerhin geht es um den Außenminister, den stellvertretenden Parlamentspräsidenten sowie den obersten Chef des Geheimdienstes. Litauischen Zeitungen waren belastende Dokumente zugespielt worden, die nahe legen, dass die drei Politiker ihre Tätigkeit als KGB-Reservisten verschwiegen haben.

    Der Politologe Vytautas Radžvilas macht sich Sorgen um sein Land: In Litauen habe die alte Nomenklatura in Gestalt der regierenden Ex-Kommunisten den Wandel nahezu unbeschadet überstanden, meint er. Und mit den eilends nach Moskau gebrachten KGB-Akten werde bis heute Politik gemacht.

    "Niemand hat ein wirkliches Interesse an der Aufklärung, denn in sämtlichen Parteien gibt es Leute, die erpressbar sind: Windige Unternehmer nutzen das Geld der Steuerzahler für fragwürdige Geschäfte und zweigen einen Teil der Gewinne für die Politiker ab, als Gegenleistung für Protektion. Und doch ist Litauen längst im Westen angekommen. Die litauischen Patrioten werden niemals zulassen, dass die politische Elite das Land an die Russen verkauft. "

    Erstmals seit der Unabhängigkeit 1991 wird Litauen von einer Koalition regiert, die bis zum äußersten linken Parteienspektrum reicht. Denn auch die Bauernpartei der früheren Ministerpräsidentin Kazimiera Prunskiene ist an die Schalthebel der Macht zurückgekehrt. Prunskiene wendet sich an all jene, die beim Sprung des ”baltischen Tigers” zurückgeblieben sind: Rentner, Dorfbewohner, Kleinbauern. Auch Prunskiene ist nicht ganz frei von populistischen Neigungen, doch sie bekennt sich klar zur europäischen Integration. Und dass sie gute Beziehungen zu Russland anstrebt, kann ihr eigentlich keiner verargen: Denn das tun inzwischen alle litauischen Politiker:

    "Ich meine, vielleicht sollte unser Präsident nicht nur die historische Gerechtigkeit unterstreichen, sondern diese historische Gerechtigkeit mit unseren heutigen und künftigen Interessen verknüpfen. Auch zusammen mit den europäischen Staaten und Völkern, die neue Wege zur Partnerschaft, zur Zusammenarbeit in Europa unterstützen. Es ist so vereinfacht, dass manche nach Osten, andere nach Westen orientiert sind. Das ist eine primitive Position meines Erachtens. "

    60 Jahre nach Kriegsende tobt die Schlacht um die Erinnerung: Viele Litauer sehen sich primär als Opfer der deutschen und der russischen Besatzer. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld, den vielen litauischen Kollaborateuren auf beiden Seiten, der tatkräftigen Beteiligung an der Ermordung von 250.000 litauischen Juden - sie sucht man vergebens, in der aufgeregten Debatte um das angemessene Gedenken an das Kriegsende.