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Zehn Jahre Chillwave
Musik in Sepiatönen

Verwaschene und verträumte Sounds – das sind die Markenzeichen des Chillwave. Das Mikrogenre feierte vor zehn Jahren seinen kreativen Höhepunkt mit Vertretern wie Washed Out oder Neon Indian. Jetzt kehrt der experimentelle Lo-Fi-Pop wieder zurück und schlägt unerwartete Stilblüten.

Von Mike Herbstreuth | 31.10.2020
Alter Kassettenrekorder
Der Sound verrauschter Kassetten prägte die frühen Chillwave-Experimente (EyeEm / R Franca)
Der Song "Feel It All Around" von Washed Out - sowas wie die inoffizielle Chillwave-Hymne. Denn er steht exemplarisch für den Sound, den zwischen 2009 und 2011 viele Musikerinnen und Musiker produziert - und kopiert - haben: verblichener, verträumter, verhallter Synthie-Pop, voller Wärme und sehnsüchtiger Nostalgie. Das galt für Washed Out ebenso wie Neon Indian oder Toro Y Moi.
"Viele dieser Chillwave-Musiker haben mir erzählt, dass mein Album und das von Ariel Pink sie sehr beeinflusst hat."
Ramona Gonzales, die unter dem Namen Nite Jewel Musik und die mit ihrem Album "Good Evening" aus dem Jahr 2008 sowas wie die Mutter des Chillwave ist. Gemeinsam mit befreundeten Musikerinnen und Musikern wie Ariel Pink, John Maus oder Julia Holter tüftelte Gonzales damals in L.A. Mitte der 2000er an einem neuen, eigenen Sound, für den sich damals allerdings nicht so wirklich jemand interessiert hat.
"Die Leute in der Musikszene von L.A. haben damals ziemlich die Nase über uns gerümpft. Niemand mochte uns oder unsere Musik. Ariel Pink wurde zum Beispiel ständig von der Bühne gebuht und bei Konzerten mit Sachen beworfen. Damals wollten alle Punk und Gitarren und Rock'n'Roll."
Mit dem verhallten, verschrobenen LoFi-80er-Pop von Gonzales konnte damals viele nicht so wirklich was anfangen.
Musik aus dem Schlafzimmer
"Für mich hatte der Reiz dieses Sounds viel mit der Zeit und dem Ort zu tun, an dem er entstanden ist. Ich habe damals in einem winzigen Zimmer gewohnt, habe alles in meinem Schlafzimmer produziert und mich durch alte Platten gehört, um einen Ausdruck für meine Emotionen zu finden. Dazu kam dieses merkwürdige Atmosphäre von Los Angeles – es ist sonnig, aber über allem hängt ständig Smog und Nebel. Dieses Gefühl wollte ich vermitteln, durch den Einsatz von Samples und Drum Machines. Und ich glaube, vielen anderen Menschen ging es damals ähnlich. Und auch sie haben im Privaten produziert. Denn damals war es plötzlich möglich, mit einem Laptop selbständig ganz ordentliche Musik zu produzieren, ganz ohne professionelles Equipment. Und auch das Internet wurde immer wichtiger, man konnte sich vernetzen und über Blogs haben auch Leute außerhalb von L.A. diese Sachen gehört und sich gedacht: Hey, was ich mache ist ja vielleicht gar nicht so merkwürdig!"
Dass der Erfolg von Chillwave etwas mit der technologischen Entwicklung Ende der 2000er Jahre zu tun hatte, das glaubt auch der Musikjournalist Larry Fitzmaurice, der schon mehrere Essays über Chillwave geschrieben hat.
"Bei allem Respekt vor Musikern wie Washed Out, Toro Y Moi oder Neon Indian, deren Musik ich wirklich mag: Aber der Sound war schon sehr einfach nachzuahmen. Und als es einen Hype um Chillwave gab, sind viele junge Musikerinnen und Musiker auf den Trend aufgesprungen und haben ähnlich klingende Musik in ihren Schlafzimmern produziert. So gab es quasi über Nacht Hunderte von Künstlerinnen und Künstlern, die so klangen wie diese drei Vorreiter und damit Erfolg haben wollten."
Nostalgischer und warmer Rückzugsort
Aber nicht nur die Einfachheit von Chillwave sei damals für den kurzlebigen Hype um das Genre verantwortlich gewesen, glaubt Fitzmaurice. Auch die gesellschaftlichen Umstände hätten eine Rolle gespielt. Chillwave sei auch eine Reaktion auf die Lebensrealität vieler Jugendlicher in den späten 2000ern gewesen.
"In den USA gab es 2008, 2009 eine zweite Wirtschaftskrise, die heftige Auswirkungen auf meine Generation hatte. Zu der Zeit haben viele junge Menschen versucht, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, und mussten plötzlich wieder nach Hause zu ihren Eltern ziehen, ohne Jobaussichten und die wirtschaftliche Lage im Land wurde schlechter und schlechter. Und für viele dieser Jugendlichen, die viel im Netz rumgehangen sind, war der Sound von Chillwave sehr attraktiv. Das Genre hat etwas sehr Eskapistisches. Denn wenn die Welt draußen furchtbar ist, dann ist es sehr reizvoll, sich zurückzuziehen."
Seine Funktion als nostalgischer, warmer Rückzugsort hat Chillwave allerdings auch schnell wieder verloren. Schon 2011 wollte eigentlich kaum noch jemand etwas von dem Genre wissen und es verschwand, wie die meisten Chillwave-Künstlerinnen und Künstler, in der Versenkung. Das Genre selbst ist zwar tot, aber sein Erbe hört man auch heute, zehn Jahre, später noch. Zum Beispiel im Erfolg von Spotify-Playlisten wie "Chill LoFi Beats To Study"
Fitzmaurice: "Vor Chillwave war Ambient Musik eher eine Nische. Und in der kurzen Zeit, in der Chillwave populär war, hat das Genre den Horizont von vielen Menschen erweitert in Bezug darauf, was Hintergrundmusik alles leisten kann. Der entspannte Elekto-Pop von Chillwave hat nämlich schon immer sehr gut im Hintergrund funktioniert, das haben auch schnell hippe Klamottenläden wie Urban Outfitters bemerkt. Und auch wenn das Wort "Hintergrundmusik" oft wie eine Beleidigung klingt – es gibt sehr großen Bedarf an funktionaler Musik."
Aber auch der SoundCloud-Rap der späten 2010er Jahre ist stark von Chillwave beeinflusst – zum Beispiel der verwaschene, verträumte LoFi-Sound von XXXTentacion, Post Malone oder Travis Scott.
Fitzmaurice: "Das aktuelle Travis Scott Album "Astroworld" ist ein großartiges Beispiel dafür, wie sich Chillwave in die Rapmusik eingeschlichen hat. Oder Post Malone, einer der größten Popstars, die es aktuell gibt – seine Herangehensweise an Sound ist fast genau dieselbe wie die von Chillwave."
Und auch Ramona Gonzales alias Nite Jewel sieht die grundlegende Idee hinter Chillwave im Mainstream-Pop angekommen.
"Chillwave war für mich immer eher eine bestimmte Idee von Produktion. Es ist eine subtile Referenz auf ein vergangenes Genre, das man nicht eins zu eins kopiert. Man verfremdet es, macht es sich zu eigen, spielt damit. Und dieser Umgang mit nostalgischen Referenzen ist es, was Musiker wie Pharell oder The Weekend so großartig macht. Sie kopieren nicht einfach die Sounds von damals. Und sie machen das alles mit einem Augenzwinkern."
Chillwave scheint also auch noch zehn Jahre nach seinem Tod irgendwie weiterzuleben – im Rap, in Chill-Out-Hintergrundmusik, im augenzwinkernden Spiel mit Referenzen oder auch in MusikerInnen wie Billy Eilish, die ihre Musik komplett eigenständig auf dem Laptop in ihrem Schlafzimmer produzieren. Und das ist mehr, als so manch anderes Kurzlebiges Mikrogenre von sich behaupten kann.